Am Montag bestätigte der Kreml, dass sich der russische Präsident Wladimir Putin am 29. Juni, nur fünf Tage nach dem gescheiterten Putschversuch, mit Jewgeni Prigoschin getroffen hatte. Dies wurde kurz vor dem Nato-Gipfel in Vilnius bekannt, auf dem die Nato beabsichtigt, ihre Beteiligung am Ukrainekrieg deutlich auszuweiten. Die französische Zeitung Libération hatte am Freitag als erste über das Treffen berichtet.
Prigoschin, ein rechtsextremer Ex-Sträfling, Milliardär und Söldnerführer, hatte nach monatelangen Konflikten mit der russischen Armeeführung am 23. Juni einen offenen Aufstand angezettelt und unmittelbar an den Nato-freundlichen Flügel der russischen Oligarchie und des Staatsapparats appelliert. Es gelang ihm, die Kontrolle über das Militärhauptquartier zu übernehmen, das für den Krieg in der Ukraine verantwortlich ist. Danach brachen er und seine Söldner am 24. Juni zu einem Marsch nach Moskau auf und forderten die Absetzung von Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Stabschef Waleri Gerasimow.
Kremlsprecher Dmitri Peskow hat erklärt, dass Putin nur fünf Tage nach dem Scheitern des Aufstands 35 Personen zu einem Treffen eingeladen habe, an dem alle führenden Befehlshaber der Wagner-Gruppe teilnahmen. Weitere Teilnehmer waren Sergei Naryschkin, der Leiter des russischen Auslandsgeheimdienstes, und Wiktor Solotow, Befehlshaber der russischen Nationalgarde, die gegen die Aufständischen eingesetzt worden war.
Peskow gab nur wenig Details über das Treffen preis, deutete jedoch an, dass eine Einigung zwischen Putin und den Kommandeuren von Wagner erzielt worden sei: „Wir können nur sagen, dass der Präsident eine Einschätzung der Aktivitäten der [Wagner]-Gruppe während der Militärischen Spezialoperation und der Ereignisse vom 24. Juni abgegeben hat. Die Kommandeure selbst haben ihre Interpretation der Ereignisse dargelegt. Sie betonten, sie seien weiterhin überzeugte Anhänger und Soldaten des Staatsoberhaupts und Oberbefehlshabers [Putin]. Sie erklärten auch, sie seien weiterhin bereit, für das Vaterland zu kämpfen.“
Nur zwei Tage vor dem Treffen hatte Putin die Aufständischen im öffentlichen Fernsehen als Verräter gebrandmarkt und ihnen vorgeworfen, einen Bürgerkrieg anzuzetteln und damit der Nato in die Hände zu spielen. In den zwei Wochen seit dem Putschversuch zeichnete sich die offizielle Linie des Kremls trotz mehrerer Wendungen durch außergewöhnliche Nachsicht gegenüber der Gruppe Wagner aus.
Unmittelbar nach dem Putsch prahlte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko in einer sonst von Mafiabossen bekannten Ausdrucksweise, er habe während des Aufstands einen Deal zwischen Putin und Prigoschin ausgehandelt. Berichten zufolge beinhaltete dieser Deal nicht nur eine Amnestie für Prigoschin und alle Wagner-Kämpfer, sondern auch deren Verlegung nach Belarus. Diese Übersiedlung hat bisher jedoch noch nicht stattgefunden.
Prigoschins hat seinen Hauptsitz weiterhin überwiegend in Russland, und der Kreml erklärte letzte Woche, er sei „weder in der Lage noch gewillt“, seinen Aufenthaltsort zu ermitteln. Lukaschenko, der erklärt hatte, die belarussische Armee würde gerne von Wagner ausgebildet werden, hatte letzte Woche Reporter der New York Times zu den für die Wagner-Kämpfer vorgesehenen Lagern geführt, um den Nato-Medien zu beweisen, dass sie bisher dort nicht eingetroffen waren.
Berichten zufolge rekrutiert Wagner auch weiterhin ungehindert im ganzen Land. Kurz nach einer Razzia in Prigoschins Haus wurden ihm fast sofort seine Wertgegenstände, einschließlich seiner privaten Schusswaffen, zurückgegeben. Die Financial Times fand bei einer Verfolgung der Bewegungen von Prigoschins Privatflugzeug heraus, dass er in den Tagen nach dem gescheiterten Putsch mehrfach zwischen Moskau, St. Petersburg, Rostow am Don (wo der Aufstand begonnen hatte) und der belarussischen Hauptstadt Minsk hin- und hergeflogen ist.
In den russischen Medien findet eine konzertierte Kampagne mit dem Ziel statt, Prigoschin lächerlich zu machen. Aber selbst diese Kampagne wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet. Die Neswisimaja Gaseta schrieb in einem Kommentar, die staatlichen Fernsehsender „entlarven Prigoschin in einer Weise, die wie Werbung für ihn wirkt“.
Es ist nicht einmal klar, ob der Kreml gegen Prigoschins umfangreiches Wagner-Imperium vorgehen wird, das sich über ein Dutzend Länder erstreckt und eine Vielzahl von Firmen umfasst, durch die Prigoschin zum Milliardär geworden ist. Wie Putin selbst nach dem Aufstand enthüllt hat, wurde das Wagner-Unternehmen hauptsächlich vom russischen Staat finanziert. Alleine zwischen Mai 2022 und Mai 2023 hat der Staat Aufträge an Wagner im Wert von 86 Milliarden Rubel vergeben.
In der russischen Armee hat der Kreml eine Untersuchung über die Rolle verschiedener Armeebefehlshaber bei dem Putschversuch eingeleitet. Allerdings ist auch hier unklar, wie umfassend die Untersuchung ist, und wie ernsthaft sie durchgeführt wird. Die Nowaja Gaseta, die der von den USA unterstützten Opposition gegen Putin nahesteht, erklärte am Freitag zu den Untersuchungen im Militär: „Es entsteht zunehmend der Eindruck, dass der ,Chefkoch des Präsidenten [Prigoschin]‘ Verbündete hatte, und vielleicht noch immer hat ...Generäle werden als Zeugen vorgeladen und verschwinden von der Bildfläche.“
Die Zeitung fügte hinzu, als Prigoschin in den letzten Monaten offen und wiederholt die Militärführung unter Verteidigungsminister Sergei Schoigu und Stabschef Waleri Gerasimow mit üblen Beschimpfungen attackiert hatte, habe kein einziger Armeechef sie verteidigt. Zudem berichtete die Zeitung, Prigoschin habe systematisch und offen versucht, aktive und ehemalige Generäle und Kommandeure aus der Armee abzuwerben, die mit der Kriegsführung unzufrieden waren.
Generalleutnant Michail Misinzew zum Beispiel, der an der russischen Militäroperation in Syrien und der Eroberung von Mariupol in der Ukraine beteiligt war, ist zu Wagner übergelaufen, nachdem er aus dem Militär entlassen worden war. Die Nowaja Gaseta schrieb unter Berufung auf anonyme Quellen, Prigoschin habe „im Winter 2022–2023 hochrangigen Kommandeuren verlockende Angebote gemacht. Sie alle hatten ihre eigenen Ansichten über die Militärische Spezialoperation und wiesen auch auf dringend zu korrigierende Fehler hin. All diese Angebote wurden offen gemacht, das Verteidigungsministerium wusste davon. Auch alle ihre Telefonate wurden überwacht.“
Die vielen Widersprüche in der offiziellen Linie verdeutlichen das extreme Ausmaß der Krise und der Spaltungen innerhalb der russischen herrschenden Klasse und des Staatsapparats. So kann auch Prigoschin seine Aktivitäten fortsetzen, obwohl er seinen Aufstand auf der Grundlage offensichtlicher Lügen angezettelt hatte, als er behauptete, die Nato habe den Konflikt weder provoziert, noch sei sie daran beteiligt. Diese widersprüchliche Entwicklung kann nur verstanden werden, wenn man den Klassencharakter und die historischen Ursprünge der russischen Oligarchie versteht, die aus der stalinistischen Zerstörung der Sowjetunion und der Wiedereinführung des Kapitalismus hervorgegangen ist.
Die WSWS schrieb in einer Erklärung zu dem gescheiterten Putsch:
Prigoschin ... steht für den nicht geringen Teil der russischen Oligarchie, die den Krieg nur deshalb ablehnt, weil Putins Bemühungen, die Vorrechte der einheimischen Kapitalistenklasse und des Staats auf die riesigen Ressourcen des Landes zu schützen, ihnen sehr hohe Kosten bescheren. Putin balanciert zwischen diesen Fraktionen und sein Versuch, die gegensätzlichen Interessen verschiedener Oligarchen unter einen Hut zu bringen, bestimmt sein Verhalten in der „militärischen Spezialoperation“, wie er es nach wie vor nennt. Die Politik des Kremls in der Ukraine basierte von Anfang an auf der Hoffnung, dass ein gewisser militärischer Druck die westlichen imperialistischen Mächte dazu bewegen könnte, die „legitimen“ Sicherheitsinteressen des russischen Kapitalismus zu akzeptieren.
Zwei Wochen später, am Vorabend des Nato-Gipfels in Vilnius, hat sich diese Einschätzung vollauf bestätigt. Es ist zwar abzuwarten, wie das Putin-Regime auf die neue Eskalation des Kriegs reagieren wird, die die Nato gerade vorbereitet. Aber die Ereignisse der letzten Wochen haben nicht nur seine Schwäche gezeigt. Sie haben vor allem eindrücklich den Bankrott und den kriminellen Charakter der gesamten russischen Oligarchie enthüllt. Ihre größte Angst und Sorge richtet sich nicht auf ihre diversen inneren Streitigkeiten um Vermögen oder einen Krieg mit der Nato. Was sie wirklich umtreibt, ist die Entwicklung einer unabhängigen politischen Bewegung der Arbeiterklasse und die Wiederbelebung der internationalistischen marxistischen Traditionen der Oktoberrevolution.