Von 1976 an zeichnete sich die Politik der WRP dadurch aus, dass sie Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution restlos verwarf und sich in groteskem Ausmaß an den bürgerlichen Nationalismus anpasste. Die Hauptperspektive, die Errichtung der politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse, ohne die es keine Strategie für die proletarische Revolution geben kann, wurde zugunsten konterrevolutionärer Bündnisse mit der Bourgeoisie in halbkolonialen Ländern aufgegeben. Healy und Banda fanden auf der ganzen Welt neue Freunde – vom bürgerlichen Radikalen Gaddafi bis zum blutrünstigen Tyrannen Galtieri. Sie fanden Entschuldigungen und Rechtfertigungen für deren Verbrechen und Verrätereien, vom libyschen Aufruf zum Selbstmord der PLO bis zur Hinrichtung irakischer Kommunisten.
Einem nationalen Befreiungskampf gegenüber ließ die WRP allerdings keine derartige Milde walten – dem der irischen Republikaner gegen den britischen Imperialismus. Die Bände der Werke von Marx und Lenin, die in der Bibliothek der WRP Staub ansetzten, wurden jedes Mal hervorgekramt, wenn in London eine Bombe der IRA explodierte, um mittels eines speziellen Inhaltsverzeichnisses passende Zitate über die Unzulässigkeit des individuellen Terrorismus herauszufischen. Man hätte glauben können, die einzigen Beiträge von Marx zum irischen Befreiungskampf hätten in ausgedehnten Tiraden gegen Nitroglycerin bestanden.
Die eigentliche Bewährungsprobe für die Haltung der WRP zum Selbstbestimmungsrecht unterdrückter Nationen war nicht Libyen, Irak oder auch Algerien – wie Banda kürzlich bei dem Versuch, seine Spuren zu verwischen, angedeutet hat. Der Prüfstein für den Kampf gegen den Imperialismus in Großbritannien ist das kompromisslose Eintreten für das Recht des irischen Volkes, sein Land zu vereinen. Die Haltung von Healy, Banda und Slaughter war eine üble Mischung aus Chauvinismus und Feigheit. Die letzte Artikelserie über die irische Frage, die eines Trotzkisten würdig war, erschien Anfang der siebziger Jahre in der Presse der WRP und stammte von Jack Gale, der inzwischen verstorben ist. Sie wurde erarbeitet, bevor die WRP ihre gesamte Arbeit zum Aufbau einer Sektion des Internationalen Komitees in Irland aufgab.
Die Feindschaft der WRP gegen den irischen Kampf stieg in direktem Verhältnis zu ihrer Anpassung an die nationale Bourgeoisie im Nahen Osten, was erneut bewies, dass diese Beziehungen nicht als Teil einer antiimperialistischen Strategie aufgebaut worden waren, sondern als vertrauliche politische Abkommen, um die finanziellen Mittel zu beschaffen, die Healy für seine Manöver mit Teilen der britischen Arbeiteraristokratie brauchte. Ganz offensichtlich hatten die unbändigen Angriffe auf den „IRA-Terrorismus“ wenig mit einer prinzipiellen Verteidigung der marxistischen Theorie und mit der politischen Erziehung irischer Arbeiter zu tun. Vielmehr zeigten sie, dass die WRP-Führer ängstlich um ihren eigenen legalen Status und ihre Beziehungen zu den Labour-Reformisten besorgt waren.
Lässt man Spekulationen über die persönlichen Motive von Healy und Banda beiseite, so hatte ihre Haltung zur irischen Frage einen sehr bestimmten politischen Inhalt, der in mehreren Dokumenten der WRP zum Ausdruck kam. 1981 hatte die WRP-Führung bereits einen großen Schritt getan, die bedingungslose Verteidigung des irischen Rechts auf Selbstbestimmung abzulehnen. Die abscheulichsten Erklärungen erschienen in der News Line, nachdem dieser politische Schwenk vollzogen war.
In dem bereits erwähnten Manifest '81, das der Fünfte Kongress angenommen hatte, strotzte der Standpunkt der WRP zum irischen Kampf nur so von der herablassenden, bevormundenden Haltung der Labour-Bürokratie. Das Programm der WRP zur Irlandfrage ging nicht von der Zielsetzung aus, durch den revolutionären Kampf den britischen Imperialismus zu zerschlagen, nein, die WRP trat für eine „Regierungspolitik in Nordirland“ ein, „die sich auf eine gewissenhafte Beachtung der Prinzipien der Nichteinmischung und der Selbstbestimmung des irischen Volkes begründet.“ (S. 19)
Dies ist die Sprache von Whitehall und imperialistischen „Weißbüchern“. In den drei Absätzen zu Irland fand sich kein Aufruf an die britische Arbeiterklasse, Freiheit für das irische Volk zu fordern. So unglaublich es klingt, tauchte in der Darlegung des Programms, das die WRP nach ihrer Machtübernahme durchzuführen plante, die Sprachregelung „Nordirland“ auf – woraus man schließen muss, dass eine königlich-britische „Revolutionäre Arbeiterregierung“ unter Premierminister Healy und Außenminister van der Poorten (Banda) die 1921 erzwungene Abtrennung der sechs irischen Grafschaften anerkennen und sie, was noch ungeheuerlicher ist, immer noch als zu Großbritannien gehörig betrachten würde. Unwillkürlich drängen sich schlimme Vorahnungen auf, welch grausames Schicksal auf die kriegsgefangenen IRA- Mitglieder zukommen würde, nachdem Innenminister Slaughter ihre Akten durchgesehen hätte.
Die nächste Resolution, in der die Irlandfrage angesprochen wurde, war Bandas großes Werk mit dem Titel „Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution heute“. Wäre der alte Trotzki noch am Leben gewesen und hätte dieses unglaubwürdige Dokument gelesen, hätte er sich öffentlich davon distanziert und erklärt: „Wenn das Trotzkismus ist, dann bin ich kein Trotzkist.“ Dem nationalen Befreiungskampf der Iren wurden wiederum nur drei kurze Absätze zugestanden, die in einem Abschnitt mit der Überschrift „Sieg für die PLO“ versteckt waren. Und in der Tat behandelten diese Abschnitte nicht den irischen Kampf als solchen. Die Hinweise auf Irland dienten nur als Kulisse für ein paar fraktionelle Angriffe gegen die „Militant“-Tendenz.
Banda anerkannte zwar in seinem Dokument die historische Berechtigung so unterschiedlicher Strömungen des bürgerlichen Nationalismus wie der chinesischen Kuomintang, des Indischen Nationalkongresses und der Regime der Sozialistischen Arabischen Baath- Partei im Irak und in Syrien. Er verkündete auch seine „bedingungslose Verteidigung Kubas, der nicaraguanischen Sandinisten und der salvadorianischen FMLN gegen den US-Imperialismus“ (S. 10 -11). Aber Irland und die IRA schienen seinem Gedächtnis völlig entfallen zu sein, und niemand sonst in der Führung der WRP nahm daran Anstoß.
Der mögliche Grund für diese Auslassung wurde schließlich ein Jahr später in dem letzten programmatischen Dokument erklärt, das Healy, Banda und Slaughter gemeinsam verfassten – der Resolution des Siebten Kongresses vom Dezember 1984. Der irische Kampf wurde darin als „untrennbarer Bestandteil der britischen sozialistischen Revolution“ bezeichnet. Im Zusammenhang mit der Rechtsentwicklung der WRP lieferte dieser Satz einen orthodox klingenden Deckmantel für praktische Gleichgültigkeit gegenüber der besonderen Verantwortung britischer Trotzkisten für den Kampf gegen die britische Herrschaft über Irland. Wie wir gleich anhand weiterer Erklärungen aus der News Line zeigen werden, wurde der irische Kampf lediglich durch die Brille des Klassenkampfs in Großbritannien und der praktischen Interessen der WRP gesehen.
Die WRP-Führer zitierten den berühmten Abschnitt, in dem Lenin jene Formalisten in der Arbeiterbewegung verurteilt, die den irischen Aufstand von 1916 als „Putsch“ bezeichnet hatten, hielten es dann aber für angebracht, sich von dieser klassischen Definition der marxistischen Haltung zu nationalen Befreiungskriegen zu distanzieren. Sie schrieben:
Lenins Anmerkungen behandeln jedoch nicht erschöpfend die konkreten Probleme, die in der heutigen Periode durch den irischen nationalen Befreiungskampf gestellt werden. Denn wir leben nicht in einer Periode, in der imperialistische Kriege geführt werden und die britische Arbeiterklasse vom Reformismus beherrscht wird – sondern in der Periode des Zerfalls des Reformismus und der Entwicklung der sozialistischen Revolution in Großbritannien und in Irland. (S. 58)
Nach dieser Erklärung folgten eine Reihe völlig richtiger Kritikpunkte an der Beschränktheit des Republikanismus, in denen die entscheidende Rolle des proletarischen Klassenkampfes als Mittel zur Lösung der nationalen Frage in Irland gebührend hervorgehoben wurde. Doch diesen orthodoxen Beteuerungen gegenüber war Misstrauen angebracht – wegen der oben zitierten Erklärung, in der Lenins wissenschaftliche Einschätzung unserer Epoche durch eine „neue“ Definition ersetzt wurde. Liest man sich diese Definition genau durch, dann läuft sie auf eine Rechtfertigung der Unterordnung der irischen Frage unter die politische Konjunktur in Großbritannien hinaus.
Vom marxistischen Standpunkt her fügte die Gegenüberstellung dieser „neuen“ Definition – “die Periode des Zerfalls des Reformismus und der Entwicklung der sozialistischen Revolution in Großbritannien und Irland“ – Lenins wirklicher Definition des Imperialismus nichts neues hinzu. Auf der Grundlage eines objektiven, weltgeschichtlichen Studiums der politischen Ökonomie hatte Lenin den Imperialismus als den Vorabend der sozialistischen Revolution bezeichnet. Lenins Definition schloss von vornherein mit ein, dass der Imperialismus den Zerfall des Reformismus ankündigt; er kennzeichnete ihn politisch als „Reaktion auf der ganzen Linie“. Wenn die WRP nun rückblickend von der „Vorherrschaft des Reformismus“ sprach, war das eine unmarxistische und künstliche Konstruktion, die sie nur hineinschmuggelte, um ihre gönnerhafte und selbstzufriedene Haltung gegenüber dem irischen Kampf zu rechtfertigen.
Die WRP verurteilte die terroristischen Aktionen der IRA immer und immer wieder von einem chauvinistischen und selbstsüchtigen Standpunkt aus. Ihr ging es um die Widrigkeiten, die daraus für den Klassenkampf in Großbritannien entstanden, oder, genauer gesagt, um die politischen Kopfschmerzen, die ihr dieser Kampf bereitete. Nie kritisierte sie dagegen den bürgerlichen Republikanismus von einer prinzipiellen Position aus, die die große politische Bedeutung des nationalen Befreiungskampfes in Irland anerkennt und die Unfähigkeit des bürgerlichen Nationalismus aufzeigt, die Vereinigung der irischen Nation und die Sicherung ihrer Unabhängigkeit gegenüber dem britischen Imperialismus zu Wege zu bringen. Eine „Kritik“, die bei der Verurteilung des Terrorismus statt der Unfähigkeit des bürgerlichen Nationalismus zur Wiedervereinigung der Insel begann, setzt ein ganz großes Fragezeichen über die Bereitschaft der WRP, die demokratische Revolution unter der Führung der Arbeiterklasse zu Ende zu führen.
Untersuchen wir jetzt, wie diese Parteilinie in der Praxis aussah. Im Juli 1982 verübte die IRA im Londoner Hyde Park einen Bombenanschlag, bei dem mehrere Soldaten und deren Pferde getötet wurden. Die News Line verurteilte den Anschlag in einem Leitartikel und verteidigte eine Woche später ihre Haltung in einer Antwort auf einen Leserbrief in der „Fragen und Antworten“-Spalte.
Zuerst einmal sei der Anschlag „unter Bedingungen ausgeführt worden, wo sich eine Massenbewegung gegen die Tories entwickelt“, schrieb die News Line; und weiter hieß es:
Der Bombenanschlag war ein politisches Geschenk für Thatcher, und sie hat auch keinen Moment gezögert, es voll und ganz auszunutzen. Innerhalb von nur wenigen Tagen hat sie weitere gewaltige Lohnerhöhungen für die Polizei genehmigt und die SAS bei den Sicherungsmaßnahmen für den Gedenkgottesdienst in St. Paul für die Falkland-Gefallenen eingesetzt. All das war von einer rassistischen Kampagne gegen irische Arbeiter in Großbritannien sowie von einer wahren Springflut neuer patriotischer Aufrufe in den Medien begleitet. Aus diesem Grunde haben wir die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung aufgerufen, den Anschlag als eine staatliche Provokation zu verurteilen. (27. Juli 1982)
Diese Erklärung war nicht nur eine Verleumdung gegen die IRA, die die Verantwortung für diese Aktion übernommen hatte, sie war auch eine bis dato der Vierten Internationale unbekannte taktische Neuerung: „Konjunkturelle Opposition gegen individuellen Terror“. Hätten Healy und Banda – dessen Begeisterung für den „bewaffneten Kampf“ sich, nebenbei gesagt, wesentlich dämpfte, wenn er sich in Hörweite von Clapham abspielte – den individuellen Terror etwa in einer Ebbeperiode des Klassenkampfs anders eingeschätzt? Das muss man aus ihrer Erklärung zumindest schließen. Aber gerade in Ebbeperioden des Klassenkampfs müssen Marxisten einen besonders entschlossenen Kampf gegen solch subjektive Methoden führen!
Im Dezember 1983, als die WRP gerade damit beschäftigt war, den Verrat der Drucker durch die SOGAT-Bürokraten zu verteidigen (sie seien Männer mit „politisch gemäßigten Auffassungen“), explodierte in Londons exklusivstem Kaufhaus Harrods eine Bombe der IRA. Die WRP reagierte mit einer hysterischen Hetze in der News Line. Ihre Argumente waren derart zynisch und opportunistisch, dass von dem prinzipiellen marxistischen Kampf gegen den individuellen Terror kaum noch etwas zu erkennen war.
Es ist eine Unverschämtheit gegenüber den Londoner Arbeitern und dem von der Labour Party geführten Stadtrat von Groß-London (GLC), der mutig (!) das Selbstbestimmungsrecht des irischen Volkes verficht. Zudem ist es ein unerwartetes, dafür aber umso willkommeneres Weihnachtsgeschenk an Premierministerin Thatcher und ihre verhasste, krisengeschüttelte Tory-Regierung. (19. Dezember 1983)
Dieser Leitartikel, der fast eine ganze Seite füllte, hatte nichts mit einer prinzipiellen Kritik des Terrorismus zu tun, wohl aber mit einem Lobgesang auf den GLC und reformistische Karrieristen wie Livingstone. Auf welchen Barrikaden konnte man denn GLC-Bürokraten „mutig“ für die irische Selbstbestimmung streiten sehen? Die News Line machte einen ehrerbietigen Kratzfuß vor Livingstones „entschlossener Geste der Unterstützung“ für die Wahlerfolge der Sinn Fein und warnte, solch edle Akte der Solidarität würden durch die „barbarische Tat“ der IRA „sinnlos aufs Spiel gesetzt“. Der „reaktionäre Fremdenhass“ der IRA sei zu einem „blindwütigen Hass auf alles britische“ geworden.
Diese Verlautbarungen entlarvten nicht nur, wie faul die politischen Beziehungen der WRP zum GLC waren; sie rissen auch Healys und Bandas Auffassungen von Selbstbestimmung die trotzkistische Maske herunter und legten ihre ganze Hohlheit bloß. Gegen Bombenanschläge der IRA zu argumentieren, indem man papierne Presseerklärungen des GLC über den grünen Klee lobt, heißt, die marxistische Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung restlos zu verwerfen. Wie Trotzki schrieb:
Was den Bolschewismus in der nationalen Frage kennzeichnet, ist, dass er die unterdrückten Nationen, selbst die rückständigsten, nicht nur als Objekte, sondern auch als Subjekte der Politik betrachtet. Der Bolschewismus begnügt sich nicht mit der Anerkennung ihres ‚Rechtes‘ auf Selbstbestimmung und mit parlamentarischen Protesten gegen die Missachtung dieses Rechtes. Der Bolschewismus dringt tief in die unterdrückten Nationen ein, erhebt sie gegen die Unterdrücker, verbindet ihren Kampf mit dem Kampf des Proletariats der kapitalistischen Länder, unterweist die unterdrückten Chinesen, Inder und Araber in der Kunst des Aufstandes und nimmt die volle Verantwortung für diese Arbeit vor dem Angesicht der zivilisierten Henkersknechte auf sich. Hier erst beginnt auch der wahre Bolschewismus, d.h. der revolutionäre Marxismus der Tat. Was vor dieser Grenze stehen bleibt, bleibt alles Zentrismus. (Was nun? in Schriften über Deutschland Bd.1, S. 246)
Der Kampf für diese bolschewistische Politik hat keinen Sinn außer im Kampf für den Aufbau einer Sektion der Vierten Internationale in dem unterdrückten Land selbst. Genau in dieser zentralen Frage hat Healy völlig mit dem Trotzkismus gebrochen. Das ist der wirkliche Inhalt seiner politischen Degeneration und Kapitulation vor dem britischen Imperialismus.