Zum Gedenken an Wadim S. Rogowin
In seiner Würdigung von Wadim S. Rogovin erklärt David North, was diesen sowjetischen Historiker zu einem bemerkenswerten „Propheten der historischen Wahrheit“ gemacht hat.
Wadim Sacharowitsch Rogowin (Moskau, 10. Mai 1937 – Moskau, 25. September 1998) war der größte russische marxistische Soziologe und Historiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Sein wichtigstes Werk schrieb Rogowin in der Zeit nach der Auflösung der UdSSR. Ab 1992 begann er mit der intensiven Arbeit an einer siebenbändigen Geschichte der revolutionären marxistischen Opposition unter der Führung Leo Trotzkis gegen die stalinistische Degeneration der Sowjetunion. Sechs Bände sind bereits in deutscher Sprache erschienen, der siebte ist in Vorbereitung.
Rogowins Gab es eine Alternative? ist ein unübertroffenes Werk der Geschichtswissenschaft, das die Jahre von 1923 bis 1940 umfasst und für das Verständnis des stalinistischen Regimes und der tief verwurzelten sozialistischen Opposition gegen den Verrat an den Prinzipien und dem Programm der Oktoberrevolution unerlässlich ist. Rogowin dokumentierte die ungeheure Popularität Trotzkis, selbst nach seiner Verbannung aus der Sowjetunion im Jahr 1929, und stellte fest, dass der Hauptzweck von Stalins blutigem Terror in den 1930er Jahren die Auslöschung von Trotzkis politischem Einfluss war.
Vor der Auflösung der Sowjetunion 1991 hatte Rogowin viele Jahre lang, wenn auch unter sehr schwierigen Umständen, an einer soziologischen Analyse des Stalinismus gearbeitet. Rogowin war lange Zeit als Wissenschaftler am Institut für Soziologie in Moskau tätig. Er ergriff den Beruf des Soziologen, weil er einen Rahmen finden wollte, in dem er die soziale Differenzierung der sowjetischen Gesellschaft untersuchen konnte. Seine Forschung konzentrierte sich auf die Ungleichheit im Lebensstil und Konsum, die sozialen und politischen Ursachen für die Probleme der UdSSR in der Arbeitsproduktivität und die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit.
Rogowins Beiträge zur Soziologie, die in großen Zeitschriften und Publikationen veröffentlicht wurden, umfassen Titel wie „Gerechtigkeit als sozialphilosophische und sozioökonomische Kategorie“ (1982), „Der Faktor Mensch und die Lehren der Vergangenheit“ (1984) und „Über Sozialleistungen und Privilegien“ (1989). Er gewann breite Unterstützung, weil er sich offen für soziale Gleichheit einsetzte und sie verteidigte – eine Tatsache, die in der UdSSR zu dieser Zeit weithin anerkannt und sogar von westlichen Wissenschaftlern zur Kenntnis genommen wurde.
In seinem Hauptwerk analysiert Rogowin die politischen Konflikte in der Kommunistischen Partei der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale zwischen 1922 und 1940. Es stützt sich auf Materialien aus zu zuvor geheimen sowjetischen Archiven, die in den 1990er Jahren zugänglich geworden sind, sowie eine Vielzahl von Memoiren. Diese herausragende Buchreihe ist für ein Verständnis des Stalinismus unerlässlich. Die sechs Bände sind als Gesamtausgabe in gebundener Form und im E-Book-Format erhältlich.
Wadim S. Rogowin war Doktor der Philosophie und Professor am Soziologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, wo er die soziale Differenzierung in der sowjetischen Gesellschaft untersuchte. Nach der Auflösung der Sowjetunion 1991 begann Rogowin mit der intensiven Arbeit an seinem Werk »Gab es eine Alternative?«. Bis zu seinem Tod am 18. September 1998 entwickelte sich eine enge Zusammenarbeit mit dem Internationalen Komitee der Vierten Internationale.
„Jede große Revolution stellt Zeitgenossen und Nachfahren vor historische Kardinalfragen, über die noch jahrzehntelang Streit geführt wird. Die grundlegendste Frage, die von der Oktoberrevolution und ihren Folgeerscheinungen aufgeworfen wurde, betrifft den Zusammenhang zwischen Bolschewismus und Stalinismus.“
Im zweiten Band zeigt Rogowin, dass die Opposition gegen das stalinsche bürokratische Regime in den Jahren von 1928 bis 1933 trotz Isolation und Illegalität weiter anwächst und die Bürokratie in ihrer Existenz bedroht. Während Stalin mit der Zwangskollektivierung den Bürgerkrieg gegen die Bauernschaft entfesselt, legen Trotzki und die Linke Opposition in allen Grundfragen des Aufbaus des Sozialismus ein alternatives Programm vor, das viel Unterstützung erhält.
Der stalinsche Terror Ende der dreißiger Jahre übersteigt, wie auch der Holocaust, in seinen Ausmaßen und Gräueln das menschliche Vorstellungsvermögen. Rogowin gelingt es, die gesellschaftlichen Veränderungen in der Sowjetunion 1934–1936 aufzudecken, die den großen Terror möglich und für die herrschende Bürokratie notwendig machten. Er widerlegt all jene, die das anscheinend Unerklärliche der stalinschen Verbrechen nutzten, um sie als notwendiges Ergebnis der sozialistischen Ideen zu bezeichnen.
Die große Säuberung von 1936 bis 1938 in der Sowjetunion war kein irrationaler, sinnloser und krankhafter Gewaltausbruch. Es handelte sich vielmehr um einen präventiven Bürgerkrieg gegen jene sowjetischen und ausländischen Kommunisten, die potentiell oder tatsächlich eine Alternative zu Stalins totalitärem Regime boten. Dieser Band behandelt einen zentralen Wendepunkt in der Geschichte der Sowjetunion.
In diesem Band beleuchtet Rogowin den dritten Schauprozess gegen die alten Bolschewiki in der Sowjetunion, untersucht deren innen- und außenpolitische Ziele und geht der Frage nach, ob es überhaupt Schuldige in den Prozessen gab. Anhand von Flugblättern und Briefen beweist er, dass es zur Zeit der Säuberungen Widerstand in unterschiedlich starker Form gab.
Mit dem Hitler-Stalin-Pakt steht einer der wesentlichen Wegbereiter des Zweiten Weltkriegs im Mittelpunkt dieses Buchs. Es widmet sich zugleich einer detaillierten Geschichte der Linken Opposition gegen den Stalinismus und stützt sich dabei auf sowjetisches Archivmaterial sowie die Schriften Leo Trotzkis. Rogowin zeigt, welche Bedeutung der stalinistische Vernichtungsfeldzug in der Zerschlagung der Weltrevolution und den Kriegsvorbereitungen des Nazi-Regimes hatte.
Dieser Band enthält neben dem Vorwort zu seiner Buchreihe »Gab es eine Alternative zum Stalinismus?« drei Vorlesungen zur Geschichte des Widerstands gegen den Stalinismus in der Sowjetunion, die er 1995 und 1996 an Universitäten in den USA, Großbritannien und Australien hielt. Weiter umfasst das Buch eine Besprechung der verleumderischen Trotzki-Biografie von Dimitri Wolkogonow und eine Studie der sozialen und politischen Hintergründe der Perestroika.
In seiner Würdigung von Wadim S. Rogovin erklärt David North, was diesen sowjetischen Historiker zu einem bemerkenswerten „Propheten der historischen Wahrheit“ gemacht hat.
David North zur Bedeutung des Chronologen der linken Opposition gegen den Stalinismus.
Am 10. Mai wäre der russische marxistische Historiker und Soziologe Wadim S. Rogowin 70 Jahre alt geworden.
Am 21. September ist der sozialistische Historiker Wadim Rogowin in Moskau eingeäschert worden.