Jegliches Verständnis der ungleichen Entwicklung der Weltwirtschaft und des Klassenkampfes (von dem das Gesetz der ungleichen Entwicklung abgeleitet ist) wurde abgelehnt. So präsentierte die Resolution, die Slaughter in ein paar freien Stunden hingeschrieben hatte, folgende Behauptungen:
1. Die objektiven Gesetze des kapitalistischen Niedergangs wirken jetzt ungehindert. Sie sind durchgebrochen. (Ebd., S. 8)
Das kann nur bedeuten, dass alle subjektiven Faktoren wie das bewusste Eingreifen der Bourgeoisie jetzt überwunden worden sind, und die kapitalistische Wirtschaft wie ein Wasserfall tosend in den Abgrund stürzt. Wie jedoch die Geschichte gezeigt und Trotzki erklärt hat, ist die Bourgeoisie nicht ein passives Opfer der „objektiven Gesetze des kapitalistischen Niedergangs“, sondern greift in diesen objektiven Prozess ein, um dem Wirken dieser objektiven Gesetze entgegenzuwirken oder sie zu beeinflussen. Nur im Bereich einer abstrakten wissenschaftlichen Studie, wie im ersten Band des Kapitals, können wir die abstrakte Bewegung der objektiven Gesetze des kapitalistischen Niedergangs „ungehindert“ untersuchen. Im dritten Band beschäftigt sich Marx schon mit den komplexeren Formen, in denen diese Gesetze in der kapitalistischen Gesellschaft auftreten. In der Gesellschaft wirken die Gesetze des kapitalistischen Niedergangs durch Klassen, die jeweils auf diese Gesetze einwirken und ihr Wirken beeinflussen. Es genügt der Hinweis, dass das wichtigste Gesetz, das den kapitalistischen Niedergang beherrscht – das Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate – nicht „ungehindert“ wirkt, sondern einer ganzen Reihe von entgegenwirkenden Faktoren unterliegt, sowohl objektiven als auch subjektiven. Deswegen ist die oben zitierte Erklärung, die sozusagen die „theoretische“ Grundlage des ganzen Dokuments bildet, absurd, und nur daraus zu erklären, dass die WRP jegliche Notwendigkeit einer ernsthaften Arbeit an marxistischen Perspektiven ablehnte.
2. ... Was im wesentlichen die politische Situation in jedem Land charakterisiert, ist die offene Vorherrschaft dieser objektiven Gesetze der kapitalistischen Krise im Weltmaßstab. (Ebd. S. 8)
Diese Erklärung ergab sich aus der ersten und diente als Brücke zu folgender politischer Schlussfolgerung:
3. Die Kapitalistenklasse sieht sich jetzt – und das ist einmalig in der Geschichte – einer Arbeiterklasse gegenüber, die trotz wachsender Massenarbeitslosigkeit revolutionäre Massenerfahrungen als unbesiegte Klasse macht. Mit den revolutionären Massenkämpfen der britischen Bergarbeiter und anderer europäischer Arbeiter geht der wachsende Widerstand der Massen in Lateinamerika, Afrika, dem Nahen Osten und Asien einher, die von derselben unlösbaren Krise vorangetrieben werden. (Ebd., S. 8)
Das ist tatsächlich ohne Beispiel in der Geschichte, weil es eine solche Situation wie die oben beschriebene niemals gegeben hat und niemals geben wird. Alle Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ländern und ihren Kämpfen werden hier vor allem kraft der englischen Sprache hergestellt. In wahrhaft olympischer Manier ordnete Prof. Slaughter sogar an, dass die Arbeitslosigkeit kein wesentlicher Faktor in den konkreten Bedingungen des Klassenkampfes in jedem Land mehr sei.
4. Die Wirklichkeit ist, dass die entscheidenden revolutionären Schlachten bereits im Gange sind. (Ebd.)
Diese Erklärung wurde als eine universelle Wahrheit, anwendbar auf jedes Land, präsentiert. Sie bedeutete, dass diejenigen, die dieses Dokument ernst nahmen, jeden Kampf, wie isoliert und klein er auch sein mochte, als einen der entscheidenden Kämpfe der Revolution sehen mussten – d. h. als einen Kampf, der direkt über Leben und Tod entscheidet. Es gibt daher keinen wesentlichen Unterschied zwischen einem Streik von afrikanischen Goldminenarbeitern, Massendemonstrationen in Haiti und Streiks in den Vereinigten Staaten, an denen sich nur eine Handvoll Arbeiter beteiligen. Eine solche Perspektive konnte diejenigen, die ihre politische Arbeit auf sie gründeten, nur zu den wildesten und törichtsten Abenteuern führen.
5. Jeder einzelne Tag ist eine Bewegung des revolutionären Flusses der Ereignisse – es ist nicht die Frage, dass sich etwas für die Zukunft ‚entwickelt‘. (Ebd., S. 9)
Das bedeutete, dass die revolutionäre Situation überall auf der Welt schon in ihrem „neunten Monat“ war, und dass die Massenbewegung in jedem Land schon den höchstmöglichen Stand der Entwicklung erreicht hatte.
6. Der politische Kampf – in dem sich die Arbeiterklasse und die Sektionen des Internationalen Komitees jetzt befinden – sind Kämpfe, in denen die Frage der Staatsmacht bereits direkt gestellt ist und beantwortet werden muss. (Ebd.)
Slaughter konnte diese Worte schreiben, und – wie Trotzki einmal über kleinbürgerliche Akademiker bemerkte – sie in seine Aktentasche stecken, vergessen und sich am nächsten Morgen in Richtung Bradford- Universität trollen. Aber für die, die diese Worte in verschiedenen Teilen der Welt lasen, hatte ihre Bedeutung weit ernstere Konsequenzen. Während sie Slaughter nicht mehr als einen Nachmittag an seinem Schreibtisch kosteten, konnten sie wirklichen Revolutionären den Kopf kosten.
7. Die objektiven Gesetze herrschen vor, und der Kampf um die Macht steht in jedem Land auf der Tagesordnung, sei es in der Form der Entwicklung, die im Kampf, den Generalstreik zu organisieren in Großbritannien beinhaltet ist, oder in einer anderen Form. (Ebd.)
Dieser Satz stellte alle Kampfformen auf eine Stufe. Er ließ dabei nicht nur den Entwicklungsstand der einzelnen Kämpfe außer Acht, sondern, was für die Strategie des IKVI nicht weniger wichtig war, die sie beherrschenden Klassenkräfte. Mit der Phrase „oder in einer anderen Form“ wurden die Kämpfe verschiedener sozialer Schichten auf eine Stufe gestellt; ihnen wurde in der Perspektive des Internationalen Komitees das gleiche historische Gewicht und die gleiche Bedeutung eingeräumt. Man konnte daher keinen Unterschied machen zwischen Demonstrationen von US-Farmern und Streiks von Schlachtereiarbeitern in Minnesota, oder zwischen Streiks von indischen Eisenbahnarbeitern und der Besetzung des Goldenen Tempels durch die Sikhs, oder dem Bombenanschlag der IRA in Brighton und dem Bergarbeiterstreik. Alle diese Kämpfe wurden lediglich als unterschiedliche „Formen“ desselben universellen Wesens dargestellt. Dadurch wurde die historische Perspektive des IKVI entscheidend von ihrer proletarischen Achse weg verschoben.
8. Die unbesiegte Arbeiterklasse der Vereinigten Staaten tritt gleichzeitig mit der Arbeiterklasse der übrigen Welt in Kämpfe revolutionären Charakters ein. (Ebd. S. 11)
Als diese Zeilen geschrieben wurden, war die Streiktätigkeit in den Vereinigten Staaten im dritten aufeinander folgenden Jahr auf den niedrigsten Stand der gesamten Nachkriegsperiode gefallen. Seit 1981 hatte nicht eine einzige Massendemonstration der Arbeiterklasse stattgefunden. Die Gewerkschaftsmitgliedschaft war unter den Auswirkungen des wiederholten Verrats der AFL-CIO auf den niedrigsten Stand seit mehr als einer Generation gesunken. Mitte 1985 begann eine Reihe von Streiks – darunter auch der erste Stahlstreik seit 25 Jahren. Diese Streiks hatten einen vorwiegend defensiven Charakter und richteten sich gegen Lohnsenkungen und andere tarifvertragliche Verschlechterungen. Keiner der Streiks war politisch, aber die Resolution stellte den Klassenkampf in den Vereinigten Staaten auf dieselbe Ebene wie den Klassenkampf in Südafrika, Brasilien oder Großbritannien. Wenn das gestimmt hätte, dann wäre die Perspektive des Kampfs für den Aufbau einer Arbeiterpartei in den USA als erster Schritt zur politischen Unabhängigkeit der Arbeiterklasse hinfällig geworden – denn es hätte keine Notwendigkeit für dieses Zwischenstadium mehr bestanden.
Tatsächlich hatte die WRP seit 1983 Druck auf die Workers League ausgeübt, ihre Forderung nach dem Aufbau einer Arbeiterpartei in den Vereinigten Staaten fallen zu lassen. In seinem Brief vom Dezember 1983 hatte Slaughter die Workers League angegriffen, weil sie diese Frage in den Mittelpunkt stellte, und im Februar 1984 behauptete Healy, ohne irgendeinen Beweis für seine Vorwürfe anzuführen, dass die Workers League die Forderung nach einer Arbeiterpartei in ein strategisches Ziel verwandele und dadurch den Kampf für den Aufbau der Workers League aufgebe. Healys und Slaughters wirkliche Absicht bestand darin, die amerikanische Sektion zu zwingen, ihre proletarische Orientierung aufzugeben und sich der bankrotten kleinbürgerlichen radikalen Protestbewegung zuzuwenden.
9. Die revolutionäre Klassenkonfrontation, der Kampf um die Macht, die Entwicklung einer ganzen Reihe zusammenhängender, ungleich entwickelter aber vereinter Kämpfe um die Staatsmacht haben jetzt begonnen und stehen nicht einfach bevor. (Ebd., S. 14)
Dieser Satz ist lediglich eine Variation desselben Themas, mit einem Schuss zusätzlicher Verwirrung. Um seiner theoretischen Seele willen fügte Slaughter – das kostet ihn nur ein paar Tropfen Tinte mehr – die Worte hinzu: „ungleich entwickelter“. Aber sobald behauptet wird, dass die vereinten und verbundenen Kämpfe um die Staatsmacht jetzt begonnen haben, und nicht einfach bevorstehen, sind die Worte „ungleich entwickelt“ nichts anderes als leeres Geschwätz. Jedenfalls wurde keine dieser Behauptungen konkret illustriert, sei es mit Beispielen aus der Geschichte oder der aktuellen lebendigen Entwicklung des Klassenkampfes. So erklärte Slaughter nicht den Unterschied zwischen einem Kampf um die Staatsmacht, der jetzt begonnen hat, und einem, der noch bevorsteht. Er bezeichnete nicht den historischen Punkt, an dem der bevorstehende Kampf um die Staatsmacht in einen Kampf verwandelt würde, der bereits stattfand.
Slaughters von der Geschichte und den tatsächlichen Entwicklungen des Klassenkampfes getrennte Abstraktionen waren nicht einfach ein Ergebnis seiner persönlichen theoretischen Verarmung. Die WRP-Führung benötigte genau solch ein Dokument, weil sie keine konkrete Analyse der strategischen Erfahrungen der Partei und des internationalen Klassenkampfes der letzten zehn Jahre dulden konnte.
10. Alle politischen Aufgaben des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und seiner Sektionen ergeben sich aus diesem revolutionären Inhalt der Kämpfe, in die die Arbeiterklasse unausweichlich verwickelt ist. (Ebd.)
Mit diesen Worten versuchte Slaughter, sehr weit auszuholen. Während er von „allen Aufgaben“ sprach, arbeitete Slaughter nicht eine einzige heraus – nicht für das Internationale Komitee, nicht für eine einzige Sektion ... oder auch nur für eine Zelle. Obwohl die antimarxistischen Scharlatane in der Führung der WRP versuchten, Lenins Philosophische Hefte in eine fraktionelle Plattform gegen das Internationale Komitee zu verwandeln, war kein einziger von ihnen zu einer wirklichen dialektischen Analyse fähig. Sie konnten nicht verstehen, weshalb Lenin folgende „ausgezeichnete Formulierung“ aus Hegels Logik zustimmend zitierte: „Nicht nur abstrakt Allgemeines, sondern ein Allgemeines, das den Reichtum des Besonderen, des Individuellen, des Einzelnen in sich fasst.“ (Lenin Werke, Bd. 38, S.91)
Es ist kaum verwunderlich, dass Healy und seine Renegaten-Freunde in dem griechischen IAB nach der Spaltung vom Internationalen Komitee die Autorität der Resolution des 10. Kongresses anriefen. Es war die Art von Dokument, das einen kleinbürgerlichen Demagogen mit genügend geflügelten Worten für ein ganzes Jahr ausstatten konnte. Ihrem Stil und Inhalt nach ähnelt diese Resolution auffallend der Resolution, die Pablo auf der Grundlage des dritten Kongresses von 1951 vorbereitet hatte:
„Die Situation ist überall in unterschiedlichem Maße vorrevolutionär und entwickelt sich in relativ kurzer Zeit zur Revolution.“ (Der Aufbau der revolutionären Partei, Internationales Diskussionsbulletin der SWP, Juni 1952, S.35)
Das Dokument des 10. Kongresses kennzeichnete den Höhepunkt der anti-internationalistischen Raserei der Healy-Slaughter-Banda-Clique. Die trotzkistische Fraktion im Internationalen Komitee der Vierten Internationale hatte die elementare Pflicht, diese reaktionäre Übung in kleinbürgerlicher radikaler Phrasendrescherei zurückzuweisen.
Der 10. Kongress war historisch nur in folgendem Sinne: er bewies, dass die Workers Revolutionary Party jedes Recht auf die Führungsrolle im Internationalen Komitee der Vierten Internationale verspielt hatte.
Sieben Monate nach dem Ende des 10. Kongresses wurden die Delegierten des Internationalen Komitees dringend zu einem Treffen nach London gerufen, das am 17. August 1985 stattfand. Es wurde von Banda geleitet, und es sprachen Healy, Corin Redgrave und Dot Gibson, die für die Finanzen der WRP verantwortlich war. Sie behaupteten, dass es eine ernste finanzielle Krise gebe, die durch unerwartete Steuern, die die Regierung erhoben habe, verursacht worden sei. Die politische Krise, die in der Partei wütete, wurde nicht erwähnt – das Verschwinden von Jennings, die Vorwürfe gegen Healy und die Forderung, dass eine Kontrollkommission seine Aktivitäten untersuchen solle. Die WRP versprach, alles geliehene Geld zurückzuzahlen, und sammelte Verpflichtungen über 84.000 Pfund ein. Während sich inzwischen die Krise in der Führung ihrem Ende näherte, waren die Beziehungen zum IKVI auf die Ebene von Raub und Erpressung herabgesunken.