Nato-Chef Rutte:

Europa soll Sozialausgaben zusammenstreichen, um Krieg zu finanzieren

Nato-Generalsekretär Mark Rutte hielt am Montag, den 9. Juni eine Rede bei der führenden außenpolitischen Denkfabrik Großbritanniens, Chatham House. Darin forderte er von den europäischen imperialistischen Mächten eine deutliche Aufrüstung für einen Krieg gegen Russland.

In der anschließenden Fragerunde wollte die Telegraph-Redakteurin Danielle Sheridan wissen, ob der Schatzkanzler die Steuern erhöhen sollte, „um die Ihrer Meinung nach erforderlichen Verteidigungsausgaben zu decken“.

Nato-Generalsekretär Mark Rutte bei seiner Rede im Chatham House [Photo by Nato/Flickr / CC BY-NC-ND 2.0]

Rutte antwortete unverblümt: „Es liegt natürlich nicht an mir zu entscheiden, wie die Länder ihre Rechnung bezahlen“, aber „wenn man das nicht tut, wenn man nicht auf die 5 Prozent gehen würde, einschließlich der 3,5 Prozent Kernverteidigungsausgaben, könnte man zwar immer noch den National Health Service (NHS) haben, oder andere Ländern ihre Gesundheitssysteme, ein Rentensystem und so weiter, aber dann sollten Sie besser Russisch lernen“.

Der Haushalt des NHS England beläuft sich für 2024/2025 auf 192 Milliarden Pfund. Die Renten machen etwa 55 Prozent aller Sozialversicherungsausgaben aus und werden im Zeitraum 2025 bis 2026 knapp 175 Milliarden Pfund betragen. Um den Krieg zu finanzieren, werden sie jetzt als Luxus angesehen, den Premierminister Starmer wie andere Regierungen auch abschaffen will.

Rutte traf sich in London mit Starmer, dessen Labour-Regierung letzte Woche ihren strategischen Verteidigungsbericht (Strategic Defence Review, SDR) veröffentlicht hatte. Gemeinsam mit Verteidigungsminister John Healey besuchte Rutte die wichtige Waffenfabrik Sheffield Forgemasters, die Komponenten für Atom-U-Boote herstellt und dem Militärbündnis AUKUS (Australien, Großbritannien USA) Rüstungsverträge im Wert von 200 Millionen Pfund verdankt.

Rutte nutzte seine Rede bei Chatham House und eine darauf folgende Fragerunde, um die massive Erhöhung der Militärausgaben zu skizzieren, die beim Nato-Gipfel in Den Haag am 24. und 25. Juni angekündigt werden soll. Rutte fordert auf Drängen der Trump-Regierung, dass die Mindestausgaben fürs Militär als Bedingung für die Nato-Mitgliedschaft von 2 Prozent des BIP auf 5 Prozent angehoben werden. Dies setzt sich zusammen aus 3,5 Prozent reinen Militärausgaben und 1,5 Prozent an „Investitionen im Zusammenhang mit Verteidigung und Sicherheit, wozu die Infrastruktur und der Aufbau von industrieller Kapazität“ zählen.

Die größte militärische Aufrüstung seit 1945 wurde vom Großteil der Nato-Mächte letzte Woche bei einem Gipfeltreffen der Verteidigungsminister bewilligt, allerdings weigerten sich vor allem Großbritannien und Spanien, konkrete Fristen zuzusagen.

Für die meisten Nato-Staaten, einschließlich Großbritanniens, wird dies eine Verdoppelung der derzeitigen Militärausgaben innerhalb der nächsten zehn Jahre bedeuten. Es wird Angriffe auf den Lebensstandard der Arbeiterklasse erfordern, wie es sie zuletzt in den 1930er Jahren gab. Die Starmer-Regierung gibt derzeit 2,3 Prozent des BIP für das Militär aus und hat sich ungeachtet der neuen Verteidigungsstrategie formell nur dazu verpflichtet, bis 2027-2028 die Verteidigungsausgaben auf 2,7 Prozent und im Verlauf der nächsten Legislaturperiode (die 2034 endet) auf 3 Prozent zu erhöhen.

Da Großbritannien neben Frankreich die einzige Atommacht in Europa ist, spielt Starmers Verpflichtung zur Erhöhung der Militärausgaben eine wichtige Rolle. Bei der Fragerunde sagte Rutte zu seinen Diskussionen mit dem britischen Regierungschef lediglich, es gebe unter den Nato-Mächten „nahezu vollständigen“ Konsens über den 5-Prozent-Vorschlag. Zuvor hatte er erklärt: „Bei dem Gipfeltreffen in Den Haag rechne ich damit, dass die Regierungschefs der Verbündeten zustimmen werden, 5 Prozent ihres BIP für Verteidigung auszugeben. Es wird eine Nato-weite Verpflichtung geben. Und es wird ein prägender Moment für die Nato sein.“

Rutte lobte Starmers Verteidigungsstrategie: „Sie wird die britischen Streitkräfte stärken und modernisieren und die kollektive Verteidigungsfähigkeit der Nato stärken. Und ich begrüße es, dass die britische Regierung in Zukunft beträchtlich mehr für Verteidigung ausgeben wird.“

Der bevorstehende Gipfel werde zu einer „besseren Nato“ führen, die „stärker, gerechter und tödlicher ist. Damit wir weiterhin unsere Bevölkerung schützen und unsere Gegner in Schach halten können. Wegen Russland ist der Krieg nach Europa zurückgekehrt.“

Außerdem sei die Nato mit „heftiger globaler Konkurrenz“ konfrontiert, da sich Russland „mit China, Nordkorea und dem Iran zusammengetan hat. Sie bauen ihre Streitkräfte und ihre Fähigkeiten weiter aus.“

Rutte erklärte: „Fünf Prozent ist keine aus der Luft gegriffene Zahl, sondern beruht auf harten Fakten. Tatsache ist, dass wir einen Quantensprung bei unserer kollektiven Verteidigung benötigen. Tatsache ist, dass wir mehr Soldaten und Kapazitäten haben müssen, um unsere Verteidigungspläne vollständig umsetzen zu können.“

Russland müsse „bekämpft und besiegt werden“, da die „Gefahr auch dann nicht verschwinden wird, wenn der Krieg in der Ukraine aufhört. Unsere Entscheidungen zu Verteidigungsausgaben beruhen auf den Schlachtplänen und Kapazitätszielen der Nato.“

Jedes Land müsse auf Kriegskurs kommen, da „Russland innerhalb von fünf Jahren dazu bereit sein könnte, mit militärischen Mitteln gegen die Nato vorzugehen“. Er wiederholte eine der großen Lügen dieses Jahrzehnts und verurteilte „Russlands unprovozierten Krieg gegen die Ukraine“. Die Nato-Erweiterung an Russlands Grenzen, die den Überfall auf die Ukraine im Jahr 2022 hervorrief, erwähnte er nicht.

Um Russland zu besiegen, so Rutte weiter, sei eine Aufrüstung erforderlich, „deren genaue Details vertraulich sind“, allerdings mindestens eine „400-prozentige Erhöhung der Luft- und Raketenabwehrkapazitäten“ sowie „Tausende gepanzerte Fahrzeuge und Panzer zusätzlich“ und „Millionen von Artilleriegeschossen“. Die Nato-Mächte müssten auch „in weitere Kriegsschiffe und Flugzeuge investieren... Um nur ein Beispiel zu nennen: Amerikas Verbündete werden insgesamt mindestens 700 F-35-Kampfflugzeuge beschaffen müssen.“ Diese werden von dem US-Rüstungskonzern Lockheed Martin hergestellt und kosten zwischen 82,5 Millionen und 109 Millionen Dollar.

Der Konflikt mit Russland erfordere eine umfassende Bereitschaft der ganzen Gesellschaft. Rutte lobte Norwegen und die neuen Nato-Mitglieder Finnland und Schweden dafür, „was sie getan haben, damit die ganze Gesellschaft versteht, welche Rolle sie spielen wird, entweder aktiv oder indem sie dem Militär nicht im Weg sein wird, wenn der Krieg ausbricht...“

Eine der wichtigsten Schlussfolgerungen aus Ruttes Auftritt bei Chatham House ist, dass die herrschende Klasse ihre Angriffe auf die Arbeiterklasse sofort verschärfen muss, um Aufrüstung und Krieg finanzieren zu können.

Bronwen Maddox, Direktorin und Geschäftsführerin von Chatham House, fragte Rutte: „Wie würden Sie den Leuten, die jetzt eine demokratische Regierung führen, erklären, wie sie ihren Wählern vermitteln sollen, warum plötzlich so viel Geld für die Verteidigung benötigt wird?“

Rutte antwortete, die Vorstellung, dass „wir nach dem Fall der Berliner Mauer irgendwie angenehm und friedlich mit den Russen zusammenleben könnten, ist Vergangenheit“.

Da sich Putin auf „totalem Kriegskurs“ befinde, müsse die Nato das Gleiche und noch mehr tun: „Die Gesamtwirtschaft der Nato ist 25-mal größer als die von Russland. Ihre Wirtschaftsleistung beträgt 50 Billionen Dollar, die Russlands zwei Billionen Dollar. Diese Volkswirtschaft von zwei Billionen Dollar produziert im Moment viermal so viel Munition wie die Nato.“

Er fügte hinzu: „Sie können jeden General fragen, und er wird Ihnen sagen, ja, Drohnen und KI und so weiter sind schön und gut, aber der Kern eines jeden Krieges fängt immer bei Munitionsvorräten an... Wir brauchen fünfmal so viele Systeme, um uns gegen Raketen zu verteidigen, und eine allgemeine Luftverteidigung, das ist eine Steigerung um 400 Prozent. Das sind enorme Investitionen. Wir haben einfach nicht genug manövrierfähige Landformationen. Das Vereinigte Königreich, Deutschland, ganz Europa, wir haben nicht genug. Unsere Kommando- und Kontrollzentren, unsere Langstreckenwaffen.“

Eine entsprechende Aufrüstung sei nur möglich, wenn die europäischen Nato-Mächte eine „Rüstungsindustriebasis“ aufbauen und ihre Staatskassen plündern. Starmers neue Verteidigungsstrategie sei ein Schritt in die richtige Richtung, aber „man muss weiterhin sicherstellen, dass man die klassischen wichtigen Dinge produzieren kann“.