Ein Jahr seit dem Erdbeben in der Türkei und Syrien – Teil 3

Letzter Teil einer dreiteiligen Serie. Teil 1 wurde am 5. Februar 2024 und Teil 2 am 6. Februar 2024 veröffentlicht.

Die Kommunalwahlen am 31. März und die drohende Katastrophe in Istanbul

Angesichts der Kommunalwahlen Ende März machen die Kandidaten der bürgerlichen Parteien in der Türkei einmal mehr Versprechen, von denen im Voraus bekannt ist, dass sie nicht erfüllt werden. Diesmal werden Istanbul und die Marmara-Region im Mittelpunkt der Wahlen stehen, in der 18,49 Prozent der türkischen Bevölkerung leben und in der laut Wissenschaftlern die Wahrscheinlichkeit eines schweren Erdbebens sehr hoch ist.

Experten des deutschen GeoForschungsZentrums (GFZ) haben in ihren wissenschaftlichen Untersuchungen zur tektonischen Struktur der Türkei die Möglichkeit eines Erdbebens der Stärke 7,4 im Marmara-Meer aufgezeigt. Laut dem türkischen Professor Naci Görür, einem der renommiertesten Erdbebenforscher des Landes, besteht in Istanbul jederzeit ein 47-prozentiges Erdbebenrisiko. Er erklärte: „Das ist fast so, als würde man eine Münze werfen.“

Istanbul vom Çamlıca-Hügel auf der asiatischen Seite des Bosporus aus gesehen [Photo by Alexxx Malev / CC BY-SA 3.0]

In einem anderen Interview beschrieb er die Gefahren, in denen Millionen von Arbeitern in Istanbul leben, folgendermaßen: „Eine einfache Rechnung: Es gibt 1,6 Millionen Gebäude. Wenn man die Zahl der tödlichen Fälle in Istanbul auf ein Prozent reduziert, bedeutet das 16.000 Gebäude. Nehmen wir an, jedes Gebäude hat vier Stockwerke, dann wären es 64.000 Stockwerke. Wenn wir von zwei Wohnungen pro Stockwerk ausgehen, sind das 128.000 Wohnungen. Bei vier Personen in jeder Wohnung, sind das dann mehr als 400.000 [Tote]?“

Im Jahr 2021 erklärte Mahir Polat, ein hochrangiger Beamter der Stadtverwaltung von Istanbul, bei einem zu erwartenden Erdbeben würden schätzungsweise 200.000 Gebäude in Istanbul mäßig oder schwer beschädigt werden. Das bedeutet, dass etwa drei Millionen Menschen betroffen wären.

Wohnhäuser im Istanbuler Stadtteil Balat [Photo by Jwslubbock / CC BY-SA 4.0]

Das wiederum heißt, dass sich etwa 16 Millionen Menschen in Istanbul und 24 Millionen in der Marmara-Region noch immer in großer Gefahr befinden. Es gibt jedoch keine offiziellen Vorbereitungen, um eine noch viel größere Katastrophe zu verhindern. Dieses immense Maß an Verachtung herrscht in der gesamten Elite der Türkei gegenüber der gefährdeten arbeitenden Bevölkerung vor, obwohl erst vor einem Jahr in der Türkei und Syrien nach offiziellen Schätzungen 60.000 Menschen in viel weniger dicht besiedelten städtischen Gebieten starben.

Unter diesen Bedingungen wurde Murat Kurum als Kandidat von Erdoğans AKP für den Stadtrat in Istanbul ausgewählt. Kurum war von 2018 bis 2023 Minister für Umweltschutz, Städteplanung und Klimawandel. Durch seine Tätigkeit trägt er nicht nur die politische Mitverantwortung für die Gebäude, die beim Erdbeben im Februar 2023 eingestürzt sind, sondern auch dafür, dass die Städte und Wohngebiete in der gesamten Türkei anfällig für weitere Katastrophen sind.

Murat Kurum zu Besuch bei der Europäischen Kommission am 16. September 2021 [Photo by Lukasz Kobus, European Commission]

Kurum war zwischen 2009 und 2018 Geschäftsführer der Emlak Konut GYO A.Ş., einer Tochtergesellschaft der staatlichen Wohnungsbauverwaltung (TOKİ), bevor er Minister wurde. Zu Beginn seines Wahlkampfs versprach er eine „erdbebenorientierte urbane Umgestaltung“. Doch während dieser Zeit hat er in vielen Städten, vor allem in Istanbul, Deponien, Küstenstriche, Flussbetten, Agrarland und Militärgebiete, in denen zuvor eine Bebauung verboten war, zur Erschließung durch die TOKİ freigegeben und eine intensive Bautätigkeit in diesen Gebieten begonnen.

Ein Großteil der Hochhäuser, die in der Amtszeit der AKP im erdbebengefährdeten Istanbul errichtet wurden, stammen aus Murat Kurums Zeit als Geschäftsführer der Emlak Konut GYO A.Ş. Dass einer der Verantwortlichen für diese Hochhäuser und die „vertikale Architektur“ jetzt „horizontale Architektur“ mit niedrigen Gebäuden verteidigt, kann nur mit der neuen politischen Rolle erklärt werden, die ihm verliehen wurde.

Zudem verlängerte Kurum als Minister eine Amnestie für Bebauungen, die am 6. Juni 2018 durch die Unterschrift von Präsident Recep Tayyip Erdoğan in Kraft trat. Viele der Gebäude, die bei dem Erdbeben vom 6. Februar einstürzten und zum Tod von tausenden Menschen führten, hatten von dieser Amnestie profitiert.

Erdbebenschäden in der türkischen Provinz Hatay im Dezember 2023 / Januar 2024

Die „urbane Umgestaltung“, die der derzeitige Istanbuler Bürgermeister und CHP-Kandidat, Ekrem İmamoğlu, vier Jahre lang umgesetzt hat, wurde als Hilfsmittel gegen Erdbeben dargestellt. Allerdings wurden, genau wie zuvor unter der AKP-Stadtverwaltung, nur sehr wenige Gebäude umgebaut. Sie diente außerdem dazu, Bewohner aus der Arbeiterklasse aus dem Stadtzentrum zu verdrängen und Luxuswohnungen für die Reichen zu bauen, womit riesige Profite erzielt wurden.

In İmamoğlus Amtszeit als Bürgermeister wurden lediglich Landuntersuchungen, Gebäudescans und statistische Studien über Erdbeben durchgeführt und fast keine echte Umgestaltung vorgenommen. Die Stadtverwaltung verfügt zwar über ein Bauunternehmen namens KİPTAŞ, das sichere Häuser zu erschwinglichen Preisen bauen kann, weigert sich aber, dies zu tun, und leitet die Anträge auf Stadtumgestaltung an Bauunternehmen weiter. Diese wiederum verlangen überhöhte Preise für den Bau der Häuser, die sich die Kunden in den meisten Fällen nicht leisten können. İmamoğlu stellt diese Politik als „öffentliche Dienstleistung“ dar.

Laut der Stadtverwaltung von Istanbul wurden 800.000 der 1,2 Millionen Gebäude in der Stadt nach den Bau- und Erdbebenvorschriften der Zeit vor 2000 gebaut. Laut Schätzungen würden bei einem schweren Erdbeben 200.000 davon schwer beschädigt oder zerstört werden. Diese Gebäude beherbergen insgesamt 1,3 Millionen Haushalte und etwa drei Millionen Menschen.

In der Türkei lebt ein Großteil der Bevölkerung unter der ständigen Bedrohung von Zerstörungen durch ein Erdbeben, darunter mehr als 24 Millionen Menschen in der Marmara-Region, zu der auch Istanbul gehört. Ein Jahr nach der Katastrophe vom Februar 2023 wurde noch nichts Konkretes unternommen, um die Sicherheit dieser riesigen Menge an Einwohnern zu gewährleisten.

Erdbebenschäden in der türkischen Provinz Hatay im Dezember 2023 / Januar 2024

Die Hindernisse sind nicht natürlicher, sondern gesellschaftlicher Art. Eine Katastrophe in der Marmara-Region wäre, ebenso wie das Erdbeben in Maraş, letztendlich eine Katastrophe, die durch das kapitalistische System verursacht wird, das vom gesamten politischen Establishment verteidigt wird, einschließlich der pseudolinken Gruppen, die sich bei den Kommunalwahlen 2019 und den Präsidentschaftswahlen 2023 hinter die CHP gestellt haben.

Um Istanbul und viele andere von Naturkatastrophen bedrohte Städte der Welt auf der Grundlage wissenschaftlicher Planung und mit einem Höchstmaß an Robustheit und Lebensqualität neu aufzubauen, und allen Menschen das Grundrecht auf eine sichere Unterkunft zu ermöglichen, muss ein großes öffentliches Bauprogramm umgesetzt werden. Dies erfordert jedoch einen bewussten politischen Kampf für die internationale Arbeitermacht gegen alle Fraktionen der herrschenden Klasse und das kapitalistische System, das sie verteidigen. Es erfordert den Kampf für den internationalen Sozialismus auf der Grundlage globaler Planung der Wirtschaft, die sich an den Bedürfnissen der Gesellschaft und nicht am Profit orientiert. Das Erdbeben in der Türkei und Syrien im Jahr 2023 und die darauf folgende Untätigkeit haben diese Perspektive auf bittere Weise bestätigt.

Loading