Seit Wochen findet in Medien und Politik eine Kampagne gegen kritische Studierende und Kriegsgegner an den Universitäten statt. Eine neue Stufe erreichte diese Kampagne am Montag, als die Berliner Wissenschaftssenatorin Ina Czyborra (SPD) ankündigte, der Senat werde das Hochschulgesetz verschärfen, um „die Möglichkeit zur Exmatrikulation von Studenten für bestimmte Fälle“ wieder einzuführen. Man wolle „wirkungsvolle Maßnahmen kurzfristig auf den Weg bringen“, so Czyborra. Anlass ist ein mutmaßlicher gewaltsamer Übergriff eines Studenten der Freien Universität (FU) auf einen zionistischen Aktivisten und FU-Studenten Anfang des Monats.
Als Vorbild für die Gesetzesänderung des Senats soll laut Tagesspiegel das Hochschulgesetz von Nordrhein-Westfalen dienen. Darin ist die Möglichkeit der „Exmatrikulation als Ordnungsmaßnahme“ im Falle „einer vorsätzlich begangenen Straftat an einem Hochschulmitglied“ enthalten. Senatorin Czyborra kündigte an, noch vor der Osterpause im Senat eine Änderung des Hochschulgesetzes zu beschließen. Darüber hinaus sei eine „Vielfalt von Maßnahmen“ nötig, um „Sicherheit auf dem Campus“ herzustellen und „jüdische Studierende und Mitarbeiter vor Hass zu schützen“.
Es handelt sich um einen gezielten Versuch, einen noch nicht juristisch geklärten Fall für eine rechte und autoritäre Kampagne zu instrumentalisieren. Medienberichten zufolge war der 30 Jahre alte jüdische FU-Student Lahav Shapira „mit Knochenbrüchen im Gesicht ins Krankenhaus gekommen“, nachdem ein 23-jähriger propalästinensischer Kommilitone ihn am 2. Februar auf einer Straße im Ausgehviertel in Berlin-Mitte geschlagen und getreten haben soll. Die Staatsanwaltschaft geht von einem „gezielten Angriff“ und einem „antisemitischen Hintergrund“ aus.
Doch trotz umfangreicher Medienberichte und einer eigens eingerichteten „Besonderen Aufbauorganisation“ der Ermittlungsbehörden sind die Informationen zum genauen Tathergang bislang ungenau und zum Teil widersprüchlich. So spricht der Polizeibericht von einem „Streit“, der sich zunächst zwischen den beiden Personen entwickelt habe, während die Begleiterin des Geschädigten angibt, dass „keine Diskussion“ vorangegangen sei. Der mutmaßliche Täter und der Geschädigte waren einander bekannt. Der Geschädigte gab einem israelischen Medium noch im Krankenhaus ein Videointerview, ohne jedoch seine Verletzungen zu zeigen.
Zum Kontext des Vorfalls gehört auch, dass der Geschädigte als zionistischer Provokateur bekannt ist. Videos belegen, wie Shapira eine pro-palästinensische Hörsaalbesetzung im Dezember an der FU zu stören versucht, wobei er studentische Antikriegsplakate abreißt und tätlich gegen politische Gegner vorgeht. Die Sichtweise des Beschuldigten ist hingegen noch unbekannt, da dessen Anwalt erklärte, man werde vor einer Äußerung die „umfangreichen polizeilichen Ermittlungen“ abwarten.
Dessen ungeachtet haben sich Politik und Medien längst auf den Fall gestürzt. An einer Kundgebung mit dem Titel „Fridays for Israel“, zu der CDU-nahe Studierendenorganisationen vor der Freien Universität aufgerufen hatten, nahm neben der Berliner CDU-Generalsekretärin Ottilie Klein und dem Präsidenten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft Volker Beck auch die Grünen-Bundesvorsitzende Ricarda Lang teil, und beschuldigte ausgerechnet die gleichzeitig stattfindende Palästina-Demonstration, „Schuldumkehr“ zu betreiben. Während der Regierende Bürgermeister von Berlin Kai Wegner (CDU) die Universitätsleitungen aufrief, „konsequent gegen Antisemitismus vorzugehen und aktiv einzugreifen“, kündigte Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) an, die „rechtlichen Mittel“ der Hochschulen „nachschärfen“ zu wollen.
Im Raum steht nun, dass die Senatsparteien den Universitäten auch die „rechtlichen Mittel“ zur Verfügung stellen, um Studierende auf politischer Grundlage zu exmatrikulieren. CDU-Hochschulpolitiker Adrian Grasse drohte gegenüber der Boulevardpresse: „Wir werden dafür sorgen, dass die Hochschulen wieder zur Ruhe kommen. Dafür werden wir den Hochschulleitungen zusätzliche Instrumente wie die Exmatrikulation an die Hand geben. Hier ist Eile geboten!“
Trotz taktischer Differenzen sind sich alle Parteien über diesen Kurs einig. So erklärte Marcel Hopp, wissenschaftspolitischer Sprecher der SPD-Fraktion, von bisherigen Vorschlägen wie jenen der AfD und der CDU „noch nicht überzeugt“ zu sein, da politische Exmatrikulation „verfassungsrechtlich gar nicht ohne“ sei und die gemeinsame Ausgestaltung „rechtlich haltbar und praktikabel“ sein müsse.
Tobias Schulze, wissenschaftspolitischer Sprecher der Linkspartei, verlangte ein „scharfes Schwert“ für die Universitätsleitungen und bemängelte gegenüber dem Tagesspiegel, dass der Täter je nach Gesetzentwurf „erst einmal rechtskräftig verurteilt“ werden müsse, was „erwartungsgemäß viel Zeit in Anspruch nehme“. Zielführender sei es, die Höchstdauer von Hausverboten zu verlängern, die von Hochschulleitungen bereits jetzt ohne Gerichtsurteil ausgesprochen werden können: „Wir müssen die Hochschulen befähigen, da einzugreifen.“ Die Leitung der FU hatte ihrerseits ohne strafrechtliche Klärung umgehend ein dreimonatiges Hausverbot gegen den beschuldigten FU-Studenten ausgesprochen.
Die parteiübergreifende Offensive hat mit einer Prävention von Gewalt auf oder jenseits des Campus nicht das Geringste zu tun. Im Kontext der gegenwärtigen Kriegspolitik zielt sie stattdessen unverkennbar darauf ab, die Errungenschaften der Klassenkämpfe und der studentischen Massenbewegung von 1968 zu beseitigen und die Universitäten wie vor dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gleichzuschalten. Die Propaganda, dass dies geschehe, um „jüdische Studierende zu schützen“, ist politisch abstoßend und stellt die Wirklichkeit auf den Kopf.
Wie der RefRat (gesetzlich AStA) der Humboldt-Universität in einer Stellungnahme korrekt feststellt, wird der „notwendige Schutz jüdischer Studierender vor Antisemitismus“ als „Vorwand für das Durchsetzen repressiver und autoritärer Politiken“ missbraucht: „Dies wird insbesondere von den politischen Kräften vorangetrieben, die seit Jahren dem Rechtsruck und der Salonfähigkeit antisemitischer und rassistischer Ideologien Vorschub leisten.“ Die „Zwangsexmatrikulation als Ordnungsmaßnahme“, so die Studierendenvertretung weiter, sei ein „Machtinstrument“, das die Position aller Studierenden schwäche und ein „fundamental politisches Mittel“ sei, um „studentische Politisierung der Hochschulen und Protest an selbigen gezielt zu unterbinden“.
Tatsächlich werden jüdische Studierende von Universitätsleitungen, Polizei und rechten Gruppen seit Monaten drangsaliert und von den Medien verleumdet. Sie teilen dieses Schicksal mit allen, die gegen die völkermörderische Kriegspolitik des israelischen Regimes protestieren. So wurden in diesem Monat mehrere bekannte antizionistische Aktivisten – darunter die „Jüdische-Stimme“-Angehörigen Udi Raz und Rachael Shapiro, sowie andere – vorübergehend festgenommen, nachdem sie an friedlichen Kundgebungen gesprochen hatten.
An der Potsdamer Universität wurde Studierenden, die im Januar eine Versammlung gegen das Massaker in Gaza durchführen wollten, eine Räumlichkeit dafür verweigert und sogar untersagt, Plakate aufzuhängen oder auch nur Flugblätter auf dem Campus zu verteilen.
Jegliche Proteste gegen die israelische Kriegspolitik, die von der Bundesregierung politisch und militärisch unterstützt wird, werden in Konzernmedien wie Welt, aber auch in öffentlich-rechtlichen Medien wie ARD und ZDF als „antisemitisch“ und „judenfeindlich“ verleumdet und mit Gewalt in Verbindung gebracht. „Judenfeindlich“ ist demnach jeder, der die rechtsradikale Ideologie der israelischen Regierung ablehnt und nicht bereit ist, den Genozid an einer unterdrückten Volksgruppe als „Selbstverteidigung“ zu verherrlichen.
Regierungsnahe „Studierendenorganisationen“ wie RCDS (CDU) und Jüdische Studierendenunion (JSUD) werden dagegen in denselben Medien unkritisch promotet, obwohl sie ein Regime unterstützen, dessen Massaker bereits zehntausende Menschen getötet haben.
Die Gewalt, die muslimische und arabische Arbeiter und Studierende erfahren, wird derweil von den Medien weitgehend ausgeblendet und von der Politik ignoriert. Nach einem Brandanschlag auf den größten Seminarraum des Instituts für Islamische Theologie an der HU im November verwüsteten Unbekannte zu Beginn dieses Monats an der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft den „Raum der Stille“, der auch als muslimischer Gebetsraum verwendet wurde.
Professoren können unterdessen mit voller Rückendeckung der Universitätsleitung Kriegspropaganda und Hetze verbreiten. So forderte der Potsdamer Militärhistoriker Sönke Neitzel in der Talkshow „Markus Lanz“ im Oktober „europäische Flugzeugträger“, um Israels Kriegshandlungen zu unterstützen. Sein HU-Kollege Ruud Koopmans, der für seine islamophobe und flüchtlingsfeindliche Agitation berüchtigt ist, bezeichnete muslimische Gebetsrufe im Oktober als „100% äquivalent“ zum „‚Sieg heil!‘ der Nazis“. HU-Professor Jörg Baberowski, der in seiner Verharmlosung des Nationalsozialismus noch deutlich weiter geht als Koopmans, wurde inzwischen zum Geschäftsführenden Direktor des Instituts für Geschichte ernannt, obwohl er im Jahr 2020 einen studentischen Abgeordneten während des Wahlkampfs zum Studierendenparlament tätlich angegriffen hatte.
Weil sich gegen diese Propaganda unter Studierenden der Widerstand entwickelt, sollen nun der Staatsapparat gestärkt und die Universitätsleitungen in Stellung gebracht werden, um gegen missliebige Studierende vorzugehen. Das darf nicht zugelassen werden. Die International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) rufen alle auf, den rechten Vorstoß des Berliner Senats zurückzuweisen, die demokratischen Rechte zu verteidigen und die weitverbreitete Opposition unter Studierenden mit den wachsenden Kämpfen der Arbeiterklasse und dem Kampf gegen Krieg und Faschismus zu verbinden.