Bei einem verheerenden Unglück in einem Kohlebergwerk in der östlichen Ukraine sind am 18. November mehr als 100 Bergleute ums Leben gekommen. In rund 1.000 Meter Tiefe war in der Kohlegrube Sasjadko unweit der Stadt Donezk Methangas ausgetreten und explodiert. Zu diesem Zeitpunkt hielten sich über 450 Männer in dem Stollen auf. Erschwert wurde die Bergung durch ein Feuer, das über mehrere Stunden in dem Schacht wütete. Tage nach dem Unglück werden noch immer Arbeiter vermisst. Für sie besteht keine Hoffnung mehr.
Dieses jüngste Grubenunglück - das schwerste in der Geschichte des Landes - ist nur eines in einer ganzen Reihe von Bergwerksunfällen in der Ukraine, Russland und anderen GUS-Staaten. Es zeigt ein weiteres Mal, welchen blutigen Preis die Arbeiter in den Gebieten der ehemaligen Sowjetunion für die Restauration des Kapitalismus und die Unterordnung wirtschaftlicher Aktivitäten unter das Gesetz des Profits bezahlen.
Erst im September waren im selben Bergwerk 13 Arbeiter bei einem Unfall ums Leben gekommen. Nach Aussagen von Vertretern der Bergbaugewerkschaft wurden daraufhin keinerlei Maßnahmen ergriffen.
Derzeit arbeiten in Sasjadko 10.000 Menschen, die bis zu 10.000 Tonnen Kohle täglich fördern. In den vergangenen Jahren sind in der Grube bei zwei schweren Unglücken bereits mehr als 100 Menschen ums Leben gekommen. Das bislang schwerste Grubenunglück im benachbarten Gebiet Lugansk forderte vor acht Jahren 80 Menschenleben.
Die Grube in Sasjadko wurde 1958 in Betrieb genommen und seither nie grundlegend modernisiert. Von den rund 200 Gruben in der Ukraine sind in den letzten 20 Jahren nur zehn modernisiert worden. Die Technik ist hoffnungslos veraltet und genügt selbst einfachsten Sicherheitsansprüchen in keiner Weise. Dabei gehört die Sasjadko noch nicht einmal zu den ältesten Anlagen der Ukraine. Ein Drittel der Bergwerke im Land ist über einhundert Jahre alt.
Die Mehrzahl der ukrainischen Bergwerke ist völlig marode. In den meisten existieren nicht einmal Sensoren, die einen Gasaustritt melden. Mit dem Alter der Anlagen steigt auch die Unfall- und die Todesrate unter den Arbeitern. Statistisch kamen in der Ukraine in den vergangenen Jahren auf eine Million Tonnen geförderte Kohle fünf tote und 350 verletzte Bergleute. Im Schnitt stirbt täglich ein Bergmann unter Tage.
Der Berliner Tagesspiegel kommentierte dazu: "Das ist der Grund, weshalb in der Ukraine neben den Statistiken für Förderkosten, Preisen und Rentabilität der Grube noch eine weitere Liste geführt wird: Wie viele Menschenleben kostet eine Million Tonnen Kohle? Vor zwanzig Jahren mussten dafür im Durchschnitt 1,54 Bergleute ihr Leben lassen. Zehn Jahre danach waren es 3,62 Arbeiter - Tendenz weiter steigend."
Der Abbau von Kohle zur Gewinnung von Energie ist eine der Haupteinnahmequellen im Osten der Ukraine. Gleichzeitig ist die Wirtschaftlichkeit der Bergwerke nicht zu vergleichen mit denen in anderen Staaten. Ein ukrainischer Bergmann fördert nur rund 100 Tonnen Kohle pro Jahr. Im Vergleich dazu schafft im Nachbarland Polen ein Mann 400 Tonnen, in den Bergwerken der USA gar 4.000 Tonnen Kohle zu Tage.
Um die Bergwerke dennoch profitabel zu betreiben, verzichten die Betreiber auf jegliche Sicherheitsvorkehrungen und auf anständige Löhne. Ein Bergarbeiter verdient durchschnittlich 100 Dollar pro Monat. Dabei kann er sich noch glücklich schätzen, wenn er sie überhaupt bekommt. Nach Schätzungen der Unabhängigen Gewerkschaft der Bergarbeiter stehen zurzeit Löhne in dreistelliger Millionenhöhe aus.
Gerade im Osten des Landes ist die Arbeit in den Bergwerken für die Menschen oft die einzige Chance, für sich und ihre Familien Geld zu verdienen. Bei einem Durchschnittslohn von 80 Dollar pro Monat verdient ein Bergmann noch vergleichsweise gut. Selbst wenn Löhne zeitweise ausbleiben, erhalten die Arbeiter wenigsten Mahlzeiten und ärztliche Versorgung über die Betriebe.
Niedrige Löhne und Akkordarbeit zwingen die Arbeiter dazu, sich in Lebensgefahr zu begeben und Sicherheitsbestimmungen zu missachten. Wie im benachbarten Russland wird ein Teil des Lohnes über die geförderte Menge berechnet. Experten bemängeln dieses System in der Ukraine seit langem, vor allem die Bezahlung der Arbeiter nach Produktionsvolumen. Das setzt sie unter Druck, auch dann weiter zu fördern, wenn die Methangas-Konzentration in den Stollen zu hoch ist.
Die äußerst niedrige Produktivität der ukrainischen Gruben hatte zur Folge, dass in den vergangenen Jahren einige aus Kostengründen geschlossen wurden. Aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit und der prekären sozialen Lage hat sich ein weiteres grausames Phänomen breit gemacht: Mehr und mehr Menschen sind gezwungen, illegal in den stillgelegten Schächten Kohle zu fördern.
Scháchty Otschájanja, Minen der Verzweiflung, werden diese selbst gebauten Schächte genannt. Mit uraltem Gerät und unter ständiger Einsturzgefahr fördern meist ehemalige Bergleute hier für umgerechnet Ein bis Zwei Euro täglich zehn bis zwölf Stunden lang Kohle, die am nächsten Schwarzmarkt verkauft wird. Es gibt natürlich keine Statistiken darüber, aber man kann davon ausgehen, dass in diesen Schächten jedes Jahr einige Dutzend Menschen ihr Leben verlieren.
Direkte Verantwortung der Elite
Präsident Viktor Juschtschenko, der nach dem Unglück nach Donezk reiste und die mittlerweile obligatorische dreitägige Staatstrauer anordnete, hatte zuvor seinem langjährigen Rivalen Premier Viktor Janukowitsch vorgeworfen, er habe es versäumt, den Bergbau zu reformieren und die Sicherheitsstandards zu verbessern. Das ist wohl wahr, aber die Schuld an den immer wiederkehrenden Unglücken trägt die gesamte herrschende Elite des Landes.
Für Unternehmen und Regierung erfüllen die Gruben in der Ukraine eine wichtige Funktion. Sie sparen der Eisenindustrie, die ebenfalls hauptsächlich im Osten angesiedelt ist, und bei der Stromversorgung Devisen für die Beschaffung von Energieressourcen auf dem Weltmarkt. Darüber hinaus bereichern sich Politiker und Staatsbeamte seit langem an den Geldern, die eigentlich für Modernisierungsarbeiten an den Gruben bestimmt sind. Alleine die Weltbank hat der Ukraine in der Vergangenheit mehrere hundert Millionen Dollar für die Sanierung der maroden Gruben zur Verfügung gestellt. Ein großer Teil des Geldes versickerte in dunklen Kanälen.
Wie das gesamte Wirtschaftssystem des Landes ist auch dieser Industriezweig von Korruption gekennzeichnet. Die meisten Gruben sind halbstaatlich und werden von Leuten betrieben, die beste Beziehungen zu den politischen Cliquen unterhalten, die die Ukraine seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion regieren.
Sasjadko ist beispielhaft dafür. Der Aufsichtsratsvorsitzende der Mine ist Jefim Swjagilski, ehemaliger Ministerpräsident und eine einflussreiche Größe des so genannten Donezker-Clans. Swjagilski arbeitete zu Sowjetzeiten als Bergbauingenieur und leitete als Direktor mehrere Schächte. 1990 wurde er zum Volksdeputierten von Donezk gewählt.
Seine hervorragenden Kontakte zu den Machthabern halfen ihm, die Veränderungen im Zuge der Unabhängigkeit des Landes zum weiteren Ausbau seines Einflusses zu nutzen. Swjagilski wurde ab 1992 Vorsitzender des Donezker Stadtrats und 1993 erster Stellvertreter des Ministerpräsidenten der Ukraine. Von September 1993 bis Juni 1994 übte er kommissarisch das Amt des Ministerpräsidenten aus. 1994 wurde er als Abgeordneter in das ukrainische Parlament, die Rada, gewählt. Bis zu dessen Abwahl hatte Swjagilski engen politischen Kontakt zum ehemaligen Staatschef Leonid Kutschma. In seiner Amtszeit als Regierungschef wurden Swjagilski wiederholt illegale Verkäufe von staatlichen Energiereserven vorgeworfen. Dank seiner Beziehungen in die höchsten Ebenen der Justiz wurde allerdings nie gegen ihn ermittelt.
Die Donezker Gruppe ist eine feste Größe in der ukrainischen Politik und übt erheblichen Einfluss, vor allem durch Viktor Janukowitsch aus. Die wirtschaftliche Basis für den politischen Einfluss der Donezker Gruppe bildet die Korporation Industrialny Sojus Donbassa, die 2001 zum zweitgrößten ukrainischen Konzern aufgestiegen ist. Das Unternehmen kontrolliert quasi die gesamten Lieferungen von Kohle und Erdgas an die Industriebetriebe der Region. Zu den Tochterunternehmen gehören neben mehreren Kohlegruben und Industriebetrieben auch der Fußballklub Schachtjor Donezk, dessen Präsident, der Multi-Milliardär Rinat Achmetow, als mächtigster Strippenzieher in der Region gilt. Achmetow finanzierte zum einem großen Teil die Wahlkämpfe Janukowitschs und ist auch Abgeordneter von dessen Partei der Regionen.
Der Grundstein der Macht der Donezker Elite wurde durch die ausschließliche Kontrolle über den Kohlesektor des Landes gelegt. Swjagilski spielte dabei eine Schlüsselrolle. Als wichtiges Mitglied der stalinistischen Machtelite gelang es ihm, neue Eigentumsverhältnisse im Bergbau durchzusetzen.
Die Bergarbeiter der Region galten als militant und Proteste gegen den Ausverkauf des Volkseigentums waren nicht selten. Swjagilski konnte mit Hilfe der lokalen Gewerkschaften die Arbeiter im Zaum halten und der neuen Elite einen profitablen Wirtschaftszweig überlassen. Als die Bergarbeiter im Sommer 1993streikten, soziale und politische Forderungen erhoben und Neuwahlen forderten, übernahm Swjagilski zusammen mit anderen regionalen Größen die Regierung in Kiew, um den "wilden Osten" zu zähmen.
Heute ist Swjagilski Vorsitzender der Aktiengesellschaft, die Sasjadko leitet und für den Tod der Bergleute verantwortlich ist. Seine Haltung ist bezeichnend für die kriminelle, korrupte Elite, die sich auf dem Rücken der einfachen Bevölkerung bereichert und ausschließlich ihre eigenen Interessen verfolgt.
Swjagilski wies jede Verantwortung für das Unglück von sich und erklärte, das Unternehmen habe in den vergangenen Jahren viel Geld in die Sicherheit der Anlage investiert. Als die Empörung von Angehörigen der verstorbenen Bergarbeiter und einiger Medien an den mangelnden Sicherheitsvorkehrungen lauter wurde, erklärte er gegenüber der Zeitung Delo : "Wenn so viele Menschen sterben und keiner die Gründe kennt, dann muss die Mine vielleicht geschlossen werden." Diese Aussage ist an Zynismus und Verachtung kaum mehr zu überbieten. Swjagilski stellt die Arbeiter damit vor die Wahl, die lebensgefährlichen Arbeitsbedingungen zu akzeptieren oder überhaupt keine Arbeit zu haben.