In diesem Interview spricht Maxim Goldarb, der Vorsitzende der Partei „Union der Linken Kräfte–Für einen neuen Sozialismus“ (SLS), mit der WSWS über die Verfolgung seiner Partei, die wachsende Antikriegsstimmung in der Ukraine und darüber, welche Auswirkungen der Tod von Hunderttausenden Ukrainern auf die Gesellschaft hat. Seine Partei setzt sich für eine Verhandlungslösung mit Russland ein und ist seit Beginn des Krieges verboten.
Trotz unserer gut dokumentierten politischen Differenzen mit den Verbündeten der SLS-Partei, einschließlich Die Linke in Deutschland, hat die WSWS stets die demokratischen Rechte der SLS verteidigt. Wir rufen alle unsere Leser auf, dem staatlichen Vorgehen der Selenskyj-Regierung, die mit Unterstützung der Nato alle Parteien unterdrückt, die sich in der Ukraine gegen den Krieg stellen, Widerstand zu leisten. In den letzten Monaten hat die WSWS mehrere wichtige Artikel von Goldarb über die innenpolitische Situation in der Ukraine veröffentlicht.
Clara Weiss (CW): Ihre Partei ist in der Ukraine verboten und wird von der Regierung verfolgt. Können Sie unseren Lesern auf der ganzen Welt die Art und Weise schildern, wie Ihre Partei der Verfolgung ausgesetzt war und ist? Wie ist die aktuelle Situation derjenigen in der Ukraine, die ein Ende des Kriegs fordern?
Maxim Goldarb (MG): Zusammen mit zwölf anderen Oppositionsparteien wurde die Partei „Union der Linken Kräfte“ (SLS) im Frühjahr 2022 in der Ukraine durch einen Beschluss des Sicherheits- und Verteidigungsrates und ein Dekret des Präsidenten verboten. Dann erließ das Verwaltungsgericht Lwiw ein ähnliches Verbot (im Wesentlichen eine Kopie, wie auch bei anderen verbotenen Oppositionsparteien).
Bemerkenswert ist, dass das Urteil in Lviv erging und nicht in Kiew, wo die Partei registriert ist, wie das Gesetz es eigentlich vorschreibt. Unseren Informationen zufolge unterstehen die Lemberger Gerichte der vollen Kontrolle des Sprechers des ukrainischen Parlaments, eines Gefolgsmanns von Präsident Selenskyj. Und sie setzen alles um, was ihnen gesagt wird.
Ich möchte betonen, dass die SLS die einzige Partei ist, die die Entscheidung der Behörden nicht akzeptiert hat.
Wir haben vor dem ukrainischen Verfassungsgericht gegen das Gesetz geklagt, auf dessen Grundlage die Oppositionsparteien im Lande verboten wurden, und wir haben vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen die Entscheidungen ukrainischer Gerichte, die Partei zu verbieten, geklagt. Unsere Beschwerden werden derzeit geprüft.
Schon zu Kriegsbeginn begann die Verfolgung der Opposition in einem geradezu „industriellen“ Ausmaß. Viele SLS-Mitglieder wurden in den Untergrund gedrängt, ein Teil der Parteiführung wurde gezwungen, das Land zu verlassen, um Gefängnis oder Tod zu entgehen. Ein ehemaliger Führer und Gründer der Partei wurde ohne jede rechtliche Grundlage ins Gefängnis geworfen. Praktisch alle Leiter unserer territorialen Parteigremien wurden vom ukrainischen Sicherheitsdienst (SB) vorgeladen und verhört. Das Parteibüro in Kiew wurde verwüstet, und Unterlagen und Computerequipment wurden gestohlen.
In der Ukraine ist die Situation der Menschen, die für eine sofortige Beendigung des Konflikts und für die Aufnahme von Friedensverhandlungen eintreten, äußerst gefährlich. Ihr Leben und ihre Freiheit sind bedroht. Sie werden zu Staatsfeinden, Staatsverrätern und Kollaborateuren erklärt und im Grunde zu Geächteten gestempelt. Jederzeit können sie festgenommen, durchsucht und verhaftet werden, und man kann sie monate- und sogar jahrelang ohne Gerichtsurteil im Gefängnis festhalten.
Ihr einziger Fehler besteht darin, dass sie versuchen, ihre Meinung zu äußern, die der Politik der herrschenden Elite und des Präsidenten zuwiderläuft. Die Regierung hat panische Angst vor der Verbreitung von Ideen in der Gesellschaft, die ihr zuwiderlaufen, denn sie weiß, dass dies ihren eigenen Untergang beschleunigt.
CW: Verschiedene Quellen beziffern die Zahl der Ukrainer, die in diesem Krieg bereits ums Leben gekommen sind, auf 150.000 bis 300.000. Das ist eine absolut erschreckende Zahl, vor allem für ein Land, dessen Bevölkerung recht klein ist. Zu Beginn des Krieges hatte die Ukraine etwa 40 Millionen Einwohner, und seither ist diese Zahl noch kleiner geworden. Wie beurteilen Sie die Auswirkungen des Verlustes so vieler Menschenleben auf die Gesellschaft, auf die Stimmung in der Bevölkerung und auf die Zukunft des Landes?
MG: Die Zahlen, die Sie da nennen, sind wirklich schrecklich. Dabei wurden sie in Amerika schon vor Beginn der Gegenoffensive genannt, so dass ich vermute, dass sie heute noch viel höher sind. Die ukrainische Regierung hält diese schrecklichen Zahlen geheim, aber die Wahrheit findet irgendwie ihren Weg in die Öffentlichkeit und in die Gesellschaft. Anfang dieses Jahres schrieb beispielsweise eine ungarische Publikation über mehrere Kühltransporter in der Nähe der ungarischen Grenze, die mit den Leichen toter Soldaten angefüllt waren.
Wie gesagt, haben auch europäische Politiker (z. B. Ursula von der Leyen), sowie Militärexperten und amerikanische Politiker ([Robert J.] Kennedy, [Mark] Milley, [Tucker] Carlson usw.) schon Ende letzten Jahres die Verluste auf mehrere Hunderttausend beziffert. Ich gehe daher leider davon aus, dass sie sich inzwischen einer halben Million nähern. Dies wird sich zweifellos auf die demografische Situation im Lande auswirken. Schließlich handelt es sich bei denjenigen, die getötet oder verkrüppelt wurden, um gesunde ukrainische Männer, zeugungsfähig und im besten Alter.
Außerdem sollten wir nicht vergessen, dass während des Krieges mindestens 5 Millionen ukrainische Frauen, meist ebenfalls jung, arbeitsfähig und im gebärfähigen Alter, das Land mit ihren Kindern verlassen haben. Die meisten von ihnen haben inzwischen Arbeit im Ausland gefunden; ihre Kinder gehen dort in die Schule, etc. Sie leben sich ein und passen sich den dortigen Sitten und Regeln an. Glauben Sie, dass viele von ihnen in das zerstörte Land zurückkehren wollen? Das ist eine rhetorische Frage. Leider blutet die Ukraine in dieser Hinsicht auf verheerende Weise aus. Vor allem, wenn man bedenkt, dass auch die Ehemänner nach dem Ende der Feindseligkeiten (und jeder Krieg endet früher oder später) ihnen folgen werden, um wieder mit ihren Familien zusammen zu leben.
Wie sehr auch die Behörden versuchen, die Zahlen über Verluste zu vertuschen – indem sie die Leichen nur nach und nach freigeben, indem sie verbieten, die tatsächlichen Todeszahlen zu nennen – so dringen sie doch offensichtlich in die alltäglichen Gespräche ein. Verwandte, Vertraute, Nachbarn, Kollegen, enge Freunde, Bekannte – sie alle sprechen darüber und geben Informationen über Fälle preis, die sie in ihrem Familien- und Bekanntenkreis erleben. Und diese Informationen verbreiten sich wie ein Lauffeuer.
Und das wirkt sich in erster Linie auf die Bereitschaft der Männer aus, in der Armee zu dienen: Nicht umsonst schrieb ein Offizier, der für die Rekrutierung in die Armee zuständig ist, vor einem Monat, dass nur 20 Prozent aller Wehrpflichtigen bereit seien, in der Armee zu dienen. Auch der britische Guardian hat dies in einer jüngsten Veröffentlichung bestätigt und festgestellt, dass junge Menschen, die vom massenhaften Tod von Jugendlichen an der Front erfahren, den Militärdienst mit allen Mitteln verweigern. Der langwierige Krieg hat ebenso große Auswirkungen auf die allgemeine Stimmung in der ukrainischen Gesellschaft, und sie ist des Krieges überdrüssig. Immer häufiger wird von Frieden gesprochen, und das Misstrauen in die Politik des Präsidenten und der Regierung nimmt zu. Ich denke, dass diese Stimmung größtenteils heute noch nicht existenziell gefährlich, aber unter bestimmten Bedingungen wird sie es im nächsten Jahr werden.
CW: In einem Artikel für die WSWS haben Sie die kriminellen Methoden geschildert, die die Regierung anwendet, um Soldaten zu rekrutieren. Wie ist die aktuelle Situation in dieser Hinsicht? Und wie schätzen Sie es ein, dass Selenskyj letzte Woche den Leiter der militärischen Rekrutierungsbüros entlassen hat?
MG: Die Situation bei der Mobilmachung, genauer gesagt bei ihren Methoden, hat sich nicht zum Besseren gewendet, im Gegenteil, sie hat sich verschlechtert. Oleksyi Arestovych, ein ehemaliger Berater von Selenskyj, erklärte kürzlich in einem Interview, dass bis zu 400.000 Menschen mehr mobilisiert werden müssten! Und angesichts meiner obigen Antworten können Sie sich vorstellen, wie die Behörden versuchen werden, die Menschen (von denen nur jeder Fünfte kämpfen will) zu zwingen, unter ihrem Banner zu kämpfen. Die Methoden werden nur noch schlimmer werden. Schon jetzt häufen sich in den Provinzregionen und Bezirken die Fälle von gewaltsamen Verhaftungen, sowohl von ganzen Gruppen als auch von einzelnen Männern. Man bringt sie mit Waffengewalt zu den Rekrutierungsbüros und schickt sie sofort an die Front.
Allerdings ist in Kiew noch nichts dergleichen geschehen: Die Behörden versuchen es zu vermeiden, in der Hauptstadt Nervosität zu erzeugen, aber in Kürze – da bin ich mir sicher – werden sie auch in der Hauptstadt dieselben Methoden gegen die Männer einsetzen. Was die angekündigte Entlassung von Militärkommissaren in der gesamten Ukraine betrifft, so ist meine Meinung dazu die folgende: Der Präsident ist in erster Linie ein fähiger, professioneller und hochkarätiger Schauspieler. Er hat ein sehr gutes Gespür für die Stimmung seines Publikums und versucht ständig, es dazu zu bringen, ihm zu applaudieren (in diesem Fall im übertragenen Sinne).
Momentan richtet er sich mit seinem Vorgehen an drei verschiedene Zielgruppen: Erstens an die US-Behörden: „Seht, wie ich die Korruption bekämpfe!“. Zweitens an die einfachen Ukrainer mit derselben Zielsetzung, plus dass er den Anschein eines fairen und harten Führers erwecken möchte. Er geht von der offensichtlichen Abneigung der einfachen Leute gegen Militärkommissare und andere Beamte aus, die sich gemästet haben.
Drittens richtet er sich an die Armee, genauer gesagt, die niederen Ränge und den Nachwuchs im Kommandostab. Er versucht, den Eindruck einer gerechten Behandlung der Veteranen, die in diesem Krieg gekämpft haben, zu erwecken, indem er angeblich diejenigen bestraft, die nicht gekämpft haben, sowie gegen die korrupten Offiziere im hinteren Teil der Armee und die Militärkommissare vorgeht (und Offiziere und Soldaten an der Front haben immer eine negative Einstellung zu den „Ratten im Hinterland“). Es handelt sich also um eine Art „Flirt“ mit der Basis der Armee, den der Präsident angesichts seiner Meinungsverschiedenheiten mit der militärischen Führungsspitze jetzt dringend benötigt. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Entlassung der Rekrutierungsoffiziere ein cleverer Schachzug.
CW: Sie haben für die WSWS auch über die Zerstörung von Denkmälern aus dem Zweiten Weltkrieg und die Verherrlichung von Bandera und anderen ukrainischen Nationalisten und Faschisten geschrieben. Diese werden jetzt auch im Westen verherrlicht. Können Sie über die Rolle dieser Kräfte in der Geschichte der Ukraine und ihre Rolle in der heutigen ukrainischen Gesellschaft sprechen?
MG: Als Bürger der Ukraine bedaure ich, dass Menschen wie Bandera und andere Nazi-Kollaborateure heute in den Rang von Helden erhoben werden. Das ist leider wahr, aber ich bin sicher, dass dieser enorme Fehler radikal korrigiert werden wird.
CW: Vielen Dank für das Gespräch.