85. Die fünf Jahre, die zwischen Trotzkis Aufruf für eine neue Internationale und ihrer Gründung im September 1938 lagen, dienten einem intensiven Klärungsprozess. Im Mittelpunkt stand dabei die Auseinandersetzung mit dem Zentrismus, der eine Art Mittelweg zwischen Stalinismus und Trotzkismus, zwischen reformistischer und revolutionärer Politik anstrebte. Die Vorgänge in Deutschland hatten die Perspektive friedlicher Entwicklung und demokratischer Reformen diskreditiert und einen Gärungsprozess in den Reihen der reformistischen und stalinistischen Parteien ausgelöst, den Trotzki zu beeinflussen suchte. „Der Reformismus macht den zahllosen Schattierungen des Zentrismus Platz, die heute in den meisten Ländern das Feld der Arbeiterbewegung beherrschen“, schrieb er. „Die neue Internationale wird sich hauptsächlich auf Kosten der heute vorherrschenden zentristischen Tendenzen und Organisationen entwickeln müssen. Zugleich kann sich die neue Internationale nicht anders herausbilden als im konsequenten Kampf gegen den Zentrismus. Ideologische Unversöhnlichkeit und geschmeidige Einheitsfrontpolitik sind unter diesen Bedingungen zwei Werkzeuge zur Erreichung ein und derselben Ziele.“ [46]
86. Im Artikel „Zentrismus und die Vierte Internationale“ arbeitete Trotzki die wichtigsten Merkmale des Zentrismus heraus: Er sei theoretisch formlos und eklektisch, fliehe möglichst theoretische Verpflichtungen und sei „(in Worten) geneigt, der ‚revolutionären Praxis‘ den Vorzug zu geben vor der Theorie, ohne zu begreifen, dass allein die marxistische Theorie der Praxis revolutionäre Richtung zu geben vermag“. Ideologisch führe der Zentrismus ein Schmarotzerleben. Er benutze die Argumente der Reformisten gegen den Marxismus und die Argumente der Marxisten gegen die Rechten, wobei er vor den praktischen Schlussfolgerungen ausweiche und der marxistischen Kritik die Spitze abbreche. Er stehe „dem revolutionären Prinzip: ‚Aussprechen was ist’, voll Widerwillen gegenüber“ und neige dazu, „die grundsätzliche Kritik mit persönlichem Kombinieren und kleinlicher Diplomatie zwischen Organisationen zu vertauschen“. Er bleibe in geistiger Abhängigkeit von den Gruppierungen der Rechten und verberge seine Halbheit „oft mit Hinweisen auf die Gefahr des ‚Sektierertums’, wobei er unter Sektierertum nicht abstrakt-propagandistische Passivität versteht, sondern die aktive Sorge um prinzipielle Sauberkeit und Klarheit der Einstellung, um politische Folgerichtigkeit und organisatorische Geformtheit“. Er begreife nicht, „dass man in der heutigen Epoche die nationale revolutionäre Partei nur als Teil der internationalen Partei aufbauen kann“, und sei in der Wahl seiner internationalen Verbündeten „noch weniger wählerisch als im eigenen Lande“. Er schwöre auf die Einheitsfrontpolitik, „wobei er sie des revolutionären Inhalts beraubt und aus einer taktischen Methode zum obersten Grundsatz macht“. Und er nehme „gern Zuflucht zu pathetischem Moralisieren, um seine ideologische Hohlheit zu verdecken“, ohne zu verstehen, „dass die revolutionäre Moral nur auf dem Boden der revolutionären Doktrin und der revolutionären Politik entstehen kann“. [47]
87. In der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAP) fanden sich all diese Merkmale wieder. Die SAP war im Herbst 1931 als linke Abspaltung der SPD entstanden und hatte sich zu einem Sammelbecken für unterschiedliche Strömungen entwickelt, die in der SPD und KPD keinen Platz fanden – linke Sozialdemokraten, ehemalige Führer der USPD (darunter Georg Ledebour), Restbestände der KAPD, Überläufer aus dem Leninbund und der KPD-Opposition (Brandlerianer) und radikale Pazifisten. Für die Massen sei der „Zentrismus bloß Übergang von einer Etappe zur anderen“, schrieb Trotzki, für einzelne Politiker sei er dagegen zur zweiten Natur geworden. Er charakterisierte die Spitze der SAP als „Gruppe verzweifelter sozialdemokratischer Beamter, Advokaten, Journalisten.“ Ein verzweifelter Sozialdemokrat sei aber noch kein Revolutionär. [48]
88. Die SAP hatte kein eigenes politisches Programm. Sie stützte sich nicht auf ein gemeinsames Verständnis großer historischer Ereignisse, deren Lehren ihren Kadern in Fleisch und Blut übergegangen waren. Die Stelle des Programms nahm die Einheitsfrontpolitik ein, die sie aus einer Taktik in eine Strategie verwandelte. Statt für eine durchdachte revolutionäre Perspektive trat sie für Einheit um jeden Preis ein, was unweigerlich zur Anpassung an die Sozialdemokratie führte. Charakteristisch war ihr Vorwurf, die KPD spalte mit dem Aufbau der Revolutionären Gewerkschaftsopposition (RGO) die Gewerkschaften. Trotzki, der die RGO-Politik ebenfalls ablehnte, antwortete: „Es handelt sich keineswegs darum, dass die KPD die Reihen des Proletariats ‚spaltet‘ und die sozialdemokratischen Verbände ‚schwächt’. Das sind keine revolutionären Kriterien, denn unter der heutigen Leitung dienen die Verbände nicht den Arbeitern, sondern den Kapitalisten. Das Verbrechen der KPD liegt nicht darin, dass sie Leiparts Organisation [den ADGB] ‚schwächt’, sondern darin, dass sie sich selbst schwächt. Die Teilnahme der Kommunisten an den reaktionären Verbänden ist nicht durch ein abstraktes Einheitsprinzip diktiert, sondern von der Notwendigkeit des Kampfs um die Säuberung der Organisationen von den Agenten des Kapitals. Bei der SAP tritt dieses aktive, revolutionäre, offensive Element zurück vor dem nackten Prinzip der Einheit von Verbänden, die durch Agenten des Kapitals geführt werden.“ [49]
89. Unter den Schlägen des Nationalsozialismus bewegte sich die SAP vorübergehend nach links. Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld, zwei linke Sozialdemokraten, wurden an der Parteispitze durch Jacob Walcher und Paul Frölich abgelöst, zwei Gründungsmitglieder der KPD, die aus der von Brandler geführten KPD-Opposition kamen. Im August 1933 rief die SAP gemeinsam mit der Internationalen Linken Opposition und zwei holländischen Parteien zum Aufbau der Vierten Internationale auf. Die Unterzeichner der „Erklärung der Vier“ erklärten kategorisch, „dass die neue Internationale keinerlei Versöhnlertum gegenüber Reformismus und Zentrismus dulden kann. Die notwendige Einheit der Arbeiterbewegung kann nicht durch eine Verwischung der revolutionären und der reformistischen Auffassungen oder durch eine Anpassung an die stalinistische Politik erreicht werden, sondern nur, wenn die Politik der beiden bankrotten Internationalen überwunden wird. Soll die neue Internationale auf der Höhe ihrer Aufgaben stehen, darf sie in der Frage des Aufstands, der proletarischen Diktatur, der Sowjetform des Staates usw. keinerlei Abweichung von den revolutionären Grundsätzen zulassen.“ [50]
90. Doch in der Praxis sabotierte die SAP den Aufbau der Vierten Internationale von Anfang an. Als die stalinistischen Parteien zur Volksfrontpolitik übergingen, rückte sie offen davon ab. Unter dem Titel „Trotzkismus oder revolutionäre Realpolitik“ erklärte die SAP nun, die Gründung der Internationale liege noch nicht im Bereich des Möglichen. Die Vorhut könne die Entwicklungsetappen des proletarischen Bewusstseins nicht überspringen. „Es wäre unsinnig, zu glauben, die Massen würden spontan eines Tages – wenn nicht heute dann morgen – die Richtigkeit dieser Prinzipien erkennen und sich um sie scharen.“ Die zur Internationale notwendige Homogenität könne sich erst aus der gemeinsamen Erfahrung ergeben. Jedes „abstrakte Schwören auf angelernte Prinzipien oder eine Führergestalt“ ergebe „nur ein lächerliches Zerrbild einer wirklichen Übereinstimmung“. Die theoretische Basis der neuen Internationale bestehe nicht aus einigen schon jetzt fertig vorhandenen Formeln, sondern müsse sich erst im Verlauf ihrer Entstehung bilden. In Ländern mit entwickeltem Proletariat bilde „sich die Avantgarde nicht durch die Verkündung noch so ‚richtiger’, aber abstrakter Prinzipien, sondern durch die dauernde Teilnahme an den konkreten Tageskämpfen des Proletariats.“ [51]
91. „Trotzkismus oder revolutionäre Realpolitik“ war die Antwort der SAP auf einen Offenen Brief, den Trotzki im Sommer 1935 an alle revolutionären Gruppen und Organisationen gerichtet hatte. Trotzki hatte darin betont, dass der Aufbau neuer Parteien und der neuen Internationale der Schlüssel zur Lösung aller anderen Aufgaben sei. Das Tempo und der Zeitpunkt einer neuen revolutionären Entwicklung hingen zwar vom allgemeinen Verlauf des Klassenkampfs ab. „Aber Marxisten sind keine Fatalisten. Sie bürden dem ‚historischen Prozess‘ nicht die Aufgaben auf, die der historische Prozess ihnen gestellt hat. Die Initiative einer bewussten Minderheit, ein wissenschaftliches Programm, mutige und unermüdliche Agitation im Namen klar formulierter Ziele, gnadenlose Kritik jeder Zweideutigkeit – dies sind einige der wichtigsten Faktoren für den Sieg des Proletariats. Ohne eine geschlossene und gestählte revolutionäre Partei ist eine sozialistische Revolution undenkbar.“ [52]
92. Zu den SAP-Mitgliedern, die Trotzki am heftigsten angriffen, gehörte Willy Brandt, der spätere deutsche Bundeskanzler und SPD-Vorsitzende. Der damals 22-jährige leitete die Zentrale des SAP-Jugendverbandes in Oslo und vertrat diesen im Internationalen Büro revolutionärer Jugendorganisationen. Brandt sorgte für den Ausschluss der Trotzkisten aus dem Internationalen Jugendbüro und verfasste Artikel, die dem Trotzkismus „schlimmstes Sektierertum“ vorwarfen. „Unserer Auffassung nach besteht der wesentliche Gegensatz – ein Gegensatz prinzipieller Natur – zwischen uns und den Trotzkisten in der Stellung zum Werdegang der proletarischen Partei und zum Verhältnis zwischen Partei und Klasse“, schrieb Brandt. „Für die Trotzkisten steht die Aufgabe der Schaffung einer ideologisch exakt ausgerichteten ‚Avantgarde‘ über die Arbeiterklasse. Vor uns steht die Pflicht, an der Schaffung wahrhaft kommunistischer proletarischer Massenorganisationen mitzuwirken, auf dem Boden der westeuropäischen Arbeiterbewegung, aus praktischem Leben und Tradition der arbeitenden Klasse unseres Landes heraus.“ [53]
93. Der „Boden der Arbeiterbewegung“, den Brandt meinte, war hochgradig stalinistisch und sozialdemokratisch verseucht. Brandt verteidigte die Volksfrontpolitik der Stalinisten und befürwortete eine Zusammenarbeit mit sozialdemokratischen Parteien. In Spanien, wo er 1937 als Kriegsberichterstatter hinreiste, kritisierte er die zentristische POUM von rechts. Ihre Fehler seien „zumeist ultralinker, sektiererischer Art“, behauptete er. Sie sei bei der Unterstützung der Volksfront nicht weit genug gegangen. „Nicht ‚gegen die Volksfront‘ durfte die Parole sein, sondern: ‚Über die Volksfront hinaus’.“ [54] Die Schule der SAP – und seine wütenden Attacken auf den Trotzkismus – bereiteten Brandt auf seine spätere Rolle vor. Als erster sozialdemokratischer Kanzler der Bundesrepublik gelang es ihm 1969, einen Großteil der rebellierenden Studenten in die bürgerliche Gesellschaft zu integrieren, während er linke Elemente mit dem Radikalenerlass strikt ausgrenzte.
94. Die verhängnisvollen Folgen des Zentrismus wurden schließlich am Verhalten der POUM im spanischen Bürgerkrieg deutlich. Die Partei von Andres Nin, die ebenso wie die SAP Mitglied des zentristischen Londoner Büros war, unterwarf sich in allen entscheidenden Fragen den Stalinisten und trat auf dem Höhepunkt der Revolution der Volksfrontregierung in Barcelona bei. Sie diente der Koalition aus Republikanern, Sozialisten, Stalinisten und Anarchisten, die die spanische Revolution zugrunde richteten, als linkes Feigenblatt und verbaute so den Arbeitern, die immer wieder gegen ihre alte Führung Sturm liefen, den Zugang zu einer revolutionären Perspektive. Den Verteidigern der POUM, die die spanische Niederlage auf die angebliche „Unreife“ der Massen zurückführten, antwortete Trotzki: „Die historische Verfälschung besteht darin, die Verantwortung für die spanische Niederlage den arbeitenden Massen aufzuladen und nicht den Parteien, die die revolutionäre Bewegung der Massen gelähmt oder einfach zerbrochen haben. Die Anwälte der POUM leugnen einfach die Verantwortung der Führer, um sich damit vor ihrer eigenen Verantwortung drücken zu können. Diese Philosophie der Ohnmacht, die versucht, Niederlagen als notwendige Glieder in der Kette überirdischer Entwicklungen hinzunehmen, ist total unfähig, Fragen nach solch konkreten Faktoren wie Programmen, Parteien, Persönlichkeiten, die die Organisatoren der Niederlagen waren, überhaupt aufzuwerfen, und weigert sich, dies zu tun. Diese Philosophie des Fatalismus und der Schwäche ist dem Marxismus als der Theorie der revolutionären Aktion diametral entgegengesetzt.“ [55]
Leo Trotzki, Der Zentrismus und die Vierte Internationale, in: ebd., S. 329
ebd., S. 330-331
Leo Trotzki, Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, in: Porträt des Nationalsozialismus, S. 131
ebd., S. 130
Die Erklärung der Vier, in: Leo Trotzki, Schriften 3.3, Köln 2001, S. 459
Trotzkismus oder revolutionäre Realpolitik : eine notwendige Auseinandersetzung, hrsg. von der Auslandszentrale der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands, Paris, ca. 1935
An open letter to all revolutionary proletarian organizations and groupings, in: Documents of the Fourth International, S. 74
In: Marxistische Tribüne, Diskussionsblätter für Arbeiterpolitik, hrsg. von der SAP, Paris 1935-37
Willy Brandt, Ein Jahr Krieg und Revolution in Spanien. Referat auf der Sitzung der erweiterten Parteileitung der SAP (1937), in: Neue Gesellschaft, Frankfurter Hefte 1/1987, S. 47-48
Leo Trotzki, Klasse, Partei und Führung. Warum wurde das spanische Proletariat besiegt?, in: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-39, Band 2, Frankfurt 1976, S. 346