Partei für Soziale Gleichheit
Historische Grundlagen der Sozialistischen Gleichheitspartei

Die konterrevolutionäre Rolle des Stalinismus nach Kriegsende

108. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte einen Aufschwung des Klassenkampfs. Antikapitalistische Stimmungen waren in ganz Europa weit verbreitet. In Deutschland lagen Städte und Fabriken in Trümmern. Die bürgerlichen Eliten in Wirtschaft, Staat und Politik waren tief in die Verbrechen des Nazi-Regimes verstrickt, das einen Aggressionskrieg mit 80 Millionen Toten und den größten planmäßigen Völkermord der Weltgeschichte zu verantworten hatte. Die herrschenden Klassen Italiens, Frankreichs und zahlreicher osteuropäischer Länder hatten sich durch ihre Zusammenarbeit mit den Nazis diskreditiert. Die Auffassung, die alte Gesellschaftsordnung habe versagt, war weit verbreitet. Der Zusammenhang zwischen Nazi-Verbrechen und Kapitalismus war derart offensichtlich, dass er sogar in konservativen Parteiprogrammen seinen Niederschlag fand. So bekannte sich das Ahlener Programm der CDU 1947 zur Vergesellschaftung der Bergwerke und zur Planung und Lenkung der Wirtschaft.

109. In dieser Situation spielten das Sowjetregime und sein Netzwerk stalinistischer Parteien die entscheidende Rolle dabei, die Arbeiterklasse von der Machtübernahme abzuhalten. Stalin fürchtete eine sozialistische Revolution in Europa, weil sie auch der sowjetischen Arbeiterklasse neues Vertrauen eingeflößt und sie zum Aufstand gegen sein despotisches Regime ermutigt hätte. Auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam verabredeten die Sowjetunion, die USA und Großbritannien die Aufteilung Europas. Deren wichtigste Aufgabe bestand darin, den Klassenkampf zu unterdrücken. In Osteuropa errichtete die Kremlbürokratie eine Reihe von ihr abhängiger „Pufferstaaten“ und übernahm selbst die Aufgabe, die Arbeiterklasse in Schach zu halten. In Westeuropa warfen die stalinistischen Parteien ihre gesamte politische Autorität in die Waagschale, um die bürgerliche Herrschaft zu bewahren. In Italien und Frankreich, wo sie an der Spitze bewaffneter Widerstandsbewegungen standen, traten sie den Nachkriegsregierungen Marschall Badoglios und General de Gaulles bei. In Italien erarbeitete KPI-Führer Palmiro Togliatti als Justizminister persönlich ein Gesetz, das die Faschisten amnestierte. In Griechenland, wo ein Bürgerkrieg tobte, verweigerte die Sowjetbürokratie den Aufständischen die dringend benötigte Hilfe und garantierte so den Sieg der Rechten.

110. In Deutschland hatten nur wenige Führungsmitglieder der einst größten Kommunistischen Partei außerhalb der Sowjetunion den Krieg überlebt. Die meisten waren nicht Hitler, sondern Stalin zum Opfer gefallen. Von den mehreren Zehntausend ausländischer Kommunisten, die Mitte der dreißiger Jahre in der Sowjetunion lebten, entging nach Angaben Leopold Treppers nur jeder Zehnte den stalinistischen Säuberungen. [62] Die bekanntesten Führer der KPD – darunter Heinz Neumann, Hermann Remmele und Hugo Eberlein, der Mitstreiter Rosa Luxemburgs und deutsche Delegierte auf dem ersten Kominternkongress – wurden in Moskau gefoltert, zum Tode verurteilt und erschossen. Ernst Thälmann blieb elf Jahre lang in den Kerkern der Nazis, obwohl Stalin 1939 im Rahmen des Hitler-Stalin-Pakts seine Befreiung hätte erwirken können, und wurde 1944 umgebracht. Wer überlebte, hatte sich Stalin untergeordnet oder seine eigenen Genossen denunziert. Solche Leute führten nun die KPD und (im Falle Herbert Wehners) auch die SPD.

111. Die KPD bekannte sich in ihrem Gründungsaufruf zur „völlig ungehinderten Entfaltung des freien Handels und der privaten Unternehmerinitiative auf der Grundlage des Privateigentums“. Die „Gruppe Ulbricht“, die mit der Roten Armee aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt war, um die Leitung der KPD zu übernehmen, löste spontan entstandene antifaschistische Komitees und Betriebsräte auf und ersetzte sie durch Verwaltungen, an denen auch bürgerliche Kräfte beteiligt wurden. „Die Auflösung der Antifaschistischen Komitees war nichts anderes als die Zertrümmerung erster Ansätze einer vielleicht machtvollen, selbständigen, antifaschistischen und sozialistischen Bewegung“, schrieb Wolfgang Leonhard, ein Mitglied der „Gruppe Ulbricht“ später. [63]

112. Der Verrat der Stalinisten verschaffte den USA die nötige Atempause, um im kriegszerstörten Westeuropa den Kapitalismus zu stabilisieren. Die USA verfolgten damit zwei Ziele: Die Beschränkung des Machtbereichs der Sowjetunion und die Eröffnung neuer Expansionsmöglichkeiten für das US-Kapital. Ein neues, auf den Dollar gestütztes internationales Währungssystem, der Import fortschrittlicher amerikanischer Produktionsmethoden und der Zufluss von Finanzmitteln aus dem Marshallplan setzten nach anfänglichen Krisenjahren einen starken Wirtschaftsaufschwung in Gang. Die Arbeiterklasse wurde durch einen deutlichen Anstieg des Lebensstandards und den Ausbau des Sozialstaats beschwichtigt. In der Bundesrepublik stiegen die Bruttolöhne zwischen 1950 und 1971 um das Fünffache, bei erheblicher Verkürzung der Arbeitszeit und verbesserten Leistungen der Renten – und Krankenkassen.

113. Die Verbrechen des Stalinismus in Verbindung mit der merklichen Verbesserung des Lebensstandards der Arbeiter verhalfen der Sozialdemokratie und den reformistischen Gewerkschaften zu neuem Einfluss. In Westdeutschland verlor die KPD – insbesondere nach der Niederschlagung des DDR-Aufstands vom 17. Juni 1953 – die Unterstützung, die sie anfangs noch besessen hatte. 1956 wurde sie verboten. Die SPD stieg wieder zur dominierenden Partei in der Arbeiterbewegung auf und rückte gleichzeitig programmatisch weiter nach rechts. Ihr erster Nachkriegsführer Kurt Schumacher „zog aus dem Untergang der Weimarer Republik drei Schlussfolgerungen: Die Sozialdemokraten durften erstens nie wieder Zweifel an ihrer nationalen Gesinnung aufkommen lassen; sie mussten zweitens die Mittelschichten für sich erobern und drittens einen klaren Trennungsstrich zu den von Moskau abhängigen deutschen Kommunisten ziehen.“ [64] 1959 verabschiedete sich die SPD in Bad Godesberg endgültig von jedem Bezug auf den Marxismus und die Arbeiterklasse. Von nun an bezeichnete sie sich (ebenso wie die CDU) als Volkspartei und nicht mehr als sozialistische Arbeiterpartei.

114. Die Neugründung der Gewerkschaften erfolgte nach dem Krieg unter strikter Kontrolle der Besatzungsmächte. Sie passten ihre Rhetorik zwar der radikalen Stimmung der Arbeiter an; so trat das Gründungsprogramm des DGB 1949 für die Sozialisierung der Schlüsselindustrien und Banken und für eine gesamtwirtschaftliche Planung ein. Doch in der Praxis beschränkten sie sich auf die Forderung nach Mitbestimmung, die sie zur institutionalisierten Klassenzusammenarbeit entwickelten. Die feste Einbindung der Gewerkschaftsbürokratie in die Leitung großer Konzerne, gesetzlich abgesichert durch Mitbestimmungs – und Betriebsrätegesetz, und ihre enge Zusammenarbeit mit dem Staat wurden zum festen Bestandteil des „Rheinischen Modells“, das auf „Betriebsfrieden“ und „Sozialpartnerschaft“ setzte, um die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie zu steigern. Organisierten die Gewerkschaften Arbeitskämpfe – wie den 16-wöchigen Metallerstreik in Schleswig-Holstein, der 1956/57 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchsetzte – achteten sie darauf, dass sie die Grundlagen des Kapitalismus in keiner Weise gefährdeten.

115. Im Osten Deutschlands hatte die sowjetische Besatzungsmacht ebenso wie im restlichen Osteuropa ursprünglich nicht beabsichtigt, das kapitalistische Privateigentum zu beseitigen. Sie tat dies lediglich in einigen Schlüsselbereichen. So wurde im Rahmen der Kampagne „Junkerland in Bauernhand“ bereits 1945 jeglicher Grundbesitz über 100 Hektar entschädigungslos enteignet und einer halben Million Landarbeitern, Umsiedlern und Kleinbauern übergeben. Diese Bodenreform, die äußerst populär war, entzog den ostelbischen Grundbesitzern die materielle Grundlage, die im Wilhelminischen Reich und der Weimarer Republik das Rückgrat der politischen Reaktion und des Militärapparats gebildet hatten. Ansonsten tastete der Kreml das bürgerliche Eigentum nicht systematisch an. Er beteiligte sogar bürgerliche Elemente an den Regierungen Osteuropas, um die Arbeiterklasse in Schach zu halten. Stalin wollte eine Kette von Pufferstaaten errichten, die militärisch und politisch von der Sowjetunion abhängig waren und sie gegen den Westen abschirmten, ohne dass sie das Gesellschaftsmodell der Sowjetunion übernahmen. Hinsichtlich Deutschlands spielte er sogar mit der Option eines gesamtdeutschen, bürgerlichen Staates, der keinem der beiden Machtblöcke angehören sollte.

116. Doch die Stabilisierung Westeuropas, der Beginn des Kalten Krieges und der damit verbundene wirtschaftliche, politische und militärische Druck durchkreuzten diese Pläne. Moskau geriet ab 1948 von zwei Seiten unter Druck. Die Arbeiterklasse rebellierte gegen die wachsende Arbeitshetze und die politische Unterdrückung, mit denen Stalins Statthalter in Osteuropa auf die wirtschaftliche Erstarkung des Westens reagierten. Und diese Statthalter orientierten sich zunehmend am Westen und strebten nach mehr Unabhängigkeit. Moskau reagierte, indem es die bürgerlichen Elemente aus den osteuropäischen Regierungen vertrieb, die Kommunistischen Parteien von „unzuverlässigen Elementen“ säuberte, zu umfangreichen Verstaatlichungen überging und Regierungen nach sowjetischem Vorbild errichtete. In diesem Zusammenhang wurde in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands am 7. Oktober 1949 die Deutsche Demokratische Republik gegründet.

117. Die Verstaatlichungen, zu denen es nun in ganz Osteuropa in großem Umfang kam, waren ein Zugeständnis an die Arbeiterklasse. Der Übergang von Industrie und Banken in Staatshand schuf die Voraussetzung für einen planmäßigen Einsatz der wirtschaftlichen Ressourcen und garantierte der Bevölkerung ein relativ hohes Maß an sozialer Sicherheit. Auf der Grundlage des verstaatlichten Eigentums wurden bis in die siebziger Jahre trotz der willkürlichen Methoden der Bürokratie beachtliche Fortschritte erzielt. So war die Rohstahlerzeugung in der DDR 1953 bereits doppelt so hoch wie vor dem Zweiten Weltkrieg, und 1969 produzierte die DDR mit 17 Millionen Einwohnern mehr Industriegüter als das Deutsche Reich 1936 mit 60 Millionen. Insgesamt wurde die industrielle Produktion zwischen 1950 und 1974 versiebenfacht, obwohl die DDR gegenüber der BRD wegen der umfangreichen Demontage von Industrieanlagen durch die Sowjetunion erheblich benachteiligt war und keinen Zugang zu Geldern aus dem Marshallfonds und zu modernen amerikanischen Produktionstechniken hatte.

118. Doch die Verstaatlichungsmaßnahmen gingen nicht mit einer politischen Stärkung der Arbeiterklasse einher. Im Gegenteil, die stalinistischen Machthaber verschärften die politische Unterdrückung und erhöhten den wirtschaftlichen Druck durch die Einführung von Leistungslöhnen und die Erhöhung der Produktionsnormen. Als Folge brach am 17. Juni 1953 in der DDR der erste proletarische Massenaufstand gegen den Stalinismus aus. Ein Protest von Ostberliner Bauarbeitern gegen Normenerhöhungen entwickelte sich innerhalb von 24 Stunden zu einem Massenstreik, der von sowjetischen Truppen und Panzern blutig niedergeschlagen wurde. Über hundert Arbeiter wurden erschossen, Teilnehmer und Führer der Streiks zu Hunderten als „konterrevolutionäre Agenten“ verhaftet und für Jahre ins Gefängnis geworfen, sechs Streikführer zum Tode verurteilt.


[62]

Siehe: Leopold Trepper, Die Wahrheit, München 1975

[63]

Wolfgang Leonhard, Die Revolution entlässt ihre Kinder, Köln 1955,S. 397

[64]

Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band. Deutsche Geschichte vom ,Dritten Reich‘ bis zur Wiedervereinigung, München 2000, S. 124