Die historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party

Teil 1

Die US-amerikanische Socialist Equality Party (SEP) hat vom 3. bis 9. August 2008 ihren Gründungskongress durchgeführt. Der Kongress diskutierte und verabschiedete ein Dokument über die "historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party", das wir hier in deutscher Übersetzung in elf Teilen veröffentlichen. Bereits in deutscher Übersetzung erschienen sind ein Bericht über den Gründungskongress und die Grundsatzerklärung der SEP, die ebenfalls vom Gründungskongress verabschiedet wurde.

1. Das Programm der SEP hat prinzipiellen, nicht konjunkturellen oder pragmatischen Charakter. Es gründet sich auf eine Analyse der Krise des Weltkapitalismus und beinhaltet die strategischen Erfahrungen der Arbeiterklasse und der internationalen sozialistischen Bewegung. Das internationale wirtschaftliche und politische System ist seinem Wesen nach imperialistisch. Trotz des technologischen Fortschritts, des Wachstums der Produktivkräfte und der Ausdehnung kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf den gesamten Erdball krankt das kapitalistische Weltsystem an den gleichen unlösbaren Widersprüchen, die im 20. Jahrhundert die Schrecken zweier Weltkriege, Faschismus, eine endlose Reihe regionaler militärischer Konflikte und unzählige brutale politische Diktaturen hervorgebracht haben.

2. Die Grundzüge des Imperialismus, wie Lenin sie während des Ersten Weltkriegs herausgearbeitet hat (monopolitische Konzentration der Produktion, Vorherrschaft des Finanzkapitals und ökonomisches Parasitentum, Streben der Großmächte nach Weltherrschaft auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet, Unterdrückung schwächerer Nationen und eine durchgehende Tendenz zur politischen Reaktion) bestimmen auch die heutige politische und wirtschaftliche Ordnung. Wie 1914 (am Vorabend des Ersten Weltkrieges) und 1939 (am Vorabend des Zweiten Weltkriegs) sind auch heute folgende Widersprüche entscheidend: Der Widerspruch zwischen Weltwirtschaft und Nationalstaatensystem und der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und Privateigentum an den Produktionsmitteln. Diese Widersprüche erzeugen sowohl die Gefahr eines weiteren katastrophalen Weltkriegs wie die objektiven Voraussetzungen für den Sturz des Kapitalismus - den gesellschaftlichen Charakter von Industrie und Finanzwesen, die Globalisierung des wirtschaftlichen Lebens und die gesellschaftliche Macht der Arbeiterklasse.

3. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 riefen die Apologeten der Bourgeoisie das "Ende der Geschichte" aus. Damit meinten sie das "Ende des Sozialismus" und den endgültigen Triumph des Kapitalismus. Die darauf folgenden Ereignisse haben gezeigt, dass die Grabreden für die Revolution, geschweige denn für die Geschichte überhaupt, verfrüht waren. Das 21. Jahrhundert wird nicht weniger stürmisch verlaufen als das zwanzigste. Die internationale Arbeiterklasse wird ohne Frage erneut mit den historischen Problemen konfrontiert, die frühere Generationen nicht lösen konnten.

4. Eine revolutionäre sozialistische Strategie kann nur auf der Grundlage der Lehren aus den vergangenen Kämpfen entwickelt werden. Vor allem erfordert die Ausbildung von Marxisten ein detailliertes Wissen über die Geschichte der Vierten Internationale. Die Entwicklung des Marxismus zum theoretischen und politischen Wegbereiter der sozialistischen Revolution hat ihren höchsten Ausdruck in den Kämpfen der Vierten Internationale seit ihrer Gründung 1938 gefunden. Sie richteten sich gegen den Stalinismus, den Reformismus, den pablistischen Revisionismus und alle anderen Formen des politischen Opportunismus.

5. Politische Übereinstimmung innerhalb der Partei in den wesentlichen Fragen des Programms und der Aufgaben ist nur möglich, wenn Einigkeit in der historischen Einschätzung des 20. Jahrhunderts und seiner strategischen Lehren besteht. Rosa Luxemburg beschrieb die Geschichte einmal als die via dolorosa der Arbeiterklasse. Nur wenn die Arbeiterklasse aus der Geschichte lernt - nicht nur aus ihren Siegen, sondern auch aus ihren Niederlagen -, ist sie auf die Anforderungen vorbereitet, die eine neue Periode revolutionärer Kämpfe an sie stellt.

Ursprung und Entwicklung des Marxismus

6. Die Epoche des Imperialismus bildete sich in ihrer modernen Form während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts heraus. Die rasche Ausbreitung der kapitalistischen Industrie ließ die Arbeiterklasse anwachsen und führte zum Ausbruch von Klassenkämpfen zwischen der Bourgeoisie und dem neuen Industrieproletariat in Europa und Nordamerika. Die Entwicklung des Marxismus hatte diesen historischen Prozess theoretisch vorweggenommen. Das Kommunistische Manifest, erschien im November 1847, am Vorabend der ersten revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse. Das Werk von Karl Marx und Friedrich Engels ersetzte die utopischen Projekte, die auf eine allgemeine Verbesserung der Lage der Menschheit abzielten, durch die Aufdeckung der objektiven Gesetze, nach denen der historische Prozess sich vollzieht. Wie Engels in seinem klassischen Werk, dem Anti-Dühring erklärt, stellte die materialistische Auffassung der Geschichte fest,

"...dass die Produktion, und nächst der Produktion der Austausch ihrer Produkte, die Grundlage aller Gesellschaftsordnung ist; dass in jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft die Verteilung der Produkte, und mit ihr die soziale Gliederung in Klassen oder Stände, sich danach richtet, was und wie produziert und wie das Produzierte ausgetauscht wird. Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche. Die erwachende Einsicht, dass die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen unvernünftig und ungerecht sind, dass Vernunft Unsinn, Wohltat Plage geworden, ist nur ein Anzeichen davon, dass in den Produktionsmethoden und Austauschformen in aller Stille Veränderungen vor sich gegangen sind, zu denen die auf frühere ökonomische Bedingungen zugeschnittne gesellschaftliche Ordnung nicht mehr stimmt. Damit ist zugleich gesagt, dass die Mittel zur Beseitigung der entdeckten Missstände ebenfalls in den veränderten Produktionsverhältnissen selbst - mehr oder minder entwickelt - vorhanden sein müssen. Diese Mittel sind nicht etwa aus dem Kopf zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken."[1]

7. Die Veröffentlichung des Kapitals im Jahr 1867 ermöglichte es der Arbeiterklasse, die Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Produktionsweise zu verstehen. Das Kapital schuf die wissenschaftliche Grundlage für die Entwicklung der modernen sozialistischen Bewegung, auch wenn noch mehrere Jahre vergingen, ehe Marx’ Meisterwerk die Aufmerksamkeit eines bedeutenden Teils der Arbeiterklasse gewinnen konnte. Als dann größere Teile der Arbeiterklasse, besonders in Deutschland, unter den Einfluss des Marxismus kamen, entstanden die sozialen und theoretischen Grundlagen für den Aufbau sozialistischer Massenparteien in ganz Europa. Die Gründung der Zweiten Internationale 1889 war ein Meilenstein im Kampf um die politische Einheit der internationalen Arbeiterklasse. Sie beruhte im Hinblick auf die Entwicklung des Kapitalismus und der Industriearbeiterklasse auf weitaus reiferen objektiven Voraussetzungen, als sie 1864 gegeben waren, als Marx und Engels die Erste Internationale gründeten. Im Zeitraum zwischen 1876, als die Erste Internationale aufgelöst wurde, und 1889 fand ein enormes Wachstums des Kapitalismus und des Industrieproletariats statt. Das nächste Vierteljahrhundert war durch widersprüchliche Strömungen in der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Kapitalismus und der internationalen Arbeiterbewegung geprägt. Oberflächlich betrachtet waren Wirtschaftswachstum und Stabilität vorherrschende Kennzeichen dieser Periode. In diesem Rahmen fand das Wachstum der Arbeiterbewegung, vor allem in Westeuropa, innerhalb der Bahnen des Parlamentarismus und der Gewerkschaften statt. Hinter der scheinbar stabilen Fassade der politischen und wirtschaftlichen Ordnung baute sich im Inneren des kapitalistischen Systems jedoch ein gewaltiger Druck auf. Mit der Entwicklung des Imperialismus im letzten Jahrzehnt des 19. und im ersten des 20. Jahrhunderts verschärften sich die gefährlichen Rivalitäten zwischen den großen kapitalistischen Staaten. Gleichzeitig untergruben zunehmende wirtschaftliche Probleme die Grundlage für Klassenkompromisse und führten zu einer Intensivierung der Klassenspannungen.

8. Diese von Widersprüchen geprägte Entwicklung bildete den Nährboden für die Spannungen innerhalb der Zweiten Internationale und der Sozialdemokratie, und besonders in der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD). Offiziell vertrat die SPD die Auffassung vom Krieg zwischen den Klassen, doch ihr Wachstum war mit dem Wachstum des deutschen Kapitalismus und seiner nationalen Industrie verbunden, die mit der Stärkung des Proletariats und der Gewerkschaften einhergingen. Die Wachstumsperiode des Kapitalismus erlaubte der Bourgeoisie, die Entstehung einer Schicht in der Arbeiterklasse und der Gewerkschaftsbürokratie zu fördern (die Lenin später als "Arbeiteraristokratie" bezeichnete) und deren Interessen mit dem kapitalistischen System zu versöhnen. Dies war die Grundlage für das Anwachsen des Opportunismus in der Zweiten Internationale, der in jedem Land zutage trat. Seine theoretisch weitest entwickelte Form fand dieser Opportunismus in den Schriften Eduard Bernsteins, der die marxistische Analyse der objektiven Widersprüche des kapitalistischen Systems und deren revolutionärer Implikationen zurückwies. Bernstein stellte auch die wissenschaftliche Grundlage der marxistischen Theorie in Frage; stattdessen solle der Sozialismus als moralisches Ideal betrachtet werden, das nicht notwendigerweise in Bezug zu den Gesetzmäßigkeiten der kapitalistischen Entwicklung stehe. Diese Argumente widerspiegelten den breiten Einfluss diverser Strömungen einer subjektiv-idealistischen Philosophie, insbesondere des Neokantianismus, die den marxistischen Materialismus ablehnte.

9. Die Stärke der revisionistischen, antimarxistischen Tendenzen spiegelte nicht die intellektuelle Kraft ihrer Argumente, die in sich unstimmig und impressionistisch waren. Der Revisionismus entwickelte sich vielmehr in einer Zeit der raschen ökonomischen Ausdehnung und des anwachsenden Lebensstandards in Europa. Dadurch bot sich der Arbeiterklasse trotz ihrer sozialistischen Führung keine realistische Möglichkeit zu einem revolutionären Sturm auf die kapitalistische Gesellschaft. So entstand innerhalb der sozialdemokratischen Bewegung, vor allem in Deutschland, ein merkwürdiger Dualismus. Ihre Führer benutzten die Sprache des revolutionären Marxismus, aber die tägliche praktische Arbeit der Partei spielte sich innerhalb der Grenzen des Reformismus ab. Bernsteins Formulierungen widerspiegelten und rechtfertigten diesen reformistischen Charakter der täglichen Praxis der deutschen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften. Die politischen Auswirkungen dieser theoretischen Revision zeigten sich 1899 in Frankreich, als der sozialistische Führer Millerand Minister in einer bürgerlichen Regierung wurde.

Die Ursprünge des Bolschewismus

10. Die bolschewistische Tendenz entstand aus dem Kampf, den Lenin (und auf philosophischem Gebiet Plechanow) gegen revisionistische Strömungen innerhalb der russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei führten. Lenin bestand darauf, dass sich sozialistisches Bewusstsein nicht spontan innerhalb der Arbeiterklasse entwickeln könne, sondern in die Arbeiterbewegung hineingetragen werden müsse. Er stützte sich dabei auf Standpunkte, die Kautsky, der führende Theoretiker der SPD, entwickelt hatte. In seiner wegweisenden Schrift Was tun? zitiert Lenin den folgenden, wichtigen Absatz aus dem Programm der Sozialdemokratischen Partei Österreichs:

"Das moderne sozialistische Bewusstsein kann nur erstehen auf Grund tiefer wissenschaftlicher Einsicht. In der Tat bildet die heutige ökonomische Wissenschaft ebenso eine Vorbedingung sozialistischer Produktion wie etwa die heutige Technik, nur kann das Proletariat beim besten Willen die eine ebenso wenig schaffen wie die andere; sie entstehen beide aus dem heutigen gesellschaftlichen Prozess. Der Träger der Wissenschaft ist aber nicht das Proletariat, sondern die bürgerliche Intelligenz (hervorgehoben von K. K.); in einzelnen Mitgliedern dieser Schicht ist denn auch der moderne Sozialismus entstanden und durch sie erst geistig hervorragenden Proletariern mitgeteilt worden, die ihn dann in den Klassenkampf des Proletariats hineintragen, wo die Verhältnisse es gestatten. Das sozialistische Bewusstsein ist also etwas in den Klassenkampf des Proletariats von außen Hineingetragenes, nicht etwas aus ihm urwüchsig Entstandenes."[2]

11. Die zentrale Aufgabe der revolutionären Partei bestehe darin, die Arbeiterbewegung mit marxistischer Theorie zu durchdringen: " Kann nun von einer selbständigen, von den Arbeitermassen im Verlauf ihrer Bewegung selbst ausgearbeiteten Ideologie keine Rede sein", schrieb Lenin, "so kann die Frage nur so stehen: bürgerliche oder sozialistische Ideologie. Ein Mittelding gibt es hier nicht (denn eine 'dritte' Ideologie hat die Menschheit nicht geschaffen, wie es überhaupt in einer Gesellschaft, die von Klassengegensätzen zerfleischt wird, niemals eine außerhalb der Klassen oder über den Klassen stehende Ideologie geben kann). Darum bedeutet jede Herabminderung der sozialistischen Ideologie, jedes Abschwenken von ihr zugleich eine Stärkung der bürgerlichen Ideologie"[3]. Lenin wandte sich gegen alle Tendenzen, die ihre Arbeit an die spontanen Formen der Aktivitäten der Arbeiterklasse anpassten und die täglichen praktischen Kämpfe von dem weiter gesteckten historischen Ziel der sozialen Revolution trennten. Klarer als jeder andere Sozialist seiner Zeit erkannte Lenin, dass die Entwicklung des Marxismus in der Arbeiterklasse einen ständigen Kampf gegen den politischen und ideologischen Druck der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Tendenzen erforderte. Darin bestand die Bedeutung des Kampfes, den er gegen verschiedene Formen des Revisionismus und Opportunismus über Fragen der Theorie, der politischen Strategie und der Parteiorganisation führte.

12. Der zweite Kongress der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei endete 1903 mit einer Spaltung zwischen der bolschewistischen und der menschewistischen Tendenz. Er war ein Wendepunkt in der Geschichte der revolutionären sozialistischen Bewegung. Obwohl die Spaltung unerwartet wegen Fragen der Parteimitgliedschaft und -organisation eintrat, die auf den ersten Blick als zweitrangig erschienen, wurde nach und nach klar, dass der Konflikt mit dem größeren Problem des politischen Opportunismus in der RSDAP und mit Fragen der politischen Perspektive und des Programms zusammenhing. Zu den organisatorischen Fragen meinte Lenin in Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück : "Der Opportunismus im Programm hängt natürlich zusammen mit dem Opportunismus in der Taktik und dem Opportunismus in organisatorischen Fragen"[4]. Weiter äußerte er: "Der opportunistische Flügel jeder Partei verteidigt und rechtfertig stets jede Rückständigkeit, die programmatische, die taktische und die organisatorische"[5]. Lenin schloss seine Analyse mit einer denkwürdigen Erklärung:

"Das Proletariat besitzt keine andere Waffe im Kampf um die Macht als die Organisation. Durch die Herrschaft der anarchischen Konkurrenz in der bürgerlichen Welt gespalten, durch die unfreie Arbeit für das Kapital niedergedrückt, ständig in den ‚Abgrund’ völliger Verelendung, der Verwilderung und Degradation hinab gestoßen, kann und wird das Proletariat unbedingt nur dadurch eine unbesiegbare Kraft werden, dass seine ideologische Vereinigung auf Grund der Prinzipien des Marxismus gefestigt wird durch die materielle Einheit der Organisation, die Millionen Werktätiger zur Armee der Arbeiterklasse zusammenschweißt."[6]

13. Im Anschluss an den zweiten Kongress traf Lenins kompromissloser Standpunkt in vielen Teilen der RSDAP auf scharfe Kritik, die ihn für die Spaltung verantwortlich machte. Seine Vorgehensweise im innerparteilichen Konflikt wurde von dem jungen Trotzki (der zum Zeitpunkt des Kongresses erst 23 Jahre alt war) und von Rosa Luxemburg scharf kritisiert. Selbst diese hervorragenden Revolutionäre verstanden damals Lenins Einsicht in die materielle Beziehung noch nicht, die zwischen den theoretischen, politischen und organisatorischen Auseinandersetzungen innerhalb der Partei und dem objektiven gesellschaftlichen Prozess der Klassenbeziehungen und Klassenkonflikte außerhalb der Partei besteht. Während damals die meisten Sozialisten dazu neigten, den Konflikt zwischen den Fraktionen der RSDAP als Konflikt zwischen rivalisierenden Strömungen anzusehen, die aus subjektiven Motiven um Einfluss über eine politisch noch ungeprägte Arbeiterklasse kämpfen, interpretierte Lenin den Konflikt als objektiven, historisch bestimmten Ausdruck realer Veränderungen in den Klassenbeziehungen - sowohl zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie, als auch zwischen verschiedenen Schichten innerhalb der Arbeiterklasse. Lenin studierte die Auseinandersetzung zwischen den Strömungen der Partei als "Schlüsselindikator" der Entwicklung der revolutionären Epoche. In dem scharfen Konflikt, der auf dem zweiten Kongress aufbrach, war der wesentliche Punkt, beinhaltet in der Frage des Parteistatuts, die Beziehung der russischen Arbeiterklasse und der RSDAP zur liberalen Bourgeoisie und ihren politischen Parteien. Hinter der opportunistischen Haltung der Menschewiki in Organisationsfragen (wie den Pflichten eines Parteimitglieds), stand ein versöhnlerisches und anpassungsbereites Verhalten gegenüber dem russischen Liberalismus. Als sich im weiteren Verlauf die politische Situation in Russland zuspitzte, traten die Implikationen der Organisationsfragen deutlicher zutage. Wie Trotzki später selbst anerkannte, wuchs sein Verständnis der politischen Methoden Lenins, der vor dem Hintergrund der verhängnisvollen Ereignisse "eine zunehmend korrektere, d.h. bolschewistische Konzeption der Beziehung zwischen Klasse und Partei, zwischen Theorie und Politik und zwischen Politik und Organisation erarbeitete... Was in meinen Augen 'spalterisch', 'trennend'; etc. erschien, kam mir nun wie ein heilsamer und unvergleichlich vorausschauender Kampf für die revolutionäre Unabhängigkeit des Proletariats vor."[7]

Die Theorie der Permanenten Revolution

14. Die Spaltung auf dem Kongress von 1903 war eine Vorwegnahme der gesellschaftlichen Erhebung in Russland. Die Russische Revolution von 1905 warf wesentliche strategische Fragen für die russische Sozialdemokratie auf. Obwohl die Revolution in einer Niederlage endete, hatten die Ereignisse von 1905 die ungeheure gesellschaftliche Kraft der Arbeiterklasse gezeigt, die im Kampf gegen das zaristische Regime die führende Rolle spielte. Vor den Ereignissen von 1905 wurde die Entwicklung von Revolutionen als Zuspitzung nationaler Ereignisse angesehen, deren Erfolg von der Logik der inneren sozioökonomischen Struktur und Verhältnisse bestimmt war. Marxistische Theoretiker hatten angenommen, dass die sozialistische Revolution in den fortgeschrittensten kapitalistischen Ländern Europas (Großbritannien, Deutschland und Frankreich) beginnen würde, und dass die weniger entwickelten Länder (wie Russland) erst ein ausgedehntes Stadium kapitalistischer wirtschaftlicher und bürgerlich demokratischer Entwicklung durchlaufen müssten, bevor sie "reif" für eine proletarische sozialistische Revolution wären. In letzteren Ländern ging man in der Regel davon aus, dass es die Aufgabe der marxistischen Parteien sei, den revolutionären Kampf auf die Verwirklichung einer demokratischen Republik unter der politischen Führung der nationalen Bourgeoisie zu beschränken. Von dieser traditionellen Perspektive leiteten die russischen Menschewiki ihre Politik ab und folgten damit der politischen Strategie, die Plechanow ausgearbeitet hatte. In der Revolution von 1905 erwies sich die Bourgeoisie jedoch als unwillig, die demokratische Revolution gegen den Zaren durchzuführen, und stellte sich stattdessen auf dessen Seite und gegen die Arbeiterklasse.

15. Lenin erklärte im Gegensatz zu den Menschewiki, die Arbeiterklasse müsse die Revolution auf Grund der Schwäche der Bourgeoisie im Bündnis mit der Bauernschaft führen und eine "demokratische Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft" errichten. Diese Formulierung brachte Lenins Entschlossenheit zum Ausdruck, der demokratischen Revolution einen möglichst radikalen Charakter zu verleihen (d.h. für die kompromisslose Zerstörung aller Überbleibsel der Feudalordnung auf dem Lande und die entschlossene Abschaffung der Selbstherrschaft einzutreten). Aber sie definierte die Revolution oder den Staat, der aus ihr hervorgehen sollte, nicht in sozialistischen Begriffen. Die demokratische Diktatur bedeutete nicht notwendig einen Eingriff in die bürgerlich-kapitalistischen Eigentumsverhältnisse. Darüber hinaus war die Formulierung nicht eindeutig, was den Charakter der Staatsform und die Machtverteilung zwischen Proletariat und Bauernschaft anging.

16. In der Theorie der Permanenten Revolution präsentierte Trotzki eine kühnere Lösung für das Problem der demokratischen Revolution im rückständigen Russland. Sie war hinsichtlich des Klassencharakters der Staatsmacht, die aus dem Sturz des Zarenregimes hervorgehen werde, nicht zweideutig wie Lenins Formulierung. Trotzki sagte voraus, dass die Revolution sich nicht auf bürgerlich-demokratische Aufgaben begrenzen lassen, sondern einen sozialistischen Charakter annehmen werde, und dass die Arbeiterklasse die Staatsmacht erobern und ihre Diktatur errichten werde. Trotzki stützte seine Analyse auf die soziale Dynamik der bevorstehenden russischen Revolution und die internationale Entwicklung des kapitalistischen Systems. Der Charakter, die Aufgaben und der Erfolg der russischen Revolution, so betonte er, würden letztlich stärker durch internationale als durch nationale Voraussetzungen bestimmt. Die unmittelbaren Aufgaben, vor denen die russischen Massen stünden, seien zwar bürgerlich-demokratischer Natur - der Sturz der zaristischen Selbstherrschaft und die Abschaffung der Reste des Feudalsystems auf dem Lande -, doch könnten diese Aufgaben weder unter der politischen Führung der nationalen Bourgeoisie, noch im Rahmen einer bürgerlich-demokratischen Republik durchgeführt werden. Die großen Veränderungen in der Weltwirtschaft und die Entstehung der Arbeiterklasse als ungeheuer mächtige soziale Kraft bedeuteten, dass die demokratische Revolution im 20. Jahrhundert sehr anders verlaufen werde als im 19. Jahrhundert. Die russische Bourgeoisie sei in das kapitalistische Weltsystem integriert worden. Sie sei schwach und hänge vom Imperialismus ab. Die demokratischen Aufgaben könnten daher nur durch eine Revolution verwirklicht werden, die von der Arbeiterklasse mit Unterstützung der Bauernschaft durchgeführt werde. Nach der Machteroberung könne die Arbeiterklasse sich jedoch nicht auf demokratische Aufgaben beschränken und werde gezwungen sein, Maßnahmen mit sozialistischem Charakter zu ergreifen. Darüber hinaus könne die soziale Revolution in Russland im nationalen Rahmen nicht Bestand haben. Ihr Überleben hänge von der Ausdehnung der Revolution auf die fortgeschrittenen kapitalistischen Länder und letztlich die ganze Welt ab. Im Juni 1905 schrieb Trotzki:

"Indem der Kapitalismus allen Ländern seine Wirtschafts- und Verkehrsweise aufdrängt, hat er die ganze Welt in einen einzigen ökonomischen und politischen Organismus verwandelt... Das verleiht den sich entwickelnden Ereignissen von Anfang an einen internationalen Charakter und eröffnet eine große Perspektive: die politische Emanzipation, geleitet von der Arbeiterklasse Russlands, hebt diese ihre Führerin auf eine in der Geschichte bisher unbekannte Höhe, legt kolossale Kräfte und Mittel in ihre Hand, lässt sie die weltweite Vernichtung des Kapitalismus beginnen, für die die Geschichte alle objektiven Voraussetzungen geschaffen hat."[8]

Lenins Verteidigung des Materialismus

17. Später bemerkte Trotzki, Lenins Werk zeichne sich durch den höchsten Grad theoretischen Bewusstseins aus. Dies zeigte sich insbesondere in seiner kompromisslosen Verteidigung des Marxismus gegen verschiedene Formen des philosophischen Idealismus und Subjektivismus, der die marxistische Bewegung zu desorientieren drohte. Lenins Entscheidung, ein ganzes Jahr auf die Niederschrift von Materialismus und Empiriokritizismus (1908-09) zu verwenden, zeigt, wie sehr er sich der Gefahr bewusst war, die der weit verbreitete Einfluss des philosophischen Idealismus in der sozialistischen Bewegung darstellte. Dieser Idealismus trat nicht nur in Form des Neo-Kantianismus auf - oft verbunden mit dem Bestreben, den Sozialismus auf Ethik zu gründen -, sondern auch durch offen irrationalistische Auffassungen, die auf den Einfluss Schopenhauers und Nietzsches zurückgingen. Diese Strömungen verstanden die sozialistische Revolution als Produkt des heroischen Willens zur Tat. Lenin betrachtete diesen idealistischen Irrationalismus als unvereinbar mit einem wissenschaftlichen Verständnis der Wirkungsgesetze der kapitalistischen Gesellschaft und der objektiven Grundlagen des revolutionären Kampfes.

18. Lenin beharrte auf dem Standpunkt: "Die Philosophie des Marxismus ist der Materialismus". Der Materialismus sei "die einzige folgerichtige Philosophie, die allen Lehren der Naturwissenschaften treu bleibt, die dem Aberglauben, der Frömmelei usw. feindlich" sei. Er erklärte, dass der Marxismus den Materialismus, wie er im 18. Jahrhundert existiert habe, weiterentwickelt habe, indem er ihn bereicherte "durch die Errungenschaften der deutschen klassischen Philosophie und besonders des Hegelschen Systems, das seinerseits zum Materialismus Feuerbachs geführt hatte". Den großen Beitrag, den die klassische deutsche Philosophie geleistet habe, die Ausarbeitung der Dialektik, definierte Lenin als "die Lehre von der Entwicklung in ihrer vollständigsten, tiefstgehenden und von Einseitigkeit freiesten Gestalt, die Lehre von der Relativität des menschlichen Wissens, das uns eine Widerspiegelung der sich ewig entwickelnden Materie gibt".[9] Am Vorabend des ersten Weltkriegs erklärte Lenin präzise den philosophischen Standpunkts des Marxismus:

"Marx, der den philosophischen Materialismus vertiefte und entwickelte, führte ihn zu Ende und dehnte dessen Erkenntnis der Natur auf die Erkenntnis der menschlichen Gesellschaft aus. Der historische Materialismus von Marx war eine gewaltige Errungenschaft des wissenschaftlichen Denkens. Das Chaos und die Willkür, die bis dahin in den Anschauungen über Geschichte und Politik geherrscht hatten, wurden von einer erstaunlich einheitlichen und harmonischen wissenschaftlichen Theorie abgelöst, die zeigt, wie sich aus einer Form des gesellschaftlichen Lebens, als Folge des Wachsens der Produktivkräfte, eine andere, höhere Form entwickelt - wie zum Beispiel aus dem Feudalismus der Kapitalismus hervorgeht.

Genauso wie die Erkenntnis des Menschen die von ihm unabhängig existierende Natur, d. h. die sich entwickelnde Materie widerspiegelt, so spiegelt die gesellschaftliche Erkenntnis des Menschen (d. h. die verschiedenen philosophischen, religiösen, politischen usw. Anschauungen und Lehren) die ökonomische Struktur der Gesellschaft wider. Die politischen Einrichtungen sind ein Überbau auf der ökonomischen Basis. Wir sehen zum Beispiel, wie die verschiedenen politischen Formen der heutigen europäischen Staaten dazu dienen, die Herrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat zu festigen.

Marx’ Philosophie ist der vollendete philosophische Materialismus, der der Menschheit - insbesondere aber der Arbeiterklasse - mächtige Mittel der Erkenntnis gegeben hat."[10]

19. Angefangen mit Georg Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein von 1922 haben sich akademisch gebildete, in der idealistischen Philosophie geschulte Intellektuelle innerhalb und am Rande der sozialistischen Bewegung immer wieder bemüht, die Dialektik dem Materialismus entgegen zu stellen; das ging soweit, dass sie Werke wie Materialismus und Empiriokritzismus als Beispiele eines "Vulgärmaterialismus" herabwürdigten, den Lenin selbst später abgelehnt habe, nachdem er 1914-15 ein systematisches Studium von Hegels Wissenschaft der Logik unternommen habe. Derartige Behauptungen stützen sich (auch heute noch) nicht nur auf eine grobe Verfälschung der Philosophischen Hefte Lenins, sondern auch seiner gesamten intellektuellen Biographie. Sie spielten eine wichtige Rolle in dem bürgerlichen Angriff auf die Grundlagen und das Erbe des klassischen Marxismus, der vor dem Hintergrund des Triumphs des Stalinismus in der UdSSR, des Aufstiegs des Faschismus in Deutschland und der physischen Vernichtung breiter Schichten theoretisch ausgebildeter Kader in Europa stattfand. Die "Dialektik", die die Idealisten in Worten anerkannten, hat nichts mit der "Lehre von der Entwicklung" zu tun, auf die Lenin sich bezieht, geschweige denn mit der wahrhaft wissenschaftlichen Methode, wie Engels sie beschreibt, die "die Dinge und ihre begrifflichen Abbilder wesentlich in ihrem Zusammenhang, ihrer Verkettung, ihrer Bewegung, ihrem Entstehen und Vergehen auffasst".[11] Es war vielmehr eine "Dialektik", in der die Natur und das materielle Universum, das vor dem und unabhängig vom Menschen existiert, nicht vorkommen. Es war (und ist) die Pseudodialektik einer subjektiv aufgefassten Interaktion unzufriedener Intellektueller und ihrer sozialen Umgebung, in der das Individuum - unabhängig vom Wirken objektiver Gesetze, die die Entwicklung von Natur, Gesellschaft und Bewusstsein bestimmen - frei ist, die Welt so zu "erschaffen", wie es ihm oder ihr gerade passt.

Wird fortgesetzt

 

Anmerkungen
1 Marx-Engels-Werke Band 20, Friedrich Engels: "Anti-Dühring", Dietz-Verlag, Berlin 1975, S. 248-249
2 Lenin, Werke Band 5, "Was tun?", Dietz-Verlag, Berlin 1978, S. 395
3 Ebenda, S. 396
4 Lenin, Werke Band 7, "Ein Schritt vorwärts, zwei zurück", Dietz Verlag, Berlin 1976, S. 402
5 Ebenda, S. 399
6 Ebenda, S. 419-20
7 The Challenge of the Left Opposition (1923-25), "Our Differences", New York, Pathfinder Press 2002, p. 299 (aus dem Englischen)
8 Leo Trotzki, Die permanente Revolution, Arbeiterpresse Verlag, Essen 1993, S. 267-268
9 Lenin, Ausgewählte Werke, "Drei Quellen und drei Bestandteile des Marxismus", Verlag Progress, Moskau 1986, S. 18
10 Ebenda
11 Marx-Engels-Werke, Band 20, Engels: "Anti-Dühring", Dietz Verlag, Berlin 1990, S. 22

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