Vor wenigen Wochen entließ das Jüdische Museum in Berlin mit Udi Raz eine seiner Guides, weil sie die Wahrheit über den Staat Israel ausgesprochen und ihn während ihrer Führungen als Apartheidstaat bezeichnet hatte. Die WSWS berichtete bereits über den Fall und hatte nun die Möglichkeit, auch direkt mit Udi Raz zu sprechen. Raz ist Vorstandsmitglied des Berliner Vereins Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden im Nahen Osten.
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WSWS: Kannst du etwas genauer von dem Vorfall berichten? Wieso wurdest du entlassen?
Udi Raz: Ich habe den Begriff Apartheid benutzt, um die menschenrechtliche Lage im Westjordanland zu bezeichnen. Ich arbeite im Jüdischen Museum seit Anfang dieses Jahres. Es gab immer wieder Austausch zwischen der Museumsbildungsabteilung und mir, wo immer argumentiert wurde, man solle den Begriff lieber vermeiden, da das wissenschaftlich umstritten sei. Dann habe ich immer wieder Argumente geliefert, die eigentlich die Weiternutzung des Begriffs unterstützen. Aber letztendlich meinte die Bildungsabteilung, man dürfe den Begriff nur dann benutzen, wenn man wirklich ein Gespür hat, ob die Gruppe den Begriff oder den Diskurs auch versteht und den Begriff richtig einordnen kann – also historisch, geopolitisch, geographisch und so weiter und so fort.
Das habe ich auch so angewendet. Allerdings ist die Leiterin der Bildungsabteilung des Museums einmal mit mir mitgegangen durch eine Führung, wo ich den Begriff entsprechend benutzt habe. Ich habe ihn nur benutzt, weil ich das Gespür hatte, dass die Gruppe das auch richtig einordnen kann. Das konnte sie auch und es gab auch viel Lob dafür, dass ich die Situation der menschenrechtlichen Lage im Westjordanland so ausführlich und differenziert beschrieben habe.
Ich beziehe mich nie auf meine eigene Position, sondern auf wissenschaftliche Arbeiten von Menschenrechtsorganisationen, die zum Gebiet forschen, darunter auch Amnesty International. Das sage ich auch explizit im Rahmen meiner Führungen. Die Leiterin der Bildungsabteilung hat zwar mehrfach unterstrichen, dass ich sehr viel Lob bekommen habe und dass ich eine der am meisten gelobten Guides im Museum bin, aber da ich den Begriff erneut verwendet habe, dürfe ich keine weiteren Aufträge mehr bekommen.
WSWS: Also das Jüdische Museum hat dich dann quasi fristlos entlassen? Arbeitest du jetzt gar nicht mehr?
Udi Raz: Ich war Freelancerin, das heißt, es gab keinen Vertrag. Es gab einen Rahmenvertrag, aber ich war tatsächlich keine Angestellte des Museums. Das bedeutet, dass es für mich keine weiteren Ansprüche an das Museum gibt. Und das Museum müsste auch nicht begründen, warum ich keine Aufträge mehr bekomme. Allerdings ist interessant, dass das Museum dieses Mal ausdrücklich erklärt hat, warum ich entlassen wurde. Ich denke, das ist ein interessanter Fall.
WSWS: Ja, definitiv. Vielleicht kannst du nochmal etwas zu dem Kontext sagen, in dem du Israel als Apartheidstaat bezeichnet hast? Über was hast du in deiner Führung gesprochen?
Udi Raz: Ich bin ausgebildet, spezifisch zum Thema jüdische Menschen in Deutschland nach 1945 zu sprechen. Das entspricht auch einer bestimmten Abteilung des Museumsgebäudes. In diesem Teil des Museums gibt es einen bestimmten Raum, der heißt Israel-Raum, wo das Dreieck thematisiert wird: Jüdische Menschen, Israel und Deutschland. Dort beschreibe ich die verschiedenen Haltungen der beiden Staaten, die bilateralen Beziehungen, sozusagen beginnend mit den 1950er Jahren bis 2008, als die damalige Kanzlerin Angela Merkel den Schutz Israels zur deutschen Staatsräson erklärte.
Ich habe in diesem Zusammenhang auch meine eigene Geschichte erzählt. Ich bin selbst jüdische Israelin und ich lebe in Deutschland. Ich erklärte, warum ich überhaupt hier bin. Ich erzähle, dass ich aus einer Ortschaft komme, einer Stadt namens Haifa. Und dann stelle ich die Frage: Wo befindet sich Haifa? Dann sagen die BesucherInnen meistens entweder Israel oder Palästina oder sowohl als auch. Und dann unterstreiche ich, dass es für mich absolut in Ordnung ist, dass der Ort, wo ich herkomme, mehr als nur einen Namen hat, da auch in Haifa viele palästinensische Menschen leben.
Ich erkläre aber, dass es in dieser Region einen bestimmten Bereich gibt, namens Westjordanland. Und ich spreche spezifisch zu dieser Region, weil da habe ich einfach Wissen. Ich war selbst oft im Westjordanland, um zusammen mit palästinensischen Menschen, die dort leben, gegen die Errichtung der Mauer zu demonstrieren.
Und entsprechend habe ich auch ganz oft ihre Lebenserfahrungen dort gehört und festgestellt, dass diese Lebensrealität komplett anders ist, als die, die ich kannte, als jüdische Person, die in demselben Land lebt. Aber noch krasser ist der Fakt, dass ich als jüdische Person die Mauer überqueren konnte – durch die Checkpoints –, während die palästinensischen Menschen das eben nicht können. Und dann erkläre ich immer, dass die jüdischen Menschen, die im Westjordanland leben, die israelische Staatsbürgerschaft haben. Entsprechend dürfen sie zum Beispiel mitentscheiden, wer im israelischen Parlament sitzt. Dagegen haben palästinensischen Menschen keine israelische Staatsbürgerschaft und sie dürfen nicht mitentscheiden. Das heißt, die jüdischen Menschen im Westjordanland leben unter dem Rechtssystem des israelischen Staates, während die palästinensischen Menschen, die im selben Gebiet leben, unter dem Militärgesetz der israelischen Armee leben.
Und in diesem Zusammenhang erkläre ich, dass Amnesty International beispielsweise 2021 einen Bericht veröffentlicht hat, der diese Realität als Apartheidsystem charakterisiert. Ich erkläre in diesem Zusammenhang auch, dass Widerstand gegen so ein Apartheidsystem nicht immer friedlich verläuft. Es gibt tatsächlich Menschen, die bereit sind, zu töten und auch ihr eigenes Leben zu opfern, um Widerstand zu leisten.
Mir war es irgendwann genug, und ich wollte einfach weg. Schülerinnen und Schüler aus meiner Schule wurden auch ermordet durch Terroranschläge. Und dann habe ich mich für Berlin entschieden. Aber in Berlin habe ich festgestellt, dass mein Herz immer noch dort liegt – auch wegen meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden.
Und es ist mir wichtig, auch hier meine Stimme zu äußern. Aber du kannst dir vorstellen, wie schockiert ich war, als mir Deutsche hier in Deutschland vorgeworfen haben, ich wäre antisemitisch. Und der Grund dafür ist eben ein Versuch vieler Deutscher, mit der Vergangenheit umzugehen. Das schätze ich prinzipiell sehr und ich habe keine Kritik daran. Aber wie es stattfindet, das muss man immer wieder in Frage stellen.
Es gibt auch Versuche mit der Vergangenheit umzugehen, die eigentlich ziemlich sinnvoll sind: wie zum Beispiel Restaurationen, Entschädigungen, Migrationsrechte für jüdische Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Aber diese Position, die besagt, Deutschland steht an der Seite Israels egal was Israel tut, das bedeutet für palästinensische Menschen, die in Palästina/Israel leben, dass sie gar keine Menschenrechte genießen dürfen. Und dass in Deutschland palästinensische Menschen de facto nicht demonstrieren dürfen, unterstreicht das. Während in Palästina/Israel palästinensische Menschen keine Menschenrechte genießen, haben diese Menschen in Deutschland eben auch gar keine zivilen demokratischen Rechte.
WSWS: Siehst du einen Zusammenhang zwischen deiner Entlassung und dem Krieg im Nahen Osten und gleichzeitig der allgemeinen Einschränkung demokratischer Rechte?
Udi Raz: Eine gute Frage. Ich denke, dass in so einer Situation, die wir gerade sehen, die Masken einfach fallen. Man kann uns nicht mehr mit Ambivalenz kommen. Wir wissen ganz genau, wer an der Seite des internationalen Rechts steht, wer an der Seite des Humanismus steht, wer die Menschenrechte anerkennt – auch von nicht jüdischen Menschen. Und die Art und Weise, wie gerade mit Antisemitismusvorwürfen umgegangen wird, das ist an sich schon antisemitisch. Z.B die Behauptung, jüdische Menschen seien nicht selbst in der Lage, sich eine Zukunft vorzustellen, in der sie in Frieden auch mit palästinensischen Menschen leben dürfen.
WSWS: Ja. Die ganze Gleichsetzung der jüdischen Bevölkerung mit der israelischen Regierung ist ein antisemitisches Argument. Denn damit sagt man, die jüdische Bevölkerung ist verantwortlich für die Verbrechen Israels.
Udi Raz: Absolut. Nationalistische Deutsche behaupten oft, Islamisten seien nicht in der Lage, zwischen jüdischen Menschen in Israel zu differenzieren. Das stimmt, aber das halten Israel und Deutschland genauso. Israel sieht keinen Unterschied zwischen jüdischen Menschen und Israel und Deutschland differenziert genauso wenig.
WSWS: Als Sozialisten und Internationalisten sagen wir, der Krieg kann nur gestoppt werden durch eine vereinte Bewegung der israelischen und der arabischen Arbeiter und auch der Arbeiter hier in Deutschland oder in den USA. Wir kämpfen für eine Ausweitung der Proteste und dafür, dass Arbeiter weltweit für einen politischen Streik gegen Waffenlieferungen eintreten. Was denkst du zu solch einer internationalen Perspektive?
Udi Raz: Grundsätzlich halte ich das immer für richtig, jedes Potenzial auszunutzen, um ins Gespräch zu kommen. Ich denke, ich hätte mir eine Zukunft gewünscht, wo alle Menschen, die in derselben Region leben dürfen, an einem solchen Gespräch teilnehmen. Dass es dort keine Differenzierung gibt zwischen unterschiedlichen ethnischen Gruppen. Das betrifft jüdische Menschen, palästinensische Menschen, Drusen und alle Menschen, die einfach dort vor Ort leben und ja, vom System betroffen sind. Und grundsätzlich sind Waffenlieferungen extrem viel schädlicher als jede andere Art von Krisenmanagement. Und Deutschland übernimmt jetzt in dieser Situation die Aufgabe, Waffen zu liefern anstatt ‚non-violent‘ Bewegungen wie zum Beispiel BDS zu entkriminalisieren.
WSWS: Du hast ja schon gesagt, dass hier die Masken fallen. Im Bundestag haben sämtliche Abgeordneten von der Linkspartei bis zur AfD einem Antrag zugestimmt, der Israel unterstützt. Das ist wirklich eine Einheitsfront aller Parteien.
Udi Raz: Das hat die Linke bereits bei dem Anti-BDS-Beschluss 2019 gezeigt. Bereits damals sind die Masken gefallen. Das ist jetzt eine dringende Angelegenheit, denn Menschen sterben tatsächlich durch eine solche Politik. Vorher starben auch Menschen, aber jetzt in solchen Massen. Da ist es kaum zu fassen, wie so eine Partei, die sich links nennt, so etwas zulässt.
WSWS: Und dass die AfD sich an die Spitze dieser Kampagne stellt, entlarvt ja, dass es hier nicht um den Kampf gegen Antisemitismus geht. Deren führende Mitglieder erklären, der Holocaust sei ein „Vogelschiss“ der Geschichte gewesen.
Udi Raz: Ich als jüdischer Mensch, der hier in Deutschland lebt, bin total entsetzt von dieser Politisierung des Begriffs Antisemitismus, denn das lenkt ab von den eigentlichen Manifestationen dieses Phänomens, die extrem gefährlich sind. Und wir müssen solche Phänomene wie Antisemitismus und jede andere Art von Rassismus beim Namen nennen, Monitoring betreiben und das entsprechend vermeiden.
WSWS: Es findet aktuell eine extrem aggressive antimuslimische Kampagne statt. Gehetzt wird gegen Ausländer, Muslime und Flüchtlinge. Wie kriegst du das mit?
Udi Raz: Das ist sehr traurig. Aber die Antisemitismus-Vorwürfe gegen muslimische Menschen als solche sind auch ein Beweis dafür, dass es eigentlich gar nicht um Antisemitismus geht. Es geht hier um einen Versuch, muslimische Menschen zu diffamieren.
WSWS: Vielen Dank für dieses Gespräch.