Am Mittwochnachmittag, dem 15. Mai, wurden mehrere Schüsse auf den slowakischen Ministerpräsident Robert Fico abgegeben. Das Attentat ereignete sich in der Stadt Handlova, als der Ministerpräsident gerade von einer Kabinettssitzung kam.
Umgeben von Sicherheitskräften hatte Fico sich angeschickt, die Hände mehrerer Anhänger zu schütteln, die auf dem Platz vor seiner Sitzung auf ihn gewartet hatten. Plötzlich gab eine Person aus nächster Nähe mehrere Schüsse aus einer Handfeuerwaffe, einer Pistole oder einem kurzläufigen Gewehr, auf ihn ab. Per Hubschrauber wurde Fico in ein Krankenhaus im 30 km entfernten Banska Bystrica geflogen. Nach einer dreistündigen Operation galt Ficos Zustand zunächst als stabil, doch später hieß es, er schwebe weiterhin in Lebensgefahr.
Am Tatort nahmen Ficos Sicherheitsleute einen Mann fest, den die slowakischen Medien als Juraj Chintula identifizierten, einen 71-jährigen ehemaligen Schriftsteller, der als Sicherheitsmann und Taxifahrer gearbeitet hatte. Am Donnerstag erhob die slowakische Polizei Anklage gegen Chintula wegen vorsätzlichen versuchten Mordes, worauf eine Haftstrafe von 25 Jahren bis lebenslänglich steht.
Bei den Schüssen auf Fico handelt es sich um ein politisch motiviertes Attentat. Obwohl es widersprüchliche Berichte über Chintulas politische Haltung gibt, steht der Mordversuch im Zusammenhang mit den tiefen politischen und klassenspezifischen Spannungen in der Slowakei und in ganz Osteuropa, die der Nato-Krieg in der benachbarten Ukraine angeheizt hat. Fico hatte den Nato-Krieg gegen Russland, der in der Slowakei sehr unpopulär ist, zwar kritisiert, aber gleichzeitig die Sozialausgaben gekürzt, um das slowakische Militär aufzurüsten.
Derzeit gibt es keine Hinweise darauf, dass hinter dem Attentat eine größere Organisation oder Verschwörung stecken könnte, obwohl diese Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann. Berichten zufolge, besaß Chintula legal eine Handfeuerwaffe, da er als Wachmann arbeitete. Er hatte einen unsteten politischen Werdegang, den man als im Wesentlichen sehr rechts bezeichnen muss. Er hatte früher Gewalt kritisiert und war in letzter Zeit als Sympathisant der liberalen, Nato-freundlichen Oppositionspartei Progressive Slowakei (PS) aufgetreten.
Die slowakische Tageszeitung Pravda, die früher dem stalinistischen Flügel nahestand, stellte auf ihrer Webseite ein Video ein, das auch in den sozialen Medien publiziert worden war. Darauf ist Chintula offenbar bei einem Polizeiverhör zu sehen. Entsprechend der Positionen der PS kritisiert er darauf die Fico-Regierung und deren autoritäre Umstrukturierung der Gerichte und der staatlichen Medien. Allerdings sind Chintulas Ansichten über den Nato-Russland-Krieg in der Ukraine bisher wenig bekannt.
„Ich bin mit der Politik der Regierung nicht einverstanden“, sagt Chintula dort und fügt hinzu: „Warum wird das [slowakische Radio und Fernsehen] RTVS angegriffen? Warum ist Richter Mazak [der ehemalige Präsident des slowakischen Richterrates] entlassen worden?“
Chintula hatte Berichten zufolge den Literaturclub „Duha“ (Regenbogen) gegründet, Gedichte und Romane veröffentlicht und war im Jahr 2015 dem slowakischen Schriftstellerverband (SSS) beigetreten. Wie es heißt, zieht Chintula in seinem 2015 erschienenen Roman „Efata“ in rechtsextremer Manier über die slowakische Roma-Minderheit her und greift den slowakischen Staat an, weil er angeblichen tolerieren würde, dass die Roma die Sozialhilfe ausplünderten.
Gestern gab die SSS eine Erklärung ab, in der sie das versuchte Attentat auf Fico verurteilte: „Wir möchten unsere Empörung über einen solch brutalen Akt zum Ausdruck bringen, der in der Geschichte der Slowakei keine Parallele hat.“
Im Jahr 2016 gründete Chintula paradoxerweise eine kleine Partei mit Namen „Hnutie proti nasiliu“ (Bewegung gegen Gewalt). Er rief dazu auf, „unzufrieden, aber nicht gewalttätig“ zu sein, und griff Ficos Partei SMER–Slowakische Sozialdemokratie an, weil sie Werte und Moral nicht verbessern würde: „Was macht der Staat, die Partei, die sich als sozial bezeichnet? Nichts! Der Staat löst das Problem der Bettelei nicht per Gesetz.“
Nach ersten Berichten des ungarischen Enthüllungsjournalisten Szabolcs Panyi hatte Chintula sich im Jahr 2016 mit der prorussischen Miliz „Slovenski Branci“ (Slowakische Soldaten) getroffen. Dies führte zu mehreren Berichten in den europäischen Medien, dass Chintula Russland im Krieg unterstütze. Viele dieser Berichte sind inzwischen jedoch gelöscht worden, und die slowakische Tageszeitung Dennik N berichtet, dass Chintula die Slovenski Branci nur getroffen habe, um sie von Gewalt abzubringen.
In den sozialen Medien gab es zahlreiche Berichte, wonach Chintula in letzter Zeit mit der Nato-freundlichen PS sympathisiert habe. Am Mittwoch sah sich der PS-Vorsitzende Michal Simecka gezwungen, eine Erklärung abzugeben, in der er bestritt, dass Chintula PS-Mitglied sei: „Wir bestreiten eindeutig, dass er Mitglied unserer Bewegung ist. Es gibt keine Verbindung zwischen ihm und unserer Partei oder ihren Mitgliedern. Wir verurteilen seine abscheuliche Aktion aufs Schärfste.“
Unabhängig von Chintulas genauen politischen Ansichten ist das explosive politische Klima, in dem er gehandelt hat, das Ergebnis von zwei Jahren Nato-Russland-Krieg in der Ukraine. Premier Fico kritisierte den Krieg und rief zu Friedensgesprächen auf, wobei er versuchte, sich dem Widerstand in der Bevölkerung gegen den Krieg anzupassen, während er gleichzeitig den Initiativen der Nato und der EU nachkam, das rechtsextreme ukrainische Regime zu finanzieren und zu bewaffnen. Die PS griff Fico an, indem sie eine aggressivere Führung des Nato-Krieges verlangte und Fico wegen angeblicher Verbindungen zur Mafia kritisierte. Sie prangerte auch Ficos Angriffe auf die staatlichen Medien und die Gerichte an.
Nach den slowakischen Parlamentswahlen im vergangenen Jahr und den Präsidentschaftswahlen im April dieses Jahres erhöhten sich die Spannungen. Beide Wahlen konnten Fico und seine ex-stalinistischen oder rechtsextremen nationalistischen Verbündeten für sich entscheiden. Sowohl die Fico-Regierung als auch die liberale Opposition reagierten auf die Schüsse auf Fico mit einem gemeinsamen Appell zur Besonnenheit.
Die Slowakei befinde sich „am Rande eines Bürgerkriegs“, sagte der slowakische Innenminister Matus Sutaj-Estok nach den Schüssen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Verteidigungsminister Robert Kalinak. Er fügte hinzu: „In den sozialen Netzwerken werden derart hasserfüllte Kommentare geäußert – also bitte, lassen Sie uns das sofort beenden.“
Am Donnerstag hielten die scheidende slowakische Präsidentin Zuzana Caputova (PS) und der neue Präsident Peter Pellegrini, ein Fico-Verbündeter, eine gemeinsame Pressekonferenz ab und riefen zur Ruhe auf. Caputova kritisierte einen „Teufelskreis des Hasses“ und bezeichnete das Attentat als „Angriff auf das demokratische Establishment“. Sie sagte, sie wolle „in dieser angespannten Situation ein Zeichen setzen“. Sie rief die politischen Führer der Slowakei auf, „die Situation zu beruhigen und Gewalt zurückzuweisen“.
Pelligrini forderte alle politischen Parteien in der Slowakei auf: „Lasst uns den Europawahlkampf vorübergehend aussetzen oder stark einschränken.“ Die Slowakei müsse jetzt „weitere Konfrontationen vermeiden“.
Die Schüsse auf Fico sind zweifellos reaktionär. Aber die Aufrufe von SMER und PS zur Ruhe sind nicht weniger bankrott als Chintulas frühere moralische Ausbrüche gegen Gewalt. Pelligrini hatte die Präsidentschaftswahlen als Verbündeter Ficos mit dem Versprechen gewonnen, die Slowakei nicht in den Ukraine-Krieg hineinziehen zu lassen. Die Slowakei wird jedoch immer tiefer in den Krieg mit Russland hineingezogen. Es ist die zwangsläufige Folge dessen, dass die Slowakei und die meisten anderen osteuropäischen Staaten in den 1990er oder 2000er Jahren der Nato und der EU beigetreten sind, das heißt Organisationen, die heute den imperialistischen Krieg gegen Russland in der Ukraine führen.
Der einzige fortschrittliche Weg, den es in der Slowakei und in ganz Europa gibt, ist der Aufbau einer internationalen, sozialistischen Antikriegsbewegung. Diese muss sich auf den trotzkistischen Widerstand gegen die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus stützen.
Die Restauration des Kapitalismus durch die stalinistischen Regime in Osteuropa im Jahr 1989 hat zu einer Katastrophe geführt, und die stalinistische Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 hat sie noch verschärft. Die imperialistischen Nato-Mächte haben die ehemaligen Sowjetrepubliken gegeneinander ausgespielt und schließlich die Ukraine für einen blutigen und katastrophalen Krieg gegen Russland hochgerüstet. Sie haben auch in ganz Osteuropa ein brutales kapitalistisches Spardiktat durchgesetzt. In der Slowakei sollen die Staatsausgaben um 30 Prozent gekürzt werden, um die Verteidigungsausgaben zu finanzieren, während die Inflation explodiert und die Arbeiterklasse verarmt.
Ficos Karriere ist ein anschauliches Beispiel. Einst ein Stalinist, hat er 1999 seine sozialdemokratische Partei SMER gegründet. Fico schürte mit nationalistischer Rhetorik immer wieder den Hass gegen Einwanderer und schloss wiederholt Bündnisse mit rechtsextremen Kräften wie der Slowakischen Nationalpartei (SNS), die derzeit neben Pelligrinis Partei „Hlas“ (Stimme) Teil von Ficos Regierung bildet.
Zwar wird Fico in den europäischen Medien gelegentlich noch immer als „linker“ Präsident bezeichnet, aber sein unermüdliches Eintreten für den slowakischen Nationalismus hat die reaktionären faschistischen Vorurteile geschürt und so die politischen Voraussetzungen für den Mordanschlag auf ihn geschaffen.