Wie alle Zentralbanken weltweit führt auch die Europäische Zentralbank (EZB) stets die „angespannte“ Lage auf dem Arbeitsmarkt als Hauptgrund für die Zinserhöhungen an, mit denen sie angeblich die Inflation bekämpfen will. In Wahrheit sollen die hohen Zinsen die Konjunktur bremsen und damit die Lohnforderungen der Arbeiter abwehren, die sich gegen den rasantesten Preisanstieg seit vier Jahrzehnten zur Wehr setzen.
Dabei wissen die Vertreter der Zentralbank genau, dass die Teuerungsspirale im Wesentlichen auf die Profitgier der Großkonzerne zurückzuführen ist. Dieser Sachverhalt wird nicht an die große Glocke gehängt, damit die wahre Agenda der EZB nicht sichtbar wird, doch wurde er in einem Blogbeitrag eingeräumt, den die EZB basierend auf offiziellen Erhebungen Ende letzten Monats veröffentlichte.
Darin wurde festgestellt, dass der Inlandspreisdruck bereits seit der zweiten Jahreshälfte 2021 stark zunahm – also lange vor der russischen Invasion in der Ukraine, die immer wieder als Hauptursache genannt wird. Laut dem Blogbeitrag stiegen die Stückgewinne im vierten Quartal 2022 um 9,4 Prozent und „haben dadurch über die Hälfte zum inländischen Preisdruck in diesem Quartal beigetragen“.
Die gestiegenen Einkaufspreise für Energie machten es „den Unternehmen leichter, ihre Gewinnmargen zu erhöhen, da sie damit effektiv verschleierten, ob der Preisanstieg auf höhere Unkosten oder steigende Gewinnspannen zurückzuführen ist“. Außerdem ermöglichte das inflationäre Umfeld den Unternehmen, reale Einkommensverluste auszugleichen.
Eine Analyse der Entwicklungen seit Beginn der Pandemie hat laut EZB ergeben, dass „im gesamten Euroraum die Stückgewinne seit Anfang 2022, in einigen Fällen sogar seit Ende 2019, deutlich stärker gestiegen sind als die Lohnstückkosten“.
In einer so genannten sektoralen Analyse stellt die EZB fest, dass die Gewinne „viel stärker als die Lohnkosten“ stiegen. Dieser Befund wurde in einer Reihe von Branchen nachgewiesen, darunter der Agrarsektor, die Energie- und Versorgungswirtschaft, das Baugewerbe, das verarbeitende Gewerbe und der „kontaktintensive“ Dienstleistungssektor.
Mit einem Wort, es handelt sich um Profitgier, die sich auf alle Branchen auswirkt. Deren astronomischer Umfang wird erst im historischen Vergleich deutlich.
Im Blog heißt es dazu: „Wenn wir über einen längeren Zeitraum hinweg vergleichen, welchen Anteil die Stückgewinne und die Lohnstückkosten jeweils am inländischen Preisdruck hatten, dann wird deutlich, dass die Auswirkungen der Stückgewinne in jüngster Zeit wahrlich historische Ausmaße angenommen haben. Während die Stückgewinne im Durchschnitt des Zeitraums 1999 bis 2022 etwa ein Drittel zum BIP-Deflator beitrugen, waren es im Jahr 2022 durchschnittlich zwei Drittel!“ (Der BIP-Deflator ist ein Preisindex des Bruttoinlandsprodukts, der als Maß für die Inflation dient.)
In dem Blog heißt es abschließend, dass die EZB die Entwicklungen weiterhin beobachten und politische Entscheidungen treffen wird, um sicherzustellen, dass die Zinssätze die Nachfrage dämpfen. Mit anderen Worten: Die Konjunktur soll weiter gedrosselt werden, um Forderungen nach mehr Lohn zu unterdrücken.
Die New York Times (NYT) berichtete vor kurzem über die Auswirkungen der wuchernden Profite insbesondere bei Lebensmitteln, die einen großen Teil der Lebenshaltungskosten für Geringverdiener und Arbeiter darstellen.
Demnach gehen die Energiepreise zwar allmählich etwas zurück, die Lebensmittelpreise aber steigen weiter. In der Eurozone stiegen sie in den zwölf Monaten bis März um 15 Prozent und in den USA in den zwölf Monaten bis Februar um über 10 Prozent. Und das, obwohl die Lebensmittelpreise auf den Weltrohstoffmärkten, welche die Erzeugerpreise der Landwirte bestimmen, bereits seit April letzten Jahres rückläufig sind.
Claus Vistesen, Wirtschaftswissenschaftler beim Forschungsinstitut Pantheon Macroeconomics, erklärte: „Die einzige Erklärungsmöglichkeit für die Preisentwicklung einiger Lebensmittelindizes ist, dass die Gewinnspannen vergrößert werden.“
Die Gewinnsucht ist inzwischen so eklatant, dass sie von Mitgliedern des EZB-Direktoriums kritisch beäugt wird. So warnte Fabio Panetta, Mitglied des Direktoriums, vor einer „Profit-Preisspirale“.
Offenkundig besorgt über die Wut, die dadurch bei den Arbeitern ausgelöst wird, warnte er in einer Rede im letzten Monat, dass „das opportunistische Verhalten der Unternehmen auch den Rückgang der Kerninflation hinauszögert“.
In dem NYT-Artikel wird darauf hingewiesen, dass seit März 2022, als die Inflation ihren Höhepunkt erreichte, ein Preisindex der Vereinten Nationen für Lebensmittel wie Getreide, Fleisch, Pflanzenöl und Milchprodukte rückläufig war. Der Index ist sogar im gesamten vergangenen Jahr kontinuierlich gesunken, aber „die Preise für Lebensmittel in den USA und in der Europäischen Union sind ständig gestiegen“.
Die Zeitung zitiert Untersuchungen der ING Bank, die belegen, dass der Anstieg der Gewinnspannen von Lebensmittelherstellern zu Beginn der Corona-Pandemie einsetzte. Im deutschen Agrarsektor (ohne Hersteller von verpackten Lebensmitteln und Einzelhändler) stiegen die Margen zwischen Ende 2019 und 2022 um 63 Prozent, was fast ausschließlich auf höhere Profite und nicht auf höhere Löhne zurückzuführen ist.
In einem Schreiben an ihre Kunden erklärten die Ökonomen der Bank: „Der Anstieg der Preise in der Landwirtschaft, im Baugewerbe und im Bereich Handel, Verkehr und Gastgewerbe lässt sich hauptsächlich durch einen Anstieg der Profitanteile erklären und ist somit nicht auf höhere Energie- und Rohstoffpreise zurückzuführen.“
Nach Angaben der EU-Statistikbehörde lag der Anteil der Gewinne am Betriebsüberschuss im letzten Quartal 2022 bei 42 Prozent und damit auf dem höchsten Stand seit 2007, während gleichzeitig der Anteil der Löhne sank.
Die NYT zitiert die Warnung des Chefökonomen der Bank of England (BoE), Huw Pill, dass die gesteigerte Anhäufung von Gewinnen eine höhere Inflation nach sich ziehen könnte.
„Dauerhafte Abweichungen der Inflation vom Zielniveau, selbst wenn sie grundsätzlich auf eine Reihe temporärer Inflationsschocks zurückzuführen sind, können Verhaltensänderungen hervorrufen, die eine langfristigere inflationsfördernde Dynamik erzeugen“, orakelte Pill in einer Rede letzte Woche.
Die Erkenntnisse über die Auswirkungen von Gewinnsteigerungen auf Europa und die USA untermauern eine Analyse von Wirtschaftswissenschaftlern des Australia Institute vom Februar, wonach eine Gewinn-Preisspirale der Hauptfaktor für die Inflation ist. Dem Bericht zufolge waren „exzessive Unternehmensgewinne“ in Höhe von 160 Milliarden Dollar für 69 Prozent der zusätzlichen Inflation oberhalb des Zielkorridors der Reserve Bank of Australia (RBA) von etwa 2,5 Prozent verantwortlich.
Gleichzeitig sanken die australischen Reallöhne im Jahr 2022 um 4,5 Prozent, der stärkste Rückgang ihrer Geschichte! Basierend auf dem geldpolitischen Handlungsrahmen der RBA wären die neun aufeinanderfolgenden Zinserhöhungen ohne „Gewinn- und Preisüberschüsse unwahrscheinlich gewesen“, so die Studie.
Diese Aussage unterstellt, dass der RBA und den anderen Zentralbanken lediglich ein bedauerliches Missverständnis unterlaufen sei, indem sie sich zu sehr auf die Löhne konzentrierten, obgleich diese nicht ursächlich für die Inflation sind.
Doch das Programm der Zentralbanker ist kein Irrtum. Es ist eine bewusste Politik, die sich gegen die Arbeiter richtet und darauf abzielt, ihnen die Kosten für die sich verschärfende Krise des globalen kapitalistischen Systems aufzubürden, dem die Profitgier der Konzerne entspringt.