Nach langem Zögern hat Sahra Wagenknecht am Montag die seit Monaten erwartete Gründung einer neuen Partei angekündigt. Mit ihr haben neun weitere Bundestagsabgeordnete die Linkspartei verlassen, deren Fraktion damit auf 28 Mitglieder schrumpft und ihren Fraktionsstatus verliert.
Zu den Abgeordneten, die sich dem „Bündnis Sahra Wagenknecht – Für Vernunft und Gerechtigkeit“ (BSW) angeschlossen haben, gehören die bisherige Fraktionsvorsitzende Amira Mohamed Ali, der frühere Parteivorsitzende Klaus Ernst und Sevim Dağdelen. Das BSW bereitet die Gründung der neuen Partei vor, die im kommenden Januar erfolgen soll.
Die Parteigründung findet inmitten der tiefsten gesellschaftlichen Krise seit Bestehen der Bundesrepublik statt. Die Parteien, die die deutsche Politik jahrzehntelang dominiert haben, verlieren rasch an Unterstützung, während die Zahl der Streiks und Proteste wächst. Immer mehr Menschen suchen nach Wegen, außerhalb der eingefahrenen Gleise der parlamentarischen Politik für ihre Interessen zu kämpfen.
Dagegen richtet sich die Initiative Sahra Wagenknechts. Die neue Partei will verhindern, dass der Widerstand gegen sozialen Niedergang, Armut, Krieg und Unterdrückung die kapitalistische Gesellschaftsordnung in Frage stellt und sich mit den Kämpfen der internationalen Arbeiterklasse verbindet. Sie richtet sich gegen die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution, für die die Sozialistische Gleichheitspartei eintritt, und stellt ihr eine rechte, nationalistische Perspektive entgegen.
Amira Mohamed Ali begründete die Parteigründung auf der Bundespressekonferenz damit, dass „viele Menschen in unserem Land das Vertrauen in Politik verloren haben“ und „sich durch keine der bestehenden Parteien mehr vertreten“ fühlen. Man wolle nicht tatenlos zusehen, „dass immer mehr Menschen sich enttäuscht von der Demokratie abwenden und nicht mehr zu Wahlen hingehen“.
Dem Klassenkampf begegnet die Wagenknecht-Partei mit offener Ablehnung. Alle ihre Schriften und Äußerungen sind von einem engstirnigen Nationalismus durchdrungen. Es findet sich darin kein einziger Hinweis auf Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse – die Rentenproteste in Frankreich, die Streiks in der amerikanischen Autoindustrie oder die Massendemonstrationen gegen Krieg.
Auch die Tarifstreiks bei der Post, der Bahn und im öffentlichen Dienst in Deutschland, die zunehmend die Form einer Rebellion gegen die Gewerkschaften annehmen, werden nicht erwähnt. Zu den erklärten Zielen der neuen Partei zählt im Gegenteil die Stärkung der Gewerkschaften und Betriebsräte, die eine Schlüsselrolle dabei spielen, die Arbeiter zu spalten und den Klassenkampf zu unterdrücken. Wie diese strebt die Wagenknecht-Partei eine korporatistische Zusammenarbeit von Gewerkschaften, Unternehmerverbänden und Staat an.
Im Unterschied zur Linkspartei und anderen pseudolinken Parteien, die ihre rechte Politik hinter einem Schleier „linker“ und „sozialistischer“ Phrasen verbergen, setzt die Wagenknecht-Partei offen auf Markt, Wettbewerb und Privateigentum. Auf der Pressekonferenz wies Wagenknecht den Vorwurf, sie wolle eine „Staatswirtschaft à la DDR“, empört zurück. Ihr Ziel sei „eine faire Leistungsgesellschaft mit mehr Wettbewerb und einem starken Mittelstand“.
Das Gründungsmanifest klagt zwar wortreich über gesellschaftliche Missstände, soziale Ungleichheit und die Macht des Geldes. „Eine Gesellschaft, deren mächtigste Akteure nur noch von der Motivation getrieben sind, aus Geld mehr Geld zu machen, führt zu wachsender Ungleichheit, zur Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen und zu Krieg“, heißt es darin. Doch Eingriffe in das kapitalistische Eigentum oder gar die Enteignung der Banken und Konzern lehnt die Wagenknecht-Partei strikt ab.
Selbst geringfügige Maßnahmen, die sich früher in jedem sozialdemokratischen Programm wiederfanden – wie die Einführung einer Vermögenssteuer oder eine Erhöhung des Spitzensteuersatzes – fordert sie nicht. Stattdessen spricht sie nur ganz allgemein von einem „gerechten Steuersystem, das Geringverdiener entlastet und verhindert, dass große Konzerne und sehr reiche Privatpersonen sich ihrem angemessenen Anteil an der Finanzierung des Gemeinwesens entziehen können“. Die Formulierung ist derart schwammig und unverbindlich, dass ihr auch Finanzminister Christian Lindner von der FDP zustimmen könnte.
Die Wagenknecht-Partei will den Kapitalismus nicht abschaffen. Stattdessen verspricht sie, den senilen Kapitalismus des 21. Jahrhunderts durch allerlei Wundermittel in einen dynamischen Jüngling zu verwandeln. Sie will den deutschen Kapitalismus erneuern, indem sie ihn aus der Abhängigkeit von den USA befreit und Wettbewerb und Leistungsprinzip wieder zum Durchbruch verhilft. Sie verspricht eine Rückkehr zur Wirtschaftspolitik der 1950er und zur Entspannungspolitik der 1970er Jahre, als ließe sich die Uhr der Geschichte um Jahrzehnte zurückdrehen.
Das erste Kapitel des Gründungsmanifests, „Wirtschaftliche Vernunft“, ist ein Lobgesang auf Industrie, Mittelstand und freien Markt. „Wir streben eine innovative Wirtschaft mit fairem Wettbewerb, gut bezahlten sicheren Arbeitsplätzen, einem hohen Anteil industrieller Wertschöpfung, einem gerechten Steuersystem und einem starken Mittelstand an,“ heißt es dort. „Die deutsche Industrie ist das Rückgrat unseres Wohlstands und muss erhalten bleiben.“
Da aufgrund des Versagens der Kartellbehörden „viele Märkte nicht mehr funktionieren“, sollen „marktbeherrschende Großunternehmen“ und „übermächtige Finanzkonzerne“ entflochten und ihre Marktmacht begrenzt werden. Bezeichnenderweise erwähnt das Manifest aber nur amerikanische Unternehmen: Blackrock, Amazon, Alphabet, Facebook, Microsoft und Apple. Gegen deutsche Großunternehmen und Finanzkonzerne hat die Wagenknecht-Partei dagegen nichts einzuwenden. Letztere sollen auf Kosten ihrer Rivalen gestärkt werden. „Wir brauchen Zukunftsfonds zur Förderung innovativer heimischer Unternehmen und Start-ups und nicht Milliardensubventionen für Konzerne aus Übersee,“ heißt es im Manifest.
Das zweite Kapitel, „Soziale Gerechtigkeit“, richtet sich nicht an die breite Masse der arbeitenden Bevölkerung, sondern schürt die alte Illusion eines grenzenlosen Aufstiegs. Es tritt nicht für die sozialistische Forderung nach sozialer Gleichheit ein, sondern für „eine faire Leistungsgesellschaft mit echter Chancengleichheit“. Es beklagt, dass das „Aufstiegsversprechen der sozialen Marktwirtschaft“ nicht mehr gelte, und verlangt: „Der persönliche Wohlstand darf keine Frage der sozialen Herkunft, sondern muss das Ergebnis von Fleiß und individueller Anstrengung sein.“
Hinter diesem Programm der kleinbürgerlichen Illusionen verbirgt sich eine nationalistische und militaristische Politik.
Das Kapitel „Frieden“ ist ein kaum verhülltes Plädoyer für Krieg und Aufrüstung. Es spricht sich zwar gegen „die Lösung von Konflikten mit militärischen Mitteln“ aus, aber vor allem deshalb, weil solche Einsätze derzeit vorwiegend im Rahmen der US-dominierten Nato stattfinden.
Dient die Aufrüstung deutschen Interessen, ist die Wagenknecht-Partei dafür. „Die Bundeswehr hat den Auftrag, unser Land zu verteidigen,“ heißt es im Manifest. „Für diese Aufgabe muss sie angemessen ausgerüstet sein.“ Es plädiert für „eine selbstbewusste Politik, die … von der Einsicht getragen ist, dass US-amerikanische Interessen sich von unseren Interessen teilweise erheblich unterscheiden“. Ziel sei „ein eigenständiges Europa souveräner Demokratien in einer multipolaren Welt“, die verhindere, dass Europa zwischen den USA und dem neuen Machtblock um China und Russland zerrieben werde.
Auf der Pressekonferenz auf den Konflikt im Nahen Osten angesprochen, unterstützte Wagenknecht den völkermörderischen Krieg Israels gegen die Palästinenser. „Selbstverständlich hat Israel das Recht, sich gegen die brutalen Angriffe der Hamas zu verteidigen,“ sagte sie. „Kein vernunftbegabter Mensch kann das anders sehen.“
Sie mache sich aber Sorgen, dass der Konflikt immer weiter eskaliere, und hoffe, „dass doch vielleicht das bedachtsamere Handeln Oberhand gewinnt“. Als Grund für ihre Hoffnung verwies sie ausgerechnet auf Äußerungen von US-Präsident Joe Biden – der der israelischen Regierung seine uneingeschränkte Unterstützung versichert und bereits zwei Flugzeugträger in die Region entsandt hat, um den Krieg auch gegen den Iran auszuweiten.
Das letzte Kapitel des Manifests, „Freiheit“, besteht aus zwei Absätzen, die sich beide gegen demokratische Freiheitsrechte richten.
Der erste warnt vor der Bedrohung der Freiheit durch „Cancel Culture“ und „politischen Autoritarismus, der sich anmaßt, Menschen zu erziehen und ihren Lebensstil oder ihre Sprache zu reglementieren“, erwähnt aber die massive Aufrüstung der Polizei und des Sicherheitsapparats nicht – aus dem einfachen Grund, dass Wagenknecht wie die Linkspartei die Polizeiaufrüstung unterstützt.
Der zweite Absatz richtet sich gegen Flüchtlinge und Migranten. Das „Miteinander unterschiedlicher Kulturen“ könne zwar „eine Bereicherung“ sein. Das gelte aber nur, „solange der Zuzug auf eine Größenordnung begrenzt bleibt, die unser Land und seine Infrastruktur nicht überfordert“. Migration sei „nicht die Lösung für das Problem der Armut auf unserer Welt“.
Auf der Pressekonferenz wurde Wagenknecht deutlicher. „Unkontrollierte Zuwanderung unter dem Label ‚Asyl‘ muss auf jeden Fall gestoppt werden, weil sie unser Land völlig überfordert,“ erklärte sie und stempelte Flüchtlinge zum Sündenbock für die soziale Krise. Angesichts von Wohnungs-, Lehrer- und Erziehermangel sei es völlig unverantwortlich, Zuwanderung zuzulassen.
Das zeigt die Ausrichtung der Partei besonders deutlich. Sie sagt nicht der Finanzoligarchie und den Bürokraten den Kampf an, sondern den Flüchtlingen! Wagenknecht will nicht die brutalen Kriege stoppen und die Armut beenden, sondern die Opposition dagegen in rechte und nationalistische Kanäle lenken. Dafür hofft sie, Kleinunternehmer und Selbstständige zu mobilisieren, die unter dem Druck des Weltmarkts zerrieben werden.
Arbeiter müssen dieses abstoßende Projekt entschieden ablehnen. Die einzige Möglichkeit, gegen Krieg und Ungleichheit zu kämpfen, ist der Aufbau einer internationalen Bewegung gegen den Kapitalismus. Diese Perspektive vertritt die Vierte Internationale und ihre deutsche Sektion, die Sozialistische Gleichheitspartei.