Am Montag verständigte sich der Kulturausschuss des Berliner Abgeordnetenhauses auf die Einführung einer Klausel, die die Kunstfreiheit faktisch abschafft und einen großen Schritt in Richtung einer Gleichschaltung der Kultur darstellt. Unter dem Vorwand des Kampfs gegen „Extremismus“, „Terrorismus“, „Diskriminierung“ und „Antisemitismus“ soll jeder mundtot gemacht werden, der die deutsche Kriegspolitik oder die Verbrechen Israels kritisiert. Kulturschaffende werden unter Generalverdacht gestellt.
In Förderbescheiden des Kultursenats wird künftig eine sogenannte „Antidiskriminierungsklausel“ enthalten sein, die die Zuwendungsempfänger verpflichtet, „alles Notwendige zu veranlassen, um sicherzustellen, dass die gewährten staatlichen Fördergelder keinen Vereinigungen zugutekommen, die als extremistisch und/oder terroristisch eingestuft werden“. Grundlage dafür seien die „Terrorliste“ der Europäischen Union (EU) und die „Verfassungsschutzberichte“ des deutschen Inlandsgeheimdiensts, erklärte Kultursenator Joe Chialo (CDU).
Insbesondere richtet sich die Klausel gegen jegliche Inhalte, die als „antisemitisch“ gemäß der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) bezichtigt werden. Durch ihre „Verankerung in den Förderrichtlinien“ und eine „Selbsterklärungspflicht für Antragstellende“, so der Kultursenator, solle eine weitere „Sensibilisierung“ von Einrichtungen und Kulturschaffenden erfolgen. Die Definition der IHRA ist wissenschaftlich unhaltbar und wird von hunderten Wissenschaftlern und Historikern auf der ganzen Welt kritisiert.
Gegen die Einführung der Klausel protestierten am Montag hunderte Demonstranten vor dem Berliner Abgeordnetenhaus. Ein offener Brief von Kulturschaffenden, der innerhalb weniger Tage über 4000 Mal unterzeichnet wurde, hatte gewarnt:
„Der Entzug finanzieller Förderung und öffentlicher Plattformen wird aktuell als Druckmittel eingesetzt, um kritische Positionen zur Politik der israelischen Regierung und zum Kriegsgeschehen in Gaza aus dem öffentlichen Diskurs auszuschließen. Die geplante Klausel erleichtert es Verwaltung und Politik, dieses Druckmittel zum Einsatz zu bringen und den Raum für notwendige Diskurse einzuengen.“
Gulya, die mit zwei Freunden an der Demonstration teilnahm, sagte gegenüber der WSWS: „Ich bin Künstlerin und auf öffentliche Mittel angewiesen. Ich bin entsetzt, dass man versucht, uns zum Schweigen zu bringen, wenn wir für etwas eintreten, das uns wichtig ist. Ich habe Angst, dass Deutschland sich in eine rechtsradikale Richtung entwickelt. Und ich bin wütend auf die deutsche Linke. Medien wie die taz greifen uns an und unterstützen Israel. Sie sind alle Teil des Problems.“
Als Kultursenator Joe Chialo das Mikrofon ergriff, um die Protestierenden zu verurteilen und seine Zensuroffensive zu verteidigen, wurde er von den Teilnehmern ausgebuht, woraufhin er das Podium rasch wieder verließ und ins Abgeordnetenhaus eilte.
Während der anschließenden Sitzung des Berliner Kulturausschusses machten Vertreter aller Parteien deutlich, dass sie Chialos Frontalangriff auf die Kultur voll und ganz unterstützen. Den Anfang machte Melanie Kühnemann-Grunow (SPD), die ihrem Koalitionspartner beipflichtete und Kulturschaffenden unverhüllt drohte: „Wir haben ein dröhnendes Schweigen nach dem 7. Oktober im Kunst- und Kulturraum wahrgenommen.“ Anschließend forderte sie, dass sich die Intervention des Senats „auch im künstlerischen Output“ widerspiegeln solle. Offener kann man den Anspruch auf eine gleichgeschaltete Kunst gar nicht formulieren.
Daniel Wesener (Grüne) brüstete sich damit, dass die vorangegangene Koalition aus SPD, Linkspartei und Grünen wesentliche Bestandteile von Chialos Initiative bereits umgesetzt habe: „Die Klausel ist bereits in Kraft. Die Selbsterklärung ist bereits Bestandteil von Förderanträgen.“ Er habe dem Kultursenator jedoch einen mehrseitigen Fragenkatalog „zur Umsetzung“ übermittelt, um dem Senator zu helfen, nicht „in Konflikt mit verfassungsrechtlichen Fragen zu geraten“.
Martin Trefzer von der rechtsextremen AfD bedankte sich ebenfalls bei Chialo für dessen Initiative, lobte den Fragenkatalog der Grünen-Fraktion und fasste den Standpunkt des Ausschusses zusammen: „Wir müssen auf den israelbezogenen Antisemitismus reagieren, wie wir ihn nach dem 7. Oktober erlebt haben.“ AfD und Grüne waren sich einig, dass es nun darum gehen müsse, die Klausel „rechtssicher auszugestalten“.
Auch Elke Breitenbach (Linkspartei) kritisierte lediglich das Verfahren, nicht aber den Inhalt der Klausel. Diese hätte in Absprache mit den Spitzen der Kultureinrichtungen und Kirchen implementiert werden müssen, die sich der Zensur und Kriegspropaganda der Bundesregierung in den Wochen zuvor auf breiter Front angeschlossen hatten. „Wir hätten es anders gemacht“, erklärte Breitenbach.
In Wirklichkeit knüpft Chialos Vorstoß nahtlos an die Politik der Linkspartei und ihrer früheren Koalitionspartner an. So heißt es im „Berliner Landeskonzept zur Antisemitismusprävention“, das der damalige rot-rot-grüne Senat 2019 beschlossen hatte: „Die Arbeitsdefinition Antisemitismus der Internationalen Allianz für Holocaust-Gedenken in ihrer durch die Bundesregierung erweiterten Form bildet die Grundlage des Berliner Verwaltungshandelns zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus.“
Den „Kampf gegen Antisemitismus“ zu einer Waffe gegen Kritiker der mörderischen Politik Israels umzudeuten, stellt ein Beispiel für einen politischen Prozess dar, den David North in seinem Vortrag an der Humboldt-Universität am 14. Dezember 2023 als „semantische Umkehrung“ bezeichnete. Unter der Führung rechtsextremer Kräfte wird dabei das Gedenken an den Holocaust für die Legitimierung neuer Verbrechen missbraucht und werden Kriegsgegner – insbesondere Sozialisten und jüdisch-israelische Oppositionelle – kriminalisiert. Die kollektive Assoziierung der jüdischen Bevölkerung mit den Verbrechen der israelischen Regierung, die in diesem Zuge vorgenommen wird, trägt dabei selbst einen zutiefst antisemitischen Charakter.
Es geht um nichts Geringeres als die Zerstörung der Kunstfreiheit. Der Wortlaut der Klausel impliziert, dass Antragsteller keine Personen einladen, beschäftigen oder sprechen lassen dürfen, deren Perspektiven nicht mit den Interessen des Innenministeriums, des Auswärtigen Amts oder der Europäischen Kommission übereinstimmen. Wer Antikriegsveranstaltungen organisiert, kritischen Werken Raum oder Kriegsgegnern eine Bühne gibt, muss jederzeit mit der Streichung sämtlicher Mittel rechnen, auf die unabhängige Kunst zwingend angewiesen ist. Die gewünschte Folge ist staatliche Zensur und vorauseilende Selbstzensur.
Am deutlichsten zeigen dies derzeit die Versuche des Berliner Senats, das Neuköllner Kulturzentrum Oyoun zu liquidieren, nachdem dort Veranstaltungen der „Jüdischen Stimme für gerechten Frieden in Nahost“ und der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) gegen das Massaker in Gaza stattgefunden hatten. Mit Unterstützung sämtlicher Parteien des Abgeordnetenhauses hatte der Senat Ende November beschlossen, die Förderung des renommierten Kulturzentrums entgegen bestehender Zusagen zu stoppen und die Liegenschaft anderweitig zu vermieten. Mehreren Beschäftigten des migrantischen Zentrums droht seitdem die Abschiebung.
Die SGP hatte in einem massenhaft verbreiteten Statement vor den weitreichenden Implikationen gewarnt, die das Vorgehen des Senats gegen das Kulturzentrum Oyoun hat: „Wer die Kriegspolitik der Regierung kritisiert, muss mit willkürlichen Festnahmen, Hausdurchsuchungen und geheimdienstlicher Überwachung rechnen. Demonstrationen gegen das Massaker in Gaza werden reihenweise verboten, die Forderung nach gleichen Rechten für Palästinenser kriminalisiert und muslimische Personen unter Generalverdacht gestellt.“
Die Arbeiterklasse ist mit einer Phalanx der gesamten herrschenden Klasse konfrontiert, die alle Stimmen mundtot machen wollen, die der Kriegspolitik der Regierung entgegenstehen. Kultursenator Chialo verwies am Mittwoch auf eine ähnliche Klausel, die bereits in Schleswig-Holstein verabschiedet wurde und sagte drohend voraus: „Alle Bundesländer und der Bund werden nachziehen.“ Die bayrische Regierungspartei CSU forderte am Wochenende in einer Klausurtagung, Kritiker Israels wegen „Antisemitismus“ mit „mindestens sechs Monaten Haft“ zu bestrafen und Ausländer, die an einer „feindseligen, antisemitischen Menschenmenge“ teilnehmen, zu deportieren.
„Die Säuberungsaktionen in der Kunst- und Kulturwelt sind dabei schon weit fortgeschritten“, warnt das SGP-Statement weiter. „Jede Einrichtung, die die Politik der Regierung kritisiert, muss von nun an fürchten, jedwede Arbeitsgrundlage zu verlieren.“
Diese Entwicklung darf nicht hingenommen werden. Wir rufen alle Künstler, Studierenden und Arbeiter auf, gegen die Einführung der Zensurklausel zu protestieren und am Montag am Streik gegen den Genozid im Gaza-Streifen teilzunehmen. Die wachsenden sozialen Kämpfe der Arbeiterklasse müssen mit der immensen Opposition gegen den Krieg verbunden werden – und sie brauchen eine internationale und sozialistische Orientierung und Perspektive. Unterschreibt deshalb noch heute für die Wahlteilnahme der SGP bei den Europawahlen, die genau dafür kämpft und auf dieser Grundlage auch die Kunstfreiheit verteidigt.
Mehr lesen
- Video: Verteidigt das Kulturzentrum Oyoun! Keine Gleichschaltung der Kunst!
- Verteidigt das Kulturzentrum Oyoun! Nein zur Zensur von Kriegsgegnern!
- Saarbrücken, Essen, Bochum: Neue Antisemitismusvorwürfe im Kulturbereich
- Regierung und Medien drohen der Documenta mit dem Aus
- documenta 15: Eine spannende und begeisternde Ausstellung unter dem Vorwurf des Antisemitismus