Als sich die Delegierten des 6. Kongresses der WRP im Spätsommer 1983 versammelten, konnten sie sich zu den Ergebnissen von acht qualvollen Jahren voller katastrophaler Fehler gratulieren. Die Partei, die erst 10 Jahre zuvor gegründet worden war, lag bereits auf ihrem politischen Sterbebett und litt an einem unheilbaren Fall von Opportunismus, den trotz der eindeutigen Symptome kein WRP-Führer diagnostizieren wollte.
Die dem 6. Kongress vorliegenden Perspektivdokumente zeigten die beinahe unfassbare Degeneration der WRP und ihrer wichtigsten Führer. Diese waren bereits an einem Punkt angelangt, wo sie nicht mehr fähig waren, eine politische Analyse zu machen, oder auch nur mit einem Minimum an Ehrlichkeit an die Arbeit ihrer Organisation heranzugehen. Healy, Banda und Slaughter lebten alle bewusst in einer politischen Lüge. Sie versuchten, vor der Parteimitgliedschaft zu verbergen, was, wie sie selbst wussten, die nackte Wahrheit war: die WRP war eine kompromittierte und politisch korrupte Organisation, deren Führer alle Prinzipien verraten hatten, für die sie einmal gekämpft hatten.
Das gesamte Perspektivdokument war von einer erstaunlichen theoretischen Armut geprägt. Es enthielt nichts, was ernsthaft als Analyse bezeichnet werden könnte. Nur in den einleitenden Abschnitten fand sich eine „Perspektive“:
Die Widersprüche des Weltimperialismus haben die kapitalistische Weltwirtschaft völlig und unwiderrufbar auseinandergerissen. Dies hat zur Beschleunigung einer Krise der Überproduktion und der Verschuldung geführt, die die Welt in den verheerendsten Zusammenbruch der Geschichte stürzt und das kapitalistische Bankensystem in den Zusammenbruch treibt. (Dokumente und Resolutionen des Kongresses, S. 17).
Die besonderen und widersprüchlichen Formen dieser Krise werden völlig übersehen. Es gibt weder eine Analyse der von der Bourgeoisie verfolgten Strategie noch der Änderungen in der Wirtschaftspolitik der führenden imperialistischen Mächte. Jede konkrete Untersuchung der aktuellen Probleme der Arbeiterbewegungen in Europa und den Vereinigten Staaten wird vermieden. Auf die Vereinigten Staaten, das Zentrum des Weltimperialismus, gibt es in dem Dokument nur einen flüchtigen Hinweis. Im Zusammenhang mit dem „drohenden Zusammenbruch“, behauptete die Hauptresolution, stehe
vor der Arbeiterklasse der industrialisierten und kolonialen Nationen die Aussicht auf entscheidende und nahe bevorstehende revolutionäre Kämpfe um die Macht... (Ebenda, S. 18.)
Im zweiten Teil über den „Kampf um die Macht“ versichert die Resolution:
In Großbritannien hat die Wiederwahl der Thatcher-Regierung am 9. Juni die wirtschaftliche, soziale und politische Krise beschleunigt, die den britischen Kapitalismus ergriffen hat, und zu einer gewaltigen Verschärfung des Klassenkampfs geführt. Die Arbeiterklasse steht einer brutalen Klassenkriegs-Regierung gegenüber, die ihre parlamentarische Mehrheit dazu benutzt, die absolute Macht zu ergreifen, um ihre unbarmherzige Kriesenpolitik durchzusetzen. (Ebenda)
Es wurde kein Versuch unternommen, zu erklären, wie die bevorstehenden revolutionären Kämpfe um die Macht mit der Wiederwahl Thatchers zusammenhingen. Warum war das Kleinbürgertum in so großer Zahl hinter die Tories eingeschwenkt, wenn es in Großbritannien eine revolutionäre Situation gab? Gab es irgendeine wirtschaftliche Grundlage für diese Erscheinung?
Die Spaltung der Labour Party und die Bildung der Sozialdemokratischen Partei wurde nicht objektiv vom Standpunkt der Veränderung der Klassenbeziehungen bewertet. Stattdessen wurde sie als rein subjektiver Plan abgetan, „um Labour jede Chance zu verderben, jemals wieder eine Regierung zu bilden“. (Ebenda) Die Resolution fuhr fort:
Die Bürgerkriegsmaßnahmen der Tories bedeuten ein verschärftes neues Stadium des weltweiten Zusammenbruchs und eine schnelle Zuspitzung des Klassenkampfes. (Ebenda, S. 19)
Tatsächlich hatte der weltweite Zusammenbruch 1983 seinen tiefsten Punkt überwunden. Die anhaltende Stagnation in der britischen Wirtschaft stand in scharfem Gegensatz zur Wachstumsrate in den Vereinigten Staaten. Aber kennzeichnend für dieses Wachstum waren nicht Investitionen in der Produktion, sondern ein gewaltiges Anwachsen des fiktiven Kapitals und des finanziellen Schmarotzertums. Der relative Aufschwung wurde weder von einem bedeutsamen Rückgang der Arbeitslosigkeit, noch von einem Abflauen der Offensive der Bourgeoisie gegen die Arbeiterbewegungen in Europa und Nordamerika begleitet. Eine nie da gewesene Welle von Fusionen verfolgte – ebenso wie die von Thatcher durchgeführten Privatisierungsmaßnahmen – von 1981 an das Ziel, das Kapital zu reorganisieren, um der sinkenden Profitrate durch eine drastische Steigerung der Ausbeutungsrate der Arbeiterklasse zu begegnen. Dem Kleinbürgertum wurden währenddessen zeitweilige finanzielle Beruhigungspillen verabreicht. Aber die Resolution nahm diese Veränderungen nicht zur Kenntnis, geschweige denn dass sie sie vom Standpunkt der Entwicklung des Klassenkampfs analysiert und Rückschlüsse für die Taktik der revolutionären Partei gezogen hätte.
Statt Konkretheit anzustreben, blieb die Resolution selbstzufrieden auf der Ebene theoretisch armseliger Abstraktionen stehen, wie:
Kein einziges grundlegendes Problem der Arbeiterklasse – Arbeitsplätze, Löhne, Arbeitsbedingungen, Sozialleistungen, Wohnungen, Erziehung, Gesundheitsfürsorge oder demokratische Rechte – kann ohne den revolutionären Kampf um die Macht aufrechterhalten oder verteidigt werden. Dies ist die wesentliche objektive Wahrheit, die sich aus den Bedingungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Krise ergibt. (Ebenda)
Im historischen Maßstab trifft dies zu – aber zur Anleitung der unmittelbaren Praxis der Partei ist diese Perspektive vollständig ungenügend. Wie Trotzki schrieb:
Ein vom Standpunkt der revolutionären Strategie im ganzen richtiger Gedanke schlägt in Lüge um, übersetzt man ihn nicht in die Sprache der Taktik. Ist es richtig, dass man zur Beseitigung von Arbeitslosigkeit und Elend den Kapitalismus vernichten muss? Richtig. Aber nur der letzte Dummkopf kann daraus die Folgerung ziehen, dass wir nicht schon heute aus allen Kräften gegen jene Maßnahmen kämpfen müssen, mit deren Hilfe der Kapitalismus das Elend der Arbeiter vergrößert. (Schriften über Deutschland, EVA, Bd. 1, S. 167-168)
Die Resolution forderte:
Besetzungen gegen die völlige Vernichtung von Werften, Bergwerken, Fabriken und Werkstätten müssen durch die Bildung von Community Councils, einer revolutionären, sowjetartigen Organisation unterstützt werden, um Organe der Arbeitermacht zu bilden. (Resolution, S. 19.)
Wir haben Healys Versuch bereits entlarvt, uns seine Community Councils – entwickelt als Spross des kapitalistischen Staats mit dem Ziel, einen seiner Zweige zu verteidigen – als echte Sowjets zu verkaufen. Aber abgesehen von dieser Täuschung war der Hinweis auf Sowjets völlig nichts sagend, denn er war nicht mit einem theoretisch ernstzunehmenden Nachweis verbunden, dass tatsächlich eine revolutionäre Situation bestand.
Das theoretische Vakuum wurde wieder mit den altbekannten Phrasen aufgefüllt:
Das revolutionäre Tempo der Ereignisse verlangt von der Workers Revolutionary Party, sich entschieden und kühn den breitesten Schichten von Arbeitern, Gewerkschaftern und Jugendlichen zuzuwenden, um die Partei aufzubauen, neue Zellen zu gründen und die Auflage der täglichen News Line zu erhöhen. (Ebenda)
Die Resolution stellte dann fest, zentrale Aufgabe der Partei sei es, ihre Mitgliederzahl bis zum November auf 5.000 zu erhöhen. Später, nach dem Zusammenbruch der WRP im Oktober 1985, erfuhr das Internationale Komitee, dass die WRP in den 80er Jahren nie mehr als etwa 600 wirklich aktive Mitglieder hatte. Die Tausende, auf die Healy sich bezog, ohne dass Banda oder jemand anderes jemals widersprochen hätte, waren die „Karteileichen“ der WRP. Sie existierten nur auf dem Papier, eine Form von fiktivem menschlichen Kapital, das der wirklichen und abnehmenden Mitgliedschaft der WRP ständig steigende Zinsen abverlangte. Das eigentliche Ziel der Mitgliederwerbung bestand nicht darin, wirklich mehr Arbeiter für die Partei zu gewinnen, sondern eine Erhöhung der Kopfprämie herauszuschlagen, die von jeder Zelle an das Zentrum in London gezählt werden musste. Die Mitgliederzahl der WRP war eine imaginäre Größe, mit der man zwar die wirkliche Stärke der Partei in der Arbeiterklasse nicht bestimmen, aber das wöchentliche Einkommen aus den Zellen berechnen konnte.
Diese organisatorische Quacksalberei ergänzte die politische. Das Dokument unternahm keinerlei Anstrengung, die Arbeit der Partei in den Gewerkschaften zu untersuchen – dieses Versäumnis widerspiegelte nur die Tatsache, dass es in diesem Bereich seit der Spaltung von Thornett keine systematische Arbeit mehr gegeben hatte. Bezeichnend war auch der Versuch, eine veränderte Linie über den Charakter der lokalen Regierungen einzuschmuggeln, ohne dass die Arbeit der WRP während der letzten zwei Jahre, die auf einer falschen Definition von deren Klassencharakter beruht hatte, kritisch unter die Lupe genommen wurde.
Zwei unvereinbare Perspektiven wurden in demselben Dokument vorgetragen. Erneut wurden die Community Councils mit Sowjets gleichgesetzt:
Der Community Council wird das Gegenstück zu den Sowjets sein, wie sie die russische Arbeiterklasse in ihrem Kampf um die Macht entwickelt hat.
Sie müssen die unmittelbare Verantwortung für die Verteidigung der Arbeitsplätze übernehmen, für den Schutz der wesentlichen Sozialleistungen jeder Gemeinde, für die Unterkunft der Obdachlosen und für den Schutz der Stadtteile vor den Angriffen der Faschisten, der Rassisten und der Polizei. Sie werden sich zu lokalen, regionalen und nationalen Organen der Arbeitermacht und zur Grundlage einer revolutionären Arbeiterregierung entwickeln, wenn die Arbeiterklasse unter Führung der Workers Revolutionary Party den kapitalistischen Staat stürzt. (Ebenda, S. 46-47)
Aber im folgenden Absatz wurde der betrügerische Inhalt dieser Perspektive grell entlarvt:
Die Community Councils werden auch eine historisch entscheidende Rolle bei der Mobilisierung gegen die von der Tory-Regierung geplante Abschaffung der Stadträte von Groß-London (GLC) und von sechs weiteren Großstädten spielen. (Ebenda)
Die Sowjets – Organe, die das Bestehen der Doppelherrschaft zum Ausdruck bringen, – sollten also die entscheidende Rolle bei der Verteidigung von Organen der bürgerlichen Herrschaft spielen. Aber warum sollte der GLC noch irgendeine Bedeutung haben, wenn die Arbeiterklasse einmal mit dem Parlament gebrochen und ihre eigenen Machtorgane gebildet hat?
In Wirklichkeit war die ultra-linke Theatralik nur ein Deckmantel für den feigsten Opportunismus und eine nicht-revolutionäre Perspektive. „Baut Community Councils auf, um den GLC zu retten“ – hätte Lenin diese Formulierung 1917 gebraucht, wäre der Aufruf der Bolschewisten gewesen: „Baut Sowjets auf, um die Provisorische Regierung zu verteidigen!“
Dann wurden die vorangegangenen Absätze in der Resolution erneut unterhöhlt. Zum ersten Mal gab die WRP zu, dass die Stadträte „Instrumente der bürgerlichen Klassenherrschaft“ seien und räumte ein, dass die „Verteidigung der Sozialleistungen und der demokratischen Grundrechte eine Klassenfrage“ sei. „Sie kann nur durch die Arbeiterklasse durchgeführt werden, nicht von Gruppen von Ratsmitgliedern.“ (Ebenda, Se 47.)
Es gab jedoch kein Anzeichen dafür, dass durch diese neue Schlussfolgerung die früher verfolgte Linie korrigiert oder die vorangegangene Arbeit der Partei und die Beziehungen zu Leuten wie Livingstone und Knight überprüft werden sollten. Der nächste. Abschnitt zeigte, dass diese „Korrektur“ nur eine Anpassung in Worten an die unleugbare Tatsache war, dass der GLC und die anderen Stadträte Teil des kapitalistischen Staates sind. Also wurde, um die alte opportunistische Praxis mit einem verbalen Kniefall vor der Orthodoxie zu versöhnen, eine neue Formulierung gefunden:
Wir fordern die von Labour kontrollierten Räte auf, aus dem Ratssaal hinaus und in die Gemeinden zu gehen und durch die Errichtung von Community Councils massiven örtlichen Widerstand zu entwickeln. Indem sie sich der örtlichen Bevölkerung zuwenden und bei der Forderung nach Community Councils die Initiative ergreifen, können sie die Arbeiterklasse mit neuen Organisationsformen ausstatten, um die unabhängige Stärke der Klasse zu entwickeln. (Ebenda.)
Nur zwei Monate vorher hatte die WRP die Labour Party praktisch abgeschrieben. Jetzt behauptete sie, Labour-Politiker könnten den Impuls für die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den kapitalistischen Staat liefern ... indem sie aus dem Ratssaal hinausgehen! Außerdem ging aus dieser Erklärung überhaupt nicht hervor, ob dies als Forderung erhoben wurde, um die Labour-Politiker zu entlarven. Ebenso wenig wurde der neue Aufruf, die Ratssäle zu verlassen, mit der seit 1981 wiederholt aufgestellten Behauptung in Einklang gebracht, der Kampf gegen Thatcher erfordere, dass die Ratsmitglieder in den Rathäusern blieben.
Jeder Teil des Dokuments trug den Stempel einer am Schreibtisch erarbeiteten Diplomatie. Der zynische Versuch, die verschiedenen politischen Bücher der WRP-Führer in Einklang zu bringen, führte zu hohlen Phrasen wie:
Jeder einzelne theoretische und politische Kampf, den das IKVI seit dieser Zeit (1938) gegen den Reformismus, Stalinismus und Revisionismus geführt hat, stellt eine unzerstörbare Errungenschaft für die Arbeiterklasse der Welt dar. Die Formen dieser entscheidenen Kämpfe – die Spaltungen und Diskussionen über die Grundfragen des Marxismus als Erkenntnistheorie der Arbeiterklasse – haben die Kontinuität der in der Sowjetischen Revolution von 1917 unauslöschlich verankerten Lehren von Marx, Engels, Lenin und Trotzki in der Arbeiterklasse erhalten und vertieft. (Ebenda S. 20- 21)
Welch bombastisches Geschwätz! Diese Sonntagsreden enthielten nicht die Spur eines politischen Inhalts: Welche Kämpfe? Welche Lehren? Welche Spaltungen? Welche Diskussionen? All diese Plattheiten wurden den WRP-Mitgliedern in dem Abschnitt: „Die Krise der Führung der Arbeiterklasse“ aufgetischt. Wenn, dann illustrierte dieser Abschnitt höchstens die Krise in der Führung der WRP; mit Sicherheit zeigte er keinen Weg, wie die Krise der Führung der Arbeiterklasse in Großbritannien oder anderswo gelöst werden konnte.
Die beiden folgenden Abschnitte – „Verteidigt die Oktobererrungenschaften“ und „Der Kampf gegen den Stalinismus“ – waren ebenso bankrott. Sie bestanden aus ein paar abstrakten Hinweisen auf die Oktoberrevolution und die Gründung der Vierten Internationale. Über die gegenwärtige Krise der UdSSR und des Stalinismus wurde kein Wort verloren. Afghanistan und Polen wurden nicht erwähnt. Es gab keine neuen Informationen – noch nicht einmal ein paar Wirtschaftsdaten –, um die Notwendigkeit für die politische Revolution nachzuweisen.
Trotz der Tatsache, dass die WRP sich noch immer mitten in ihrer begeisterten Kampagne für die Wiedererrichtung der Kontrolle der Kommunistischen Partei über den Morning Star befand, gab es keine Analyse über die geschichtlichen und politischen Ursachen der Krise in der KPGB und den Charakter der sich bekämpfenden Fraktionen. Stattdessen brüstete sich die WRP damit, dass sie während einer Massenversammlung in London am Ende des Volksmarsches für Arbeitsplätze 1983
Tausende von Flugblättern verteilte, die das Prinzip (!) bestätigten: ‚Der Morning Star ist die Tageszeitung der Kommunistischen Partei. Sie waren an die Mitglieder der Kommunistischen Partei und an die ganze Arbeiterbewegung gerichtet, um so die geschichtliche Verbindung unserer Partei mit den großen Errungenschaften der Russischen Revolution, verkörpert in den vergesellschafteten Eigentumsverhältnissen, zu bestätigen. (Ebenda, S. 40)
Das sah so aus, als würde die geschichtliche Kontinuität des Trotzkismus in Großbritannien durch das stalinistische Pack vermittelt.
In dem Abschnitt über die Gefahr eines Atomkriegs enthielt die Resolution nicht einmal die Forderung nach den Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.
Einer der ausführlichsten Abschnitte der Resolution würdigte den Marsch zu Ehren des 100. Todestags von Karl Marx.
Der Marx-Gedenkmarsch war eine entscheidende Bestätigung der marxistischen Methode, die dialektische Praxis durch die dialektisch-abstrahierte Theorie anzuleiten. Er bewies das von Trotzki oft erklärte Prinzip, ‚dass der Marxismus eine Methode der historischen Analyse, der politischen Orientierung ist, und keine Sammlung von fertigen Entscheidungen‘. (Ebenda S. 34)
In Wirklichkeit hatte der Marsch nicht das Geringste mit der Bekräftigung der marxistischen Methode zu tun, wie sie von Trotzki dargelegt worden war. Zunächst hatte Healy ihn ursprünglich geplant, um den Marx-Gedenktag für die Aufnahme von Beziehungen zu Sozialdemokraten und Stalinisten in Westeuropa auszunutzen, und um das schwindende Interesse einiger Regime im Nahen Osten für die Zukunft der WRP neu zu beleben. Deshalb wählte er für den Marsch die Losung: „Nur der revolutionäre Sozialismus von Karl Marx“ – eine klassische zentristische Phrase. So sollte vermieden werden, dass der Marsch als trotzkistisch abgestempelt wurde. Es gab kein politisches Fundament, auf das sich der Marsch hätte stützen können. Er war nicht darauf ausgerichtet, neue Sektionen des IKVI aufzubauen und den Trotzkismus als den Marxismus unserer Zeit darzustellen. In der Praxis verbrachten die Marschierer die meiste Zeit damit, für Lebensmittel und Unterkunft zu sorgen. Das von den Marschierern gesammelte Geld durfte nicht für die täglichen Ausgaben genutzt werden. Das Ergebnis war, dass die Marschierer teilweise in die Lage von Bettlern versetzt wurden.
In der Resolution hieß es weiter:
Wir brachten 130 junge Leute aus Sektionen der Young Socialist in 8 verschiedenen Ländern zusammen, die am 12. Februar 1983 losmarschierten. Schon das allein (?) ist eine unlösbare historische Verbindung (?) zwischen den heutigen revolutionären Kämpfen der Arbeiterklasse und der revolutionären Philosophie von Karl Marx. (Ebd.)
Die von Healy aufgestellte Verbindung existierte nur in seiner Phantasie; aber die wohl aufschlussreichste Aussage war Folgende:
Die tagtäglichen Erfahrungen der Marschierer brachten sie Angesicht zu Angesicht mit der kapitalistischen Wirtschaftskrise: geschlossene Fabriken und Stahlwerke, arbeitslose Gewerkschafter und Jugendliche und die gewaltsamen Vorbereitungen der kapitalistischen Staatsmaschinerie. (Ebenda S. 35)
Es ist nicht notwendig, durch Europa zu marschieren, um das festzustellen. Jeder Jugendliche, egal in welchem kapitalistischen Land er lebt, kann ständig geschlossene Fabriken und arbeitslose Gewerkschafter sehen. Die Frage ist, für welche Politik sich die Marschierer bei den Arbeitslosen einsetzten, ob Veranstaltungen über die Rolle des Trotzkismus, über den Kampf gegen die Sozialdemokratie und gegen den Stalinismus durchgeführt wurden. Darüber schweigt die Resolution, weil es nichts zu berichten gibt.
„Die WRP betont, dass nur durch eine Verbindung von Theorie und Praxis, wie sie durch den Marx-Marsch bestätigt wurde, eine revolutionäre Führung aufgebaut werden kann.“ (Ebenda)
Hier war Healys „Praxis der Erkenntnis“ in Aktion: Kader wurden in ihren „tagtäglichen“ Erfahrungen „Angesicht zu Angesicht“ mit der kapitalistischen Wirtschaftskrise gebracht – und sammelten dabei natürlich viel Geld für die WRP. Anstatt den Jugendlichen einen theoretischen Einblick in den Charakter der Klassengesellschaft zu geben, löste Healy das Kadertraining in einem blinden und politisch zerstörerischen Aktivismus auf. Die meisten Jugendlichen, die am Marsch teilnahmen, verließen die Sektionen des Internationalen Komitees, sobald sie in ihre Länder zurückgekehrt waren.
Der Abschnitt, der sich mit den letzten Wahlen beschäftigte, ging nicht über journalistische Eindrücke hinaus. Dabei wurde der Wahlkampagne der Tories größte Bedeutung beigemessen, um dann daraus die drastischsten und lächerlichsten Schlussfolgerungen zu ziehen:
Die Tories führten eine teure Propagandakampagne, die während des dreiwöchigen Wahlkampfs über 15 Millionen Pfund kostete. Sie verheimlichten bewusst die Wirtschaftskrise, das Steigen der Massenarbeitslosigkeit und den zerstörerischen Einfluss des Monetarismus auf die britische Industrie. Stattdessen entwickelten sie ihre Werbetechniken und schufen eine unwirkliche Welt des ‚Aufschwungs‘, der ‚Sicherheit‘ und ‚Entschlossenheit‘. Thatcher selbst wurde von den Tory-Medien neu verpackt und mit dem Etikett ‚unbesiegbar‘ versehen. Meinungsumfragen wurden nicht durchgeführt, um die öffentliche Meinung zu testen, sondern um sie zu formen und die Mittelklasse zu drängen, sich dem Thatcherismus anzuschließen. ... Das Ganze lief auf einen gigantischen Wahlschwindel hinaus, der den Betrug bürgerlicher Parlamentswahlen enthüllte (für wen?).Die Tradition geheimer parlamentarischer Wahlen wurde durch ein bei früheren Wahlen nie vorgekommenes (!!) Ausmaß an Massenzwang ersetzt. ... Es enthüllte Thatchers verzweifeltes Bedürfnis, eine unanfechtbare Mehrheit zu gewinnen, um eine absolute Tory-Herrschaft zu errichten... (Ebenda S. 41)
Alex Mitchell hatte zweifellos die Kontrolle über seine Schreibmaschine verloren. Wenn das, was er sagte, wahr gewesen wäre, warum hatte die WRP- Führung dann nichts unternommen, um die Arbeiterklasse gegen diese Masseneinschüchterung zu mobilisieren und die demokratischen Rechte zu verteidigen – oder sich zumindest für eine Untersuchung durch die Arbeiterbewegung eingesetzt? Dieser wildwuchernde Impressionismus kündigte den Übergang zu der Auffassung an, die Tories hätten ein bonapartistisches Regime errichtet, die in weniger als einem Jahr zu einer Zwangsvorstellung der WRP werden sollte.
Die Perspektive einer Tory-Diktatur war eine politische Wahnvorstellung, die den durch und durch kleinbürgerlichen Charakter der WRP-Führung und ihre Kapitulation vor Thatcher und der Bourgeoisie entlarvte. Zeitungsartikel über unbedeutende Entwicklungen wurden begierig aufgegriffen und in welthistorische Ereignisse verwandelt. So wurde, laut Resolution, die Ergreifung der absoluten Macht durch die Tories,
wenige Tage nach der Wahl bestätigt, als Thatcher ihr politisches Beratergremium, den sogenannten ‚Think-Tank‘ auflöste und ihn direkt in ihren Büros in Downing Street ansiedelte(!!!). Das war eine bedeutende Verfassungsänderung (!) in Richtung eines Präsidialregimes, das durch Notverordnungen regiert. (ebd., S. 41- 42)
Ebenso wie König James II. sich einbildete, er könne die Vollendung der bürgerlichen Revolution aufhalten, indem er das Großsiegel in die Themse warf, glaubte Healy, 300 Jahre parlamentarischer Demokratie könnten durch die Verlagerung der Büros einiger Bürokraten nach Downing Street 10 zunichte gemacht werden. Die ungeheuerliche Bedeutung dieser Maßnahme Thatchers wurden weiter ausgewalzt:
Anstatt durch Kabinett und Parlamentsdebatten zu regieren (wie in der guten alten Zeit von Baldwin, Churchill, Macmillan und Heath),beabsichtigt Thatcher und ihr engster Kreis von Monetaristen, die Politik selbst festzulegen und Gesetze zu verfassen, die das Parlament nur noch absegnet. Das bedeutet das Ende einer Regierungsform, die auf Einverständnis und Übereinstimmung beruht (!!! – a la Heath), und den Beginn (!!)einer Tory-Diktatur, in der nicht gewählte und niemandem verantwortliche Gestalten aus den Hinterzimmern der Downing Street (eher als aus den Hinterzimmern der Threadneedle Street) die eigentlichen Mittelsmänner der Macht und Gesetzesmacher sind. (Ebenda, S. 42)
Das war die hysterische Sprache erschrockener kleinbürgerlicher Demokraten, die ihre krankhaften Ängste und Alpträume in universelle Wahrheiten verwandelten. Während des Zweiten Weltkriegs gab es eine eher bemitleidenswerte, aus Deutschland emigrierte Revisionistengruppe, die behauptete, Hitlers Sieg habe eine neue historische Epoche des Barbarismus eröffnet. Daraus zogen sie den Schluss, die Perspektive der sozialistischen Revolution sei für die absehbare Zukunft von der historischen Tagesordnung abgesetzt. Diese trübselige Perspektive wurde von der Vierten Internationale zurückgewiesen. Nur Shachtman fand sie glaubhaft. Zur Verteidigung der „Rückschrittler“ (wie diese Tendenz genannt wurde) muss man anführen, dass sie auf die vernichtendsten Niederlagen in der Geschichte der Arbeiterbewegung reagierten. Aber was kann man zur Verteidigung Healys und Bandas sagen, die hysterisch auf... den Umzug von Thatchers Beratergremium reagierten?
Nachdem der Kongress beendet und die Delegierten in ihre Gebiete zurückgekehrt waren, machte sich Healy anscheinend Sorgen, jemand könnte die Dokumente sorgfältig studieren und ihren gänzlich bankrotten Inhalt entdecken. So verfasste er innerhalb einer Woche ein Dokument mit dem Titel „Ein Leitfaden für die Arbeit mit den Resolutionen des sechsten Kongresses“, das als Vorwort zur Broschüre mit den Kongressdokumenten veröffentlicht wurde. Normalerweise werden in der trotzkistischen Bewegung Kongress-Resolutionen von Parteimitgliedern so gelesen, wie sie sind, und aufgrund ihres Inhalts beurteilt. Sie werden anhand der objektiven Entwicklung der politischen Ereignisse überprüft. Diese normale Vorgehensweise war für Healy zu einfach ... und zu gefährlich. Den Resolutionen musste ein tieferer Sinn verliehen werden – so dass jeder, der Meinungsverschiedenheiten zu ihrem Inhalt aufbrachte, sofort wegen Angriffen auf die Dialektik ausgeschlossen werden konnte. So produzierte Healys „Zentralkomitee-Abteilung“ folgenden Hokuspokus:
Die vier vom Sechsten Kongress angenommen Resolutionen sind das vom Kongress ‚Behauptete‘. Ausgedrückt in dialektisch-materialistischen Begriffen sind sie das ‚ANDERE DES ERSTEN‘ (ANDERE DES SECHSTEN KONGRESSES) ...
Von den Beschlüssen des Sechsten Kongresses (Behauptung) zur Einheit mit dem unmittelbaren Sein durch Widerspruch (dem Behaupteten). Das Vorhandensein des Positiven im Negativen (absolutes Wesen) wird die Erkenntnis der Veränderungen hervorbringen, die seit dem Kongress stattgefunden haben. Das bringt sowohl die Erscheinung als auch das absolute Wesen hervor, das in der Anti-These durch die Negation der Negation in unsere ‚Erkenntnistheorie‘, bestehend aus ‚logischen‘ und ‚historischen‘ Analysen der Ereignisse, negiert wird.
Durch Wesen in Existenz wird eine Synthese gebildet, in der als Ergebnis der Analyse die Teile der Kongressresolutionen, die am Dringendsten geworden sind, zusammen mit den ‚Veränderungen‘ als ‚Wesen‘ auftreten. Wir müssen diese selben ‚Teile‘, die sich im Wesen verändert haben, einander deutlich gegenüberstellen, um das Wesen der Veränderungen, die stattgefunden haben, zu bestimmen.
Der Verlauf des Kongresses erlaubt, dass die Analyse durch die Antithese der Negation der Negation, die die Synthese bildet, erstmals die Bedeutung des abstrakten Charakters der Resolutionen des Sechsten Kongresses klarer nachweist, der im Erfassen der Bewegung im dialektischen Denken noch deutlicher enthüllt wird. (Ebenda, S. i-v)
Innerhalb der WRP war eine regelrechte geheiligte Sprache entwickelt worden, um die revisionistische Politik der kleinbürgerlichen Clique, die die Organisation anführte, zu mystifizieren und abzusegnen. Bei all ihrer offensichtlichen Überspanntheit wurde diese groteske Perversion der Dialektik ein wesentliches und bewusstes Mittel, mit dem Healy den Kader der WRP verwirrte und zerstörte. Inzwischen war es für einen wesentlichen Teil der WRP-Führung kein Geheimnis mehr, dass Healys Geschreibsel absolut nichts mit Marxismus zu tun hatte. Fast ein Jahr war vergangen, seit Slaughter und Banda ihr Einverständnis mit der Entlarvung von Healy Dialektik durch die Workers League erklärt hatten. Aber sie verteidigten sie weiterhin vor der Mitgliedschaft, obwohl sie ganz genau wussten, dass ihr einziger Zweck darin bestand, eine solche Atmosphäre der Verwirrung zu schaffen, dass die politische Linie des rechten Flügels in der Partei durchgesetzt werden konnte, ohne dass es die Mitglieder überhaupt bemerkten.
Sie trugen ihren Zynismus offen zur Schau, als sie für eine Resolution stimmten, die Healys Studien als einen „entscheidenden Bestandteil“ für die Ausbildung von Kadern im dialektischen Materialismus hervorhob. Die Clique im Politischen Komitee bildete zusammen mit Männern wie Slaughter, der ihre Autorität wiederholt verteidigte, eine richtiggehende Verschwörung gegen die Parteimitglieder, denen jegliche Kontrolle über die Führung verwehrt wurde. Healy selbst waren in der WRP aufgrund eines von Slaughter eingebrachten Antrags absolute und über die Statuten hinausgehende Vollmachten verliehen worden.
Diese Zustände können nicht auf die Launen eines Individuums zurückgeführt werden. Innerhalb der WRP, einer Partei, die aus einem langen Kampf für den Trotzkismus hervorgegangen war und in der sich die bewusstesten Teile des britischen Proletariats gesammelt hatten, tobte unter der Oberfläche ein wilder Klassenkampf zwischen Elementen der Arbeiterklasse und großen Schichten von kleinbürgerlichen Akademikern und Ex-Studenten, die in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren in die Partei eingetreten waren. Healy stützte sich immer mehr auf die letzteren, die seinen grotesken Autoritätsmissbrauch tolerierten und ermutigten – und dies nicht nur, weil er trotz all seinem Geschrei und Gebrüll mit ihrer kleinbürgerlichen Lebensweise einverstanden war, sondern auch und vor allem, weil sie seine opportunistische Linie enthusiastisch unterstützten. Ein Universitätsdozent wie G. Pilling konnte plötzlich ohne Erklärung für Monate verschwinden und alle politischen Verantwortlichkeiten an den Nagel hängen. Aber wenn es ihm beliebte, wieder aufzutauchen, wartete immer ein warmer Sessel im WRP-Zentralkomitee und sogar im Internationalen Komitee auf ihn, wo Healy ihn benutzte, um aufrichtige Trotzkisten zu verleumden, die kein anderes Leben als die revolutionäre Bewegung kannten.
Wir haben der Analyse der Hauptresolution des 6. Kongresses beträchtlichen Platz eingeräumt, weil sie nachweist, dass die WRP 1983 vom Opportunismus zerstört war. Diese Resolution war der Ausdruck der tiefen Krise innerhalb der WRP-Führung, die jeglichen ernsthaften Kampf für den Marxismus in der Arbeiterklasse aufgegeben hatte. Alles, was jetzt noch zum endgültigen Sturz in den politischen Abgrund fehlte, war ein Anstoß von der Arbeiterklasse. Healy und Konsorten brauchten nicht lange zu warten.