Perspektive

Erzwungene Evakuierung des südlichen Gazastreifens: Nächste Etappe in der ethnischen Säuberung Palästinas

Am Donnerstag warf die israelische Luftwaffe Flugblätter über größeren Städten im südlichen Gazastreifen ab, darunter Chan Yunis, der zweitgrößten Stadt des Gazastreifens. Darin wurde die Bevölkerung zur Evakuierung aufgefordert, ansonsten drohe ihnen der Tod. Nur kurze Zeit später eskalierte Israel seine Bombenagriffe auch im Süden. Bei Luftangriffen auf zwei Wohngebiete in Chan Younis am Wochenende kamen mindestens 28 Palästinenser ums Leben.

Die Bombardierung und Vertreibung der Bevölkerung des südlichen Gazastreifens ist die nächste Etappe in der ethnischen Säuberung Palästinas, die von Israel mit Unterstützung der US-amerikanischen und europäischen imperialistischen Mächte durchgeführt wird. Der Gazastreifen wird mittels einer Kombination aus massenhafter Vertreibung, Massakern und Aushungern Stück für Stück entvölkert.

Es ist offensichtlich, dass die Angriffe vom 7. Oktober von Israel als Vorwand genutzt werden, um einen Plan zur systematischen Entvölkerung Palästinas umzusetzen, der seit langem in der Schublade liegt. Die Vertreibung begann im nördlichen Gazastreifen, wird nun auf dessen südliche Bereiche ausgedehnt und wird sich danach auf das Westjordanland konzentrieren.

„Sie haben gesehen, was mit Gaza-Stadt passiert ist“, sagte Mark Regev, ein hochrangiger Berater des israelischen Premierministers, gegenüber Sky News. „Chan Yunis ist ebenfalls ein Zentrum der Aktivitäten der Hamas. Wir bitten die Zivilbevölkerung, das Gebiet zu Ihrer eigenen Sicherheit zu verlassen. Wir wollen nicht, dass sie ins Kreuzfeuer geraten.“

Mit dem Verweis darauf, „was mit Gaza-Stadt passiert ist“, meint Regev die systematische Flächenbombardierung, durch die 40 Prozent der Häuser im nördlichen Gazastreifen zerstört oder beschädigt wurde. Das Gesundheitssystem, die Lebensmittelversorgung und die Wasseraufbereitung liegen in Trümmern. Alle Bäckereien im Gazastreifen sind geschlossen und Weizen ist zu keinem Preis mehr erhältlich. Es gibt keine Lebensmittel, kein Wasser und keine medizinische Versorgung.

Nahezu drei Viertel der Bevölkerung des Gazastreifens – 1,5 Millionen Menschen – wurden zu Binnenflüchtlingen gemacht. Die offizielle Zahl der Todesopfer, die aufgrund des Zusammenbruchs des Gesundheitssystems seit fünf Tagen nicht mehr aktualisiert wurde, liegt bei über 11.000. Inmitten des israelischen Angriffs auf das Al-Shifa-Krankenhaus starben aufgrund der gekappten Stromversorgung 40 Patienten, darunter vier Babys.

Während Regev seine Erklärung abgab, war eine Grafik mit einem markierten Gebiet zu sehen, das ein Drittel des Gazastreifens einnimmt. Dieses Gebiet sollen die Palästinenser räumen. Nimmt man diese Aufforderung zusammen mit der früheren Forderung, dass die Palästinenser aus dem nördlichen Gazastreifen in den Süden ziehen sollen, so ergibt sich, dass mindestens vier Fünftel des Landes in ein aktives Kriegsgebiet mit laufendem Beschuss verwandelt wurden. Die südlichste Stadt Rafah stellt die einzige verbleibende Zuflucht dar. Doch selbst die „sicheren“ Gebiete werden ständig von den israelischen Streitkräften bombardiert.

Letzten Monat veröffentlichte die hebräischsprachige Publikation Mekomit interne Dokumente des israelischen Ministeriums für Geheimdienste, in denen es Israel dazu auffordert, „die Zivilbevölkerung in den Sinai zu evakuieren“, wo sie in Zeltstädten leben und an einer Rückkehr in ihre Heimat gehindert werden sollen. Hinter den Kulissen hat der israelische Ministerpräsident Netanjahu Ägypten dazu gedrängt, die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung in die Wüste Sinai zu ermöglichen.

Nun aber diskutieren israelische Politiker diese Pläne nicht im Geheimen, sondern in aller Öffentlichkeit. Am vergangenen Wochenende erklärte Landwirtschaftsminister Avi Dichter, der Mitglied des israelischen Sicherheitskabinetts ist und Netanjahus Likud-Partei angehört: „Wir führen jetzt die Gaza-Nakba aus“. Die Nakba – auf Arabisch „Katastrophe“ – bezieht sich auf die Massenvertreibung von rund 700.000 palästinensischen Arabern aus ihrer Heimat im Jahr 1948.

In seinem Buch Die ethnische Säuberung Palästinas beschreibt der israelische Historiker Ilan Pappé, wie die zionistische Bewegung einen gezielten Plan („Plan Dalet“) zur Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung aus dem späteren Israel umsetzte. Die offizielle israelische Geschichtsschreibung behauptete später, dass die Palästinenser „freiwillig“ gegangen seien. Doch das war eine Lüge.

„Zusammenstöße mit lokalen palästinensischen Milizen“, schreibt Pappé, „boten den perfekten Kontext und Vorwand für die Umsetzung der ideologischen Vision eines ethnisch gesäuberten Palästina. Die zionistische Politik basierte zunächst auf Vergeltungsmaßnahmen gegen palästinensische Angriffe im Februar 1947 und wandelte sich im März 1948 zu einer Initiative zur ethnischen Säuberung des gesamten Landes.“ (Aus dem Englischen)

Pappé erklärte, dass dieser Plan seit Jahrzehnten verfolgt wird. „Das Ziel war immer und ist immer noch: so viel Palästina wie möglich mit so wenig Palästinensern wie möglich“, sagte er im Jahr 2004. Es ist dieser Plan, der nun umgesetzt wird.

Israelische Regierungsvertreter rufen zu einer weiteren „freiwilligen“ Ausweisung von Palästinensern auf. Finanzminister Bezalel Smotrich rief am Dienstag zur „freiwilligen Einwanderung von Arabern aus dem Gazastreifen in die Länder der Welt“ auf, was die „richtige humanitäre Lösung“ sei. Er fügte hinzu: „Die Aufnahme von Flüchtlingen durch die Länder der Welt, die deren Interessen wirklich wollen, … ist die einzige Lösung, die dem Leiden und dem Schmerz von Juden und Arabern gleichermaßen ein Ende setzen wird.“

Bei seinem völkermörderischen Vorgehen hat Israel die volle Rückendeckung und Unterstützung der Regierung Biden und der europäischen imperialistischen Mächte. Am 9. November erklärte Biden, dass es „keine Möglichkeit“ für einen Waffenstillstand in Gaza gebe. Am 7. November erklärte das Weiße Haus kategorisch, dass es für die US-Regierung „keine roten Linien“ hinsichtlich der Anzahl an Zivilisten gebe, die Israel töten dürfe. Nach jeder Bombardierung einer Schule, eines Krankenhauses oder eines Flüchtlingslagers hat die Biden-Regierung erklärt, dass Israel das „Recht“ habe, „sich selbst zu verteidigen“.

Der Ausweitung der „freien Feuerzone“ auf den südlichen Gazastreifen und dem Angriff auf das Al-Shifa-Krankenhaus ging der „Marsch für Israel“ in Washington D.C. voraus, bei dem die Führer der demokratischen und der republikanischen Partei „Kein Waffenstillstand!“ skandierten.

Die uneingeschränkte Unterstützung des israelischen Völkermords durch den amerikanischen Imperialismus entlarvt für alle Zeiten die Lüge, die US-Außenpolitik habe irgendetwas mit „Menschenrechten“ zu tun. Während der gesamten 1990er Jahre nutzten die Vereinigten Staaten den Vorwurf der „ethnischen Säuberung“, um militärische Interventionen auf dem Balkan zu rechtfertigen, die in der Bombardierung Serbiens im Jahr 1999 gipfelten. Die systematische Unterstützung der ethnischen Säuberungen Israels durch die Biden-Administration macht jedoch deutlich, dass die vorgetäuschte Sorge um „Menschenrechte“ nichts weiter als ein Vorwand für das erklärte Ziel war, Jugoslawien aufzulösen, um den Balkan der Herrschaft der USA und der Nato zu unterwerfen.

Auch bei den Kriegen des US-Imperialismus und der Nato gegen Russland in der Ukraine und den Vorbereitungen für einen Krieg gegen China beschuldigen die USA ihre Gegner des Völkermords. Im April wurde Biden gefragt: „Haben Sie genug Beweise gesehen, um zu bestätigen, dass sich in der Ukraine ein Völkermord abspielt?“ Bidens Antwort lautete: „Ja, ich habe es Völkermord genannt. Es wird immer deutlicher, dass Putin versucht, auch nur die Idee auszulöschen, überhaupt Ukrainer sein zu können.“ Die USA beschuldigen China, einen „Völkermord“ an der muslimischen Bevölkerung in der Provinz Xinjiang zu begehen. Alle diese Behauptungen haben sich als reine Propaganda entpuppt, die US-Militäraktionen abdecken sollen.

Israels Völkermord im Gazastreifen hat in der ganzen Welt massiven Widerstand hervorgerufen. Millionen von Menschen sind auf allen bewohnten Kontinenten auf die Straße gegangen, darunter Hunderttausende in den Vereinigten Staaten und anderen Nato-Ländern.

Doch diese Massenproteste haben die Unnachgiebigkeit der Biden-Administration bei ihrer Unterstützung von Israels Völkermord nur noch vertieft. In dieser Woche griff die Capitol Police eine Gruppe von Demonstranten vor dem Hauptsitz des Democratic National Committee an. Sechs Menschen wurden dabei verletzt, während große Social-Media-Plattformen wie Twitter und TikTok Äußerungen politischer Opposition gegen den israelischen Völkermord unterdrückten.

Aus diesen Entwicklungen müssen Lehren gezogen werden. Die Regierungen, die für das Vorgehen Israels verantwortlich sind, lassen sich nicht zu einem Kurswechsel bewegen. Um Israels Völkermord zu stoppen, ist der Aufbau einer Massenbewegung in der Arbeiterklasse erforderlich, mit dem Ziel, die Macht der Finanzoligarchie zu brechen und das kapitalistische System, das die Hauptursache des Kriegs ist, zu beseitigen.

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