Zehntausende gedachten am vergangenen Wochenende des neunfachen Anschlags von Hanau vor vier Jahren. Am Samstag demonstrierten etwa acht- bis zehntausend Menschen vom Vorort Kesselstadt nach Hanau, von Tatort zu Tatort. Auch in Berlin, Kassel und anderswo gingen Menschen zum Gedenken an Hanau auf die Straße.
Am 19. Februar 2020 hatte der 43-jährige Rassist Tobias Rathjen neun junge Menschen aus seiner Nachbarschaft wahllos erschossen, ehe er seine Mutter und sich selbst tötete. „Say their names“ – unter diesem Schlagwort wird seither das Gedenken an Kaloyan Velkov, Fatih Saraçoğlu, Sedat Gürbüz, Vili Viorel Păun, Gökhan Gültekin, Mercedes Kierpacz, Ferhat Unvar, Hamza Kurtović und Said Nesar Hashemi wachgehalten.
Am Montag versammelten sich Angehörige, Überlebende und Freunde am Hanauer Hauptfriedhof, um der Ermordeten zu gedenken. Während dieser Zeremonie kam es zu einem offenen Konflikt, als Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) darauf bestand, zusammen mit weiteren SPD-Politikern auf dem Friedhof aufzutreten und vor der Presse zu sprechen. Mit weinerlichem Unterton gelobte sie dort, alles zu tun, um den Rechtsextremismus „hart zu bekämpfen“.
Faesers bodenlose Heuchelei war offensichtlich unerwünscht. Armin Kurtovic, Vater des ermordeten Hamza Kurtovic, wehrte sich gegen die politische Vereinnahmung, die er als „verlogen und unmoralisch“ bezeichnete. Wütend sagte er dem Lokalfernsehen hessenschau: „Die sollen erst die Verantwortung übernehmen und danach kommen.“
Im Namen der Angehörigen erklärte Kurtovic: „Bei jedem Jahrestag sind viele Kameras da, da entstehen ganz falsche Bilder. Die Politiker an der Seite der Angehörigen – das ist ein falsches Bild. Wir mussten alles allein aufklären. Alles was rausgekommen ist, haben wir allein herausgefunden.“ Er fasste zusammen: „Alle sagen: ‚Hanau nie wieder‘, aber wenn aus dem Geschehen keine Konsequenzen gezogen werden, wird es wieder passieren.“
Bis heute ist das offensichtliche staatliche Versagen am 19. Februar 2020 und danach nicht aufgeklärt. Kein Politiker, Polizeipräsident oder Bundesstaatsanwalt hat die Verantwortung für die Kette von „Fehlern“ übernommen, die die entsetzlichen Morde erst möglich machte. Keiner hat sich bei den Hinterbliebenen entschuldigt. Hier einige der wichtigen, bis heute ungeklärten Fragen:
- Warum war der Polizeinotruf 110 in der kritischen Zeit der Morde nicht erreichbar? Der Kurierfahrer Vili Viorel Păun, der dem Täter folgte, versuchte mehrfach vergeblich, den Notruf zu erreichen, ehe der Mörder ihn selbst erschoss.
- Wieso war die versperrte Fluchttür am letzten Tatort lange Zeit kein Thema der Untersuchung? Sie ging vermutlich auf eine Forderung der Polizei zurück, die hier oftmals Razzien veranstaltet hatte. Für die Arena-Bar, den letzten Tatort, wurde nicht einmal ein richtiger Tatortbericht erstellt.
- Warum wurden die Opfer obduziert, ohne dass ihre Familien dies erfuhren und sich dazu äußern konnten? Kurtovics Sohn Hamza wurde einer Obduktion unterzogen, noch während die Familie ihn verzweifelt suchte. Angeblich sei kein „Widerspruchsberechtigter“ bekannt gewesen, so die Behörden, die das Aussehen dieses blonden Jungen im Bericht als „orientalisch-südländisch“ bezeichneten.
- Warum verfügte der Täter, ein behördenbekannter psychopathischer Rassist, legal über mehrere Waffen? Wie kann es sein, dass Tobias Rathjen ein gründliches Schießtraining absolvieren durfte, obwohl den Behörden mehrere Schreiben von ihm vorlagen, die ihn klar in die Nähe des rechtsterroristischen, muslimfeindlichen Massenmörders Breivik rückten?
Rathjens Vater Hans-Gerd war offenbar der Kumpan und Vertraute des Mörders. Bis heute lebt Rathjen Senior unbehelligt in Hanau-Kesselstadt und pflegt die Nachbarn und ihre Kinder mit seinem Schäferhund einzuschüchtern und rassistisch zu bedrohen. Er hatte 2011 auf der Liste der Grünen für den Ortsbeirat der Stadt Hanau kandidiert. Wiederholt bezog sich Vater Rathjen auf Thilo Sarrazin (SPD) und sein Buch „Deutschland schafft sich ab“.
Dieser Vater des Mörders ist eine tickende Zeitbombe. Aber das eigentlich Gefährliche besteht darin, dass Rechtsextremisten wie Rathjen seit Jahren Rückendeckung in den staatlichen Behörden genießen. In der Tatnacht war eine Einheit des Spezialeinsatzkommandos (SEK) der Frankfurter Polizei in Hanau im Einsatz, die später, im Juni 2021, wegen rechtsextremer Betätigung aufgelöst werden musste.
Trotz alledem gilt die Mordnacht von Hanau als Tat eines „Einzelgängers“, wie alle rechtsextremen Morde davor und danach, sei es in Mölln, in Rostock-Lichtenhagen, in Dessau, Köln, Duisburg, München, Dortmund, Celle, Kleve, Kassel oder Halle.
„So viele rechtsextreme Einzelfälle“, lautete ein Slogan auf der Demonstration am Samstag, die unter dem Motto „Erinnern heißt Verändern“ stand. Was in den Medien kaum erwähnt wurde, war die Tatsache, dass auf der Demonstration Plakate mit den Namen aller Opfer mitgetragen wurden, nicht nur der Opfer von Hanau, sondern von allen rechtsextremen Morden der letzten Jahre – eine riesige Zahl. Manche wandelten das Motto ab in: „Erinnern heißt kämpfen“ oder: „Kein Vergeben, Kein Vergessen“. Als ein Sprecher auf dem Hanauer Markt erklärte, Rassismus sei in allen etablierten Parteien zuhause, quittierte die Menge dies mit tosendem Beifall.
Trotz alledem drängte Faeser sich zwei Tage später gegen den Willen der Angehörigen in das Gedenken auf dem Friedhof. „In diesen Tagen“, sagte die Innenministerin dort, „wo andere versuchen, Menschen politisch wieder auszugrenzen, aus dem Land zu bringen, zu deportieren – solche Fantasien gibt es ja leider dieser Tage. Und umso wichtiger ist es gerade jetzt, das Gedenken wach zu halten und den Angehörigen zur Seite zu stehen, aber vor allen Dingen, den Rechtsterrorismus und Extremismus hart zu bekämpfen.“
In Wirklichkeit ist es Faeser selbst, die „Menschen politisch ausgrenzt und aus dem Land schafft“. Erst vor kurzem hat der Bundestag das „Rückführungsverbesserungsgesetz“ verabschiedet, das sie als Innenministerin auf den Weg brachte. Bundeskanzler Olaf Scholz, wie Faeser Mitglied der SPD, hat unlängst auf einem Spiegel-Cover gefordert: „Wir müssen endlich im großen Stil abschieben“.
Die SPD und alle anderen etablierten Parteien setzen das migrantenfeindliche Programm der AfD in die Tat um und hofieren die rechtsextreme Partei, die Faeser in Hanau noch nicht einmal namentlich erwähnte. Sie decken die rechtsextremen Netzwerke in Polizei, Verfassungsschutz und Bundeswehr und verhindern, dass die Hintergründe von Terroranschlägen wie in Hanau, Halle oder der NSU-Morde aufgeklärt werden.
Nancy Faeser hat als hessische SPD-Vorsitzende auch den Koalitionsvertrag der CDU/SPD-Landesregierung in Wiesbaden ausgehandelt, eine „Kriegserklärung an Geflüchtete“, wie die WSWS schrieb. Der Vertrag strotzt nur so vor AfD-Kampfbegriffen wie „Rückführungsoffensive“, „irreguläre Migration“, „Schutz der Außengrenzen“ und „Ausweitung der Abschiebehaft“.
Faeser steht für Abschiebungen, staatliche Aufrüstung, mehr Geld für die Polizei sowie auch für Waffenlieferungen aus Hessen und ganz Deutschland an die Ukraine und an Israel. Die herrschende Elite setzt einmal mehr auf autoritäre Methoden und Polizeistaat, um ihre Politik des Kriegs und der sozialen Angriffe durchzusetzen.
Was Faeser antrieb, in Hanau ihre Krokodilstränen zu vergießen, war die Sorge vor dem wachsenden Widerstand in der Bevölkerung. Seit Wochen gehen Hunderttausende gegen die AfD, gegen Faschismus und Rechtsextremismus auf die Straße. Weltweit demonstrieren Millionen gegen den blutigen Genozid Israels in Gaza und gegen die imperialistische Kriegspolitik, während die Arbeiter in den Betrieben den Kampf gegen Massenentlassungen und Lohnraub aufnehmen.
In Hanau beteiligten sich Tausende an dem Gedenkmarsch, um ein Zeichen gegen Faschismus und Krieg zu setzen. Mitglieder der Sozialistischen Gleichheitspartei und Unterstützer der World Socialist Web Site verteilten den Aufruf des Aktionskomitees Bahn: „Stoppt die Militärtransporte! Keine Waffen für den Krieg in der Ukraine und den Völkermord in Gaza!“, und viele reagierten darauf sehr positiv.
Spontan erklärte Alfredo, ein älterer Hanauer Arbeiter, auf eine solche Initiative habe er gehofft. „Frieden ist möglich“, sagte er. „Keiner will Krieg – für was soll er gut sein? Krieg ist für die Bevölkerung völlig nutzlos, nur der Kapitalismus profitiert davon. Sie werden unsre Söhne in den Krieg schicken.“
Alfredo sagte: „Ich höre seit Monaten, seit dem Kriegsbeginn, keine Nachrichten mehr, weil ich mich sonst zu sehr aufrege. Unser Bundeskanzler freut sich, eine Waffenfabrik zu eröffnen, und präsentiert der Kamera stolz eine Handgranate. Da kriege ich Gänsehaut, wenn ich sowas sehe. Ich muss an die Bilder im Zweiten Weltkrieg denken, wo in Berlin kaum einen Stein auf dem andern blieb. Unsre Großeltern haben den letzten Krieg noch miterlebt und stark darunter gelitten. In meiner Familie gab es viele Tote.“
Ein junger Angestellter, der mit seiner Frau drei Stunden weit gefahren war, um in Hanau dabei zu sein, erklärte, er wolle „Position beziehen und ein Signal setzen gegen Rassismus, Faschismus und jegliche Form von Diskriminierung“. Er sagte der WSWS: „Unsere Politiker gehen in die falsche Richtung: Diese Leute sind keine Volksvertreter im Interesse der Gemeinschaft mehr, denn ihnen ist eine einträgliche Lobbyarbeit wichtiger.“