Die historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party

Teil 2

Die US-amerikanische Socialist Equality Party (SEP) hat vom 3. bis 9. August 2008 ihren Gründungskongress durchgeführt. Der Kongress diskutierte und verabschiedete ein Dokument über die "historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party", das wir hier in deutscher Übersetzung in elf Teilen veröffentlichen. Bereits in deutscher Übersetzung erschienen sind ein Bericht über den Gründungskongress und die Grundsatzerklärung der SEP, die ebenfalls vom Gründungskongress verabschiedet wurde.

Der imperialistische Krieg und der Zusammenbruch der Zweiten Internationale

20. Die Spannungen, die sich im Innern des Weltkapitalismus aufgebaut hatten, entluden sich im Ersten Weltkrieg, der mit all seinen Schrecken die Epoche des "Todeskampfs des Kapitalismus" und der sozialistischen Weltrevolution einläutete. Bereits in den 1880er Jahren hatte Engels vor den Implikationen des kapitalistischen Militarismus und der Kriegsgefahr gewarnt. Vor 1914 hatte die Zweite Internationale auf einer Reihe von Kongressen Manifeste verabschiedet, in denen sie die Arbeiterklasse aufrief, sich einem Kriegsausbruch entgegenzustellen, und, sollte er doch erfolgen, die Krise für eine Volkserhebung zu nutzen, um den Sturz des Kapitalismus zu beschleunigen. Als jedoch der österreichische Erzherzog Franz Ferdinand am 28. Juni 1914 ermordet wurde - was nur der Funke war, der die schon seit langem schwelenden Konflikte in der europäischen Bourgeoisie zur Explosion brachte -, zeigten sich schlagartig die Auswirkungen des Opportunismus, der sich in der sozialistischen Bewegung ausgebreitet hatte. Am 4. August 1914 stimmten die Abgeordneten der SPD für die Kriegskredite, und nahezu alle wichtigen Parteien der Internationale stellten sich hinter die Kriegspolitik ihrer jeweiligen bürgerlichen Regierung.

21. Die Bolschewistische Partei lehnte die Kapitulation der Zweiten Internationale klar ab und wandte sich unter Lenins Führung gegen den Krieg. Nur wenige Wochen nach Kriegsausbruch verfasste Lenin eine Resolution, in der er den Konflikt als "einen bürgerlichen, imperialistischen und dynastischen Krieg" definierte. In der Resolution hieß es:

"Das Verhalten der Führer der deutschen sozialdemokratischen Partei - der stärksten und einflussreichsten Partei der II. Internationale (1889-1914) -, die für das Kriegsbudget gestimmt hat und sich die bürgerlich-chauvinistischen Phrasen der preußischen Junker und der Bourgeoisie zu eigen macht, ist direkter Verrat am Sozialismus. In keinem Fall lässt sich das Verhalten der Führer der deutschen sozialdemokratischen Partei rechtfertigen, selbst dann nicht, wenn man annehmen wollte, diese Partei habe sich infolge absoluter Schwäche vor der Notwendigkeit gestellt gesehen, sich dem Willen der bürgerlichen Mehrheit der Nation vorübergehend zu unterwerfen. In Wirklichkeit treibt diese Partei heute eine nationalliberale Politik."[12]

22. Die Resolution verurteilte das Vorgehen der französischen und belgischen sozialistischen Parteien als "ebenso verwerflich"[13]. Sie stellte dann die tragischen Ereignisse des August 1914 in den notwendigen politischen und historischen Zusammenhang:

"Der Verrat am Sozialismus, den die Mehrheit der Führer der II. Internationale (1889-1914) beging, bedeutet den ideologischen und politischen Zusammenbruch dieser Internationale. Die Hauptursache dieses Zusammenbruchs ist darin zu suchen, dass in ihr faktisch der kleinbürgerliche Opportunismus überwiegt, auf dessen bürgerlichen Charakter und auf dessen Gefährlichkeit die besten Vertreter des revolutionären Proletariats in allen Ländern schon seit langem hingewiesen haben. Die Opportunisten haben den Zusammenbruch der II. Internationale seit langem vorbereitet, indem sie die sozialistische Revolution verneinten und sie durch den bürgerlichen Reformismus ersetzten; indem sie den Klassenkampf und seinen zu bestimmten Zeitpunkten notwendigen Umschlag in den Bürgerkrieg leugneten und die Zusammenarbeit der Klassen predigten; indem sie unter der Flagge des Patriotismus und der Vaterlandsverteidigung den bürgerlichen Chauvinismus predigten und die bereits im ‚Kommunistischen Manifest’ dargelegte Grundwahrheit des Sozialismus, dass die Arbeiter kein Vaterland haben, ignorierten oder bestritten; indem sie sich im Kampf gegen den Militarismus auf einen spießbürgerlich-sentimentalen Standpunkt beschränkten, anstatt anzuerkennen, dass die Proletarier aller Länder gegen die Bourgeoisie aller Länder einen revolutionären Krieg führen müssen; indem sie aus der notwendigen Ausnutzung des bürgerlichen Parlamentarismus und der bürgerlichen Legalität einen Fetischkult dieser Legalität machten und die unumgängliche Pflicht, in Krisenzeiten illegale Formen der Organisation und Agitation zu schaffen, der Vergessenheit preisgaben."[14]

23. Lenin beharrte darauf, dass die Kapitulation der Zweiten Internationale das Ende dieser Organisation als Instrument des revolutionären Kampfs bedeute. Es war daher notwendig, mit dem Aufbau einer neuen, der Dritten Internationale, zu beginnen. Diese neue Internationale müsste sich auf einen kompromisslosen Kampf gegen den Opportunismus gründen, der sich 1914 als Agentur des Imperialismus in der internationalen Arbeiterbewegung erwiesen habe. Lenin wandte sich gegen alle Erklärungen, die den Zusammenbruch der Zweiten Internationale als Ergebnis individueller Fehler und Schwächen zu verharmlosen suchten. "Auf jeden Fall" schrieb Lenin, "ist es unsinnig, die Frage nach dem Kampf der Richtungen und dem Wechsel der Epochen der Arbeiterbewegung durch die Frage nach der Rolle einzelner Personen zu ersetzen"[15]. Wie Lenin vorhersah, beschleunigte die Spaltung zwischen Marxismus und Opportunismus eine grundlegende Neugruppierung der Arbeiterbewegung zwischen nationalistischen Chauvinisten und internationalistischen Strömungen, die sich in allen Ländern vollzog. Aus dieser Spaltung sollten später die neuen Kommunistischen Parteien hervorgehen.

24. Der Erste Weltkrieg hatte tiefe Ursachen in der Entwicklung des Kapitalismus, insbesondere in dem Widerspruch zwischen der zunehmend globalisierten Wirtschaft und dem kapitalistischen Nationalstaatensystem. Trotzki schrieb 1915: "Der Kern des gegenwärtigen Krieges ist der Aufruhr der Produktivkräfte, die den Kapitalismus erzeugten, gegen ihre nationalstaatliche Ausbeutungsform... Der Krieg von 1914 bedeutet vor allem die Zertrümmerung des nationalen Staates als eines selbständigen Wirtschaftsgebietes... Der Krieg von 1914 ist der größte Zusammenbruch eines an seinen eigenen Widersprüchen zugrunde gehenden ökonomischen Systems, den die Geschichte kennt"[16]. Dies bedeutete gleichzeitig, dass die alten sozialdemokratischen Parteien, die in einer Periode des kolossalen Wachstums der Nationalwirtschaften entstanden waren, durch den Zusammenbruch der vertrauten Bedingungen, unter denen sich ihre politische Routine während mehrerer Jahrzehnte herausgebildet hatten, in ihren Grundfesten erschüttert wurden. Die formale theoretische und rhetorische Verteidigung der revolutionären Perspektive war mit einer überwiegend reformistischen Praxis sorgsam ausbalanciert worden. Aber die veränderten Bedingungen machten die Fortsetzung der doppelten theoretischen und politischen Buchführung unmöglich. "In ihrem historischen Zusammenbruch ziehen die nationalen Staaten die nationalen sozialistischen Parteien mit... Wie die nationalen Staaten zu einem Hemmnis für die Entwicklung der Produktivkräfte wurden, so auch die alten sozialistischen Parteien zum Haupthindernis für die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse."[17]

25. Bei der Erforschung der Ursachen des Opportunismus der Zweiten Internationale analysierte Lenin die wesentlichen ökonomischen und sozio-politischen Veränderungen in der Struktur des Weltkapitalismus, die mit der Entstehung des Imperialismus einhergingen. Er kritisierte die Formulierungen Karl Kautskys, des Theoretikers der deutschen Sozialdemokratie, der im August 1914 vor den Opportunisten kapituliert hatte. Lenin widersprach Kautskys Behauptung, der Imperialismus sei lediglich eine "bevorzugte" Politik. Er erklärte dagegen:

"Der Imperialismus ist ein besonderes historisches Stadium des Kapitalismus. Diese Besonderheit ist eine dreifache: der Imperialismus ist: 1. ein monopolistischer Kapitalismus; 2. parasitärer oder faulender Kapitalismus; 3. sterbender Kapitalismus. Die Ablösung der freien Konkurrenz durch das Monopol ist der ökonomische Grundzug, das Wesen des Imperialismus."[18]

26. Lenin wies auch Kautskys Theorie des "Ultra-Imperialismus" zurück, wonach es möglich sei, auf friedliche, nicht-gewaltsame Weise eine nicht-imperialistische Regelung der Weltwirtschaft und der Beziehungen zwischen den mächtigsten kapitalistischen Mächten zu erreichen.

"Wesentlich ist, dass Kautsky die Politik des Imperialismus von seiner Ökonomik trennt, indem er von Annexionen als der vom Finanzkapital ‚bevorzugten’ Politik spricht und ihr eine angeblich mögliche andere bürgerliche Politik auf derselben Basis des Finanzkapitals entgegenstellt. Es kommt so heraus, als ob die Monopole in der Wirtschaft vereinbar wären mit einem nicht monopolitischen, nicht gewalttätigen, nicht annexionistischen Vorgehen in der Politik. Als ob die territoriale Aufteilung der Welt, die gerade in der Epoche des Finanzkapitals beendet wurde und die die Grundlage für die Eigenart der jetzigen Formen des Wettkampfs zwischen den kapitalistischen Großstaaten bildet, vereinbar wäre mit einer nicht imperialistischen Politik. Das Resultat ist eine Vertuschung, eine Abstumpfung der fundamentalsten Widersprüche des jüngsten Stadiums des Kapitalismus statt einer Enthüllung ihrer Tiefe, das Resultat ist bürgerlicher Reformismus statt Marxismus."[19]

Die Permanente Revolution bewahrheitet sich in der Russischen Revolution

27. Zwischen 1914 und 1917 sahen Lenin und Trotzki voraus, dass der imperialistische Krieg revolutionäre Erhebungen in Europa auf die Tagesordnung setzen würde. Diese Perspektive bewahrheitete sich mit dem Ausbruch der Februarrevolution, die sich durch den Krieg und die extreme Verschlimmerung der Krise der russischen Gesellschaft entwickelte. Nach dem Sturz des Zaren in der Februarrevolution von 1917 stellten sich die Menschewiki auf die Seite der bürgerlichen Provisorischen Regierung und waren gegen eine Revolution der Arbeiterklasse. Die Provisorische Regierung verteidigte die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, führte den Krieg fort und lehnte die Verteilung von Land an die Bauern ab. Lenin kehrte im April nach Russland zurück und rief die Arbeiterklasse zum Widerstand gegen die Provisorische Regierung und zur Übernahme der Macht durch die Sowjets auf. Damit gab er durch sein konkretes Handeln die Losung von der demokratischen Diktatur auf, die seit langem gültiges Programm der Bolschewiki gewesen war. Lenins Position bestätigte und unterstützte in allen wesentlichen Punkten Trotzkis Theorie der Permanenten Revolution, die mit außerordentlicher Präzision den tatsächlichen Verlauf der revolutionären Entwicklung vorweggenommen und theoretisch und politisch die Grundlage für Lenins entscheidende Umorientierung der Bolschewistischen Partei im April 1917 gelegt hatte. Als Lenin Trotzkis Perspektive übernahm, wurde er heftig von vielen "Alten Bolschewiki", einschließlich Stalin, angegriffen. Vor Lenins Rückkehr nach Russland im April 1917 vertrat Stalin als Herausgeber der Prawda, der Zeitung der Bolschewiki, die Position, die Provisorische Regierung kritisch zu unterstützen. Auch trat er für die Weiterführung des Kriegs ein.

28. In den Monaten vor dem Sturz der Provisorischen Regierung studierte Lenin intensiv die Schriften von Marx und Engels über den Staat. Mit dieser Arbeit antwortete er auf die Opportunisten, die sich bemühten, den Staat als eine über den Klassen stehende Instanz darzustellen, die dazu diene, die Differenzen zwischen den Klassen zu versöhnen und den Schiedsrichter zwischen ihnen zu spielen. Lenin legte großen Wert auf Engels Definition des Staates als Zwangsinstrument, das die Bourgeoisie nutzt, um ihre Herrschaft zu verteidigen und die Arbeiterklasse zu unterdrücken und auszubeuten. Diese Definition, so argumentierte Lenin, habe im 20. Jahrhundert nichts an Bedeutung eingebüßt. Im Gegenteil:

"Insbesondere aber weist der Imperialismus, weist die Epoche des Bankkapitals, die Epoche der gigantischen kapitalistischen Monopole, die Epoche des Hinüberwachsens des monopolistischen Kapitalismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine ungewöhnliche Stärkung der ‚Staatsmaschinerie’ auf, ein unerhörtes Anwachsen ihres Beamten- und Militärapparats in Verbindung mit verstärkten Repressalien gegen das Proletariat sowohl in den monarchistischen als auch in den freiesten, republikanischen Ländern."[20]

29. Im Oktober 1917, als die Bolschewiki die Mehrheit im Petersburger Sowjet gewonnen hatten, organisierten sie unter der Führung Trotzkis einen Aufstand, stürzten die Provisorische Regierung und übergaben die Macht den Sowjets. Ernsthafte historische Forschungen haben alle Behauptungen widerlegt, es habe sich bei der Oktoberrevolution um einen verschwörerischen "Putsch" gehandelt, den die Bolschewiki ohne Massenunterstützung unternommen hätten[21]. In Wirklichkeit gab es in der Arbeiterklasse von Petersburg, der russischen Hauptstadt, überwältigende Unterstützung für den Sturz des bürgerlichen Regimes. Erhebliche Widerstände gab es jedoch innerhalb der bolschewistischen Führung. Lev Kamenew und Grigori Sinowjew, die zu Lenins engsten Mitarbeitern gehörten, waren überzeugt, dass ein Aufstand in einer Katastrophe enden würde. Sie sahen unüberwindbare Hindernisse für den Sieg der Revolution voraus. Sie wiesen darauf hin, dass Kerenski, der Führer der Provisorischen Regierung, immer noch über erhebliche militärische Truppen verfüge, und dass rund um die Hauptstadt Artillerie postiert sei. Wie sich herausstellte, lagen die bolschewistischen Gegner des Aufstands mit ihrer Einschätzung weit daneben. Der Sturz der Provisorischen Regierung wurde recht leicht und ohne viel Blutvergießen bewerkstelligt. Trotzki schrieb später über die Bedeutung des Kampfs innerhalb der Bolschewistischen Partei:

"Es gibt zwei Führertypen, die die Neigung haben, die Partei aufzuhalten, und zwar in dem Moment, in dem sie den bedeutendsten Schritt vorwärts machen soll. Die einen sind geneigt, auf dem Wege der Revolution vor allem Schwierigkeiten und Hindernisse zu sehen, und betrachten jedes Moment mit der, wenn auch nicht immer bewussten Absicht, der Tat auszuweichen. Der Marxismus dient ihnen nur dazu, die Unmöglichkeit der revolutionären Tat zu begründen. In den russischen Menschewisten sehen wir diesen Typus in Reinkultur. Aber an und für sich ist dieser Typus nicht nur im Menschewismus vertreten, sondern er kommt in dem allerkritischsten Momente, auf verantwortungsvoller Stelle auch in den am meisten revolutionären Parteien zum Vorschein.

Die Vertreter des anderen Typus zeichnen sich durch ihren oberflächlich-agitatorischen Charakter aus. Diese sehen nirgends Hindernisse, solange sie nicht mit dem Kopf an die Wand stoßen. Sie setzen sich über alle Schwierigkeiten hinweg und haben eine große Geschicklichkeit, reale Hindernisse mit Hilfe gewandter Redewendungen zu umgehen. Sie bekunden in allen Fragen den größten Optimismus, der unvermeidlich in sein Gegenteil umschlägt, sobald die Stunde der entscheidenden Tat geschlagen hat. Für den ersten Typus, den kleingläubigen Revolutionär, bestehen die Schwierigkeiten der Machtergreifung nur in der Anhäufung und Vergrößerung derjenigen Schwierigkeiten, die er gewöhnt ist, sich vor seine Augen zu führen. Für den zweiten Typus, den oberflächlichen Optimisten, entstehen die Schwierigkeiten immer ganz unerwartet. In der Vorbereitungszeit ist das Verhalten der beiden verschieden, der eine ist skeptisch und man kann sich auf ihn im revolutionären Sinne nicht sehr verlassen, dafür kann der andere als der unbändige Revolutionär erscheinen. In dem entscheidenden Moment gehen beide Hand in Hand und bäumen sich gegen den Aufstand."[22]

30. Die Russische Revolution war ein Ansporn für Erhebungen auf der ganzen Welt. Die revolutionäre Regierung rief zur Beendigung des Krieges auf und veröffentlichte Geheimverträge, die die imperialistischen Bestrebungen der Kriegführenden offen legten, und rief die Arbeiter auf, sich gegen ihre Regierungen zu erheben. Die Menschewiki lehnten den Sturz der Provisorischen Regierung weiterhin kompromisslos ab, obwohl die von den Bolschewiki geführte Revolution sich großer Unterstützung erfreute. Sogar nach dem Sturz der Provisorischen Regierung wiesen die Menschewiki die Bemühungen gemäßigter Bolschewiki wie Kamenew zurück, der sie in eine sozialistische Koalitionsregierung einbinden wollte. Die Menschewiki bestanden darauf, dass ihr Preis für jegliche Zusammenarbeit mit den Bolschewiki nicht nur die Entfernung von Lenin und Trotzki aus allen Machtpositionen, sondern auch ihre Auslieferung an die Polizeibehörden sei!

31. Hätte die Bolschewistische Partei nicht die Macht erobert, wäre eine Konterrevolution die sichere Folge gewesen, das Zarenregime wäre wieder hergestellt oder eine Militärdiktatur errichtet worden. Nachdem sich die Bourgeoisie und ihre imperialistischen Unterstützer vom ersten Schock erholt hatten, zettelten sie einen Bürgerkrieg an, der das revolutionäre Regime stürzen sollte. Unter Leitung Trotzkis wurde die Rote Armee aufgebaut, um die Sowjetherrschaft gegen die Konterrevolution zu verteidigen. Trotzki erwies sich als genialer militärischer Stratege und Organisator. Sein Erfolg als Führer der Roten Armee war Ausdruck seines unvergleichlichen Verständnisses der objektiven Aufgaben, vor denen die Arbeiterklasse stand, und seiner Fähigkeit, dieses Verständnis den Massen nahe zu bringen. In einer Rede im April 1918 erklärte er:

"Die Geschichte ist keine nachsichtige, sanfte Mutter, die die Arbeiterklasse beschützt: Sie ist eine böse Stiefmutter, die die Arbeiter durch blutige Erfahrungen lehrt, wie sie ihre Ziele erreichen müssen. Die arbeitenden Menschen neigen rasch dazu, zu vergeben und zu vergessen: Schon wenn der Kampf etwas leichter geworden ist, wenn sie überhaupt etwas erreicht haben, scheint ihnen die Hauptarbeit bereits getan, und sie sind gerne bereit, großherzig zu sein, in Passivität zu verfallen, den Kampf einzustellen. Darin liegt ein Unglück für die arbeitenden Menschen. Aber die besitzenden Klassen geben niemals den Kampf auf. Ihre Erziehung hat sie gelehrt, dem Druck der arbeitenden Massen unablässig Widerstand entgegenzusetzen, und jede Passivität, Unentschlossenheit oder Schwanken unsererseits setzt unsere verwundbaren Stellen den Schlägen der besitzenden Klassen aus, so dass sie unweigerlich bei nächster Gelegenheit einen neuen Angriff auf uns starten. Die Arbeiterklasse benötigt nicht das allgemeine Vergeben, das Tolstoi predigte, sondern Härte, Unnachgiebigkeit, die felsenfeste Überzeugung, dass es ohne Kampf um jeden, auch den kleinsten Schritt vorwärts zur Verbesserung ihres Lebens, ohne unablässigen, unversöhnlich harten Kampf und ohne Organisation dieses Kampfs keine Rettung und Befreiung geben kann."[23]

32. Die Bolschewiki waren überzeugt, dass das Schicksal der russischen Revolution von der Ausdehnung der Revolution über die Grenzen Russlands hinaus abhing. Diese Auffassung wurde von den besten Repräsentanten des internationalen Sozialismus vertreten. Die Bolschewiki verteidigend, schrieb Rosa Luxemburg: "In dieser Beziehung waren Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit gutem Beispiel vorangegangen sind, sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Hutten ausrufen können: Ich hab’s gewagt!" Die Russische Revolution habe die Frage des Sozialismus aus einer rein theoretischen in eine praktische Frage verwandelt. Luxemburg betonte jedoch, dass das Schicksal der russischen Revolution vom Ergebnis des Klassenkampfs außerhalb der Grenzen Russlands abhänge. "In Russland konnte das Problem nur gestellt werden", schrieb sie. "Es konnte nicht in Russland gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem Bolschewismus."[24] Die Bourgeoisie sah in den entstehenden revolutionären Bewegungen ihre gefährlichsten Gegner. Die vereinten Kräfte des Weltimperialismus organisierten zur Unterstützung der Konterrevolution eine Intervention in Russland. In Deutschland organisierten die konterrevolutionären Kräfte im Bündnis mit der Sozialdemokratie, die durch einen Aufstand der Arbeiterklasse 1918 an die Macht gekommen war, im Januar 1919 die Ermordung Rosa Luxemburgs und Karl Liebknechts. Die Ermordung dieser beiden revolutionären Führer war die politische Antwort der deutschen (und internationalen) Bourgeoisie auf die russische Revolution. Die herrschenden Klassen hatten aus 1917 den Schluss gezogen, dass der Aufbau einer marxistischen Führung in der Arbeiterklasse um jeden Preis verhindert werden musste. Die blutigen Ereignisse des 20. Jahrhunderts haben bewiesen, dass diese Lehre den herrschenden Klassen und ihren Agenten unter den Sozialdemokraten und Stalinisten als Richtschnur diente.

Die Kommunistische Internationale

33. Die Dritte, Kommunistische Internationale oder Komintern hielt in Moskau im März 1919 ihren ersten Kongress ab. Die Sowjetunion verteidigte sich noch immer gegen die konterrevolutionären Truppen, die von den Imperialisten unterstützt wurden. Im Belagerungszustand erarbeitete die Kommunistische Internationale ein Programm für die Strategie und Taktik der Weltrevolution als praktische Aufgabe, vor der die internationale Arbeiterklasse stand. Aus den tragischen Ereignissen von 1914 zog die Kommunistische Internationale die Lehre, sich auf einen kompromisslosen Kampf gegen Opportunismus und Revisionismus zu gründen, die den Untergang der Zweiten Internationale verursacht hatten. Am 30. Juli 1920 sprach Trotzki die einführenden Worte zu den Leitsätzen über die Bedingungen der Aufnahme in die Kommunistische Internationale. Diese enthielten die so genannten "21 Punkte", welche die Bedingungen für die Mitgliedschaft in der internationalen revolutionären Organisation definierten. Demnach musste jede Organisation, die sich der Komintern anschließen wollte, "regelrecht und planmäßig aus allen mehr oder weniger verantwortlichen Posten der Arbeiterbewegung... die reformistischen und Zentrumsleute entfernen", sie sei außerdem "verpflichtet, den vollen Bruch mit dem Reformismus und der Politik des ‚Zentrums’ anzuerkennen".[25]

34. Trotzki erklärte, dass die Komintern als "Schule der revolutionären Strategie" gegründet wurde, die die Entwicklung neuer Kommunistischer Parteien überall auf der Welt betreuen und sich dabei auf ein Verständnis der objektiven Lage, die Ausarbeitung korrekter Taktiken und den Kampf gegen Opportunismus stützen müsse. Er schrieb: "Die Aufgabe der Arbeiterklasse in Europa und auf der ganzen Welt besteht darin, der gründlich durchdachten Strategie der Bourgeoisie ihre eigene revolutionäre Strategie entgegenzusetzen, die ebenso bis ins Detail durchdacht sein muss. Dazu muss man zuallererst verstehen, dass der Sturz der Bourgeoisie nicht automatisch, mechanisch erfolgen kann, nur weil sie von der Geschichte verdammt ist."[26]

35. Am Ende des Ersten Weltkriegs bestand unmittelbar die Möglichkeit zur Ausdehnung der Revolution. Im November 1918 führte der Ausbruch der Revolution in Deutschland rasch zur Abdankung des Kaisers und der Ausrufung der Republik. Die politische Macht fiel der SPD in die Hände, die alles daran setzte, die Revolution abzuwürgen. Im Gegensatz zur Lage in Russland achtzehn Monate zuvor gab es in Deutschland keine politisch entwickelte Partei, die durch viele Jahre unnachgiebigen Kampfes gegen Revisionismus und Zentrismus gestählt war. Die linken Gegner der SPD hatten viel zu lange gezögert, einen klaren organisatorischen Bruch mit der Sozialdemokratischen Partei zu vollziehen. Eine beträchtliche Fraktion dieser Opposition befand sich auf halbem Wege zwischen SPD und Bolschewismus. Erst Ende Dezember 1918 gründete die revolutionärste Fraktion in Deutschland, der Spartakusbund, die Kommunistische Partei. Dann brach im Januar 1919, wenig vorbereitet und ohne strategischen Plan, ein Aufstand in Berlin aus. Die SPD-Regierung mobilisierte rechtsgerichtete Freikorps, um den Aufstand niederzuschlagen, und billigte den Mord an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.

36. Es folgten weitere Niederlagen der aufständischen Arbeiterklasse in ganz Europa. Im März 1921 wurde ein verfrühter und schlecht vorbereiteter Aufstand von der Staatsmacht in Deutschland niedergeworfen. Auf dem dritten Kongress der Kommunistischen Internationale intervenierten Lenin und Trotzki entschieden gegen den "Linksradikalismus". Kommunistische Parteien, so betonten sie, könnten die Macht nicht erobern, ohne zuerst die Unterstützung der Massen zu gewinnen. Eine von Lenin geschriebene Broschüre mit dem Titel Der "linke Radikalismus", die Kinderkrankheit im Kommunismus wurde unter den Kongressdelegierten verteilt. Darin führte Lenin aus, dass die Bolschewistische Partei sich nicht nur auf den Kampf gegen den Menschewismus gründe, sondern ebenso auf den Kampf "gegen den kleinbürgerlichen Revolutionarismus, der dem Anarchismus ähnelt oder manches von ihm entlehnt, und der in allem, aber auch allem Wesentlichen von den Bedingungen und Erfordernissen des konsequenten proletarischen Klassenkampfes abweicht."[27]

37. Lenin erklärte, der Sieg der Bolschewiki wäre im Oktober 1917 nicht möglich gewesen, wenn die revolutionäre Partei nicht zuvor viele Formen politischer Kämpfe geführt und beherrscht hätte. Er wies radikale Phrasendrescherei zurück, die politische Kompromisse unter allen Umständen ablehnte, die Legitimität der Teilnahme an Wahlen oder am Parlament leugnete und es für unverzeihlich hielt, in den reaktionären Gewerkschaften zu arbeiten. Der dritte Kongress riet den Kommunistischen Parteien, sich auf eine längere Periode vorzubereiten, in der sie sich die Gefolgschaft der Arbeiterklasse erarbeiten müssten. Zu den taktischen Initiativen, die Lenin und Trotzki vorschlugen, gehörte die Forderung nach einer "Einheitsfront" der Massenorganisationen der Arbeiterklasse. Der Zweck der "Einheitsfront" bestand darin, die Verteidigung der Arbeiterklasse zu organisieren oder den Kampf für wichtige Forderungen in einer Weise aufzunehmen, dass den Massen sowohl die revolutionäre Initiative der Kommunistischen Parteien als auch die Niedertracht der Sozialdemokraten vor Augen geführt würde. Zweck der Einheitsfront war es nicht, politische Gegner zu amnestieren oder sie von Kritik auszusparen. Vielmehr sollte diese Taktik dem objektiven Bedürfnis der Arbeiterklasse nach Einheit im Kampf entsprechen und gleichzeitig ihr politisches Bewusstsein schärfen, indem ihre opportunistische Führung bloßgestellt wurde.

38. Der politische Kurswechsel durch den Dritten Kongress führte zu einem deutlichen Fortschritt. Besonders in Deutschland gewann die Kommunistische Partei erheblich an Autorität. Aber Anfang 1923 änderte sich die politische Lage dramatisch. Der katastrophale Zusammenbruch der Wirtschaft im Frühjahr, dem eine bespiellose Inflation folgte, setzte einen Prozess in Gang, der scheinbar unausweichlich zum revolutionären Sturz des bürgerlichen Staates führte. Die Mitgliedschaft der diskreditierten SPD schmolz dahin, während die der Kommunistischen Partei rasch anwuchs. Im Oktober 1923 schienen die Bedingungen für eine erfolgreiche Revolution außerordentlich günstig zu sein. Der 25. Oktober, der sechste Jahrestag der russischen Oktoberrevolution, wurde als Datum für den Aufstand festgelegt. Dann sagte der damalige Vorsitzende der KPD, Heinrich Brandler, den Aufstand im letzten Moment ab. Rasch unterdrückten die staatlichen Truppen isolierte Aufstandsbewegungen in Städten, in denen örtliche Führer nichts von der Entscheidung, den Aufstand abzusagen, erfahren hatten. So endete der deutsche Oktober statt in einer Revolution in einem politischen Fiasko.

39. Für Trotzki war das Scheitern der deutschen Revolution 1923 ein negativer Beweis für die maßgebliche politische Wahrheit, dass der subjektive Faktor der Führung in dem Moment entscheidende Bedeutung für den Kampf um die Macht erhält, wenn die objektiven Bedingungen für die Revolution vorhanden sind. Darüber hinaus konstatierte er, die historische Erfahrung habe gezeigt, dass der Übergang zum Kampf um die Macht innerhalb der revolutionären Partei ausnahmslos zu einer ernsten politischen Krise führt. Derartige Krisen haben enorme Bedeutung, und die Art und Weise, wie sie bewältigt werden, kann das Schicksal der Revolution auf Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinaus entscheiden. Trotzki schrieb:

"Die revolutionäre Partei befindet sich unter dem Druck fremder politischer Kräfte; in jeder Periode ihres Bestehens entwickelt sie andere Mittel, diesen Kräften zu widerstehen und sich ihnen entgegenzusetzen. Bei einer taktischen Neuorientierung und den damit verbundenen inneren Reibungen schwindet die Kraft, sich den zerstörenden äußeren Kräften zu widersetzen. Es besteht daher die Gefahr, dass innere Umgestaltungen der Partei, die im Hinblick auf die Notwendigkeit der taktischen Neuorientierung entstehen, über das Ziel hinauswachsen und verschiedenen Klassentendenzen als Stützpunkt dienen. Einfacher ausgedrückt: eine Partei, die mit den historischen Aufgaben ihrer Klasse nicht Schritt hält, läuft Gefahr, zum indirekten Werkzeug anderer Klassen zu werden oder wird es auch tatsächlich."[28]

Die Ursprünge des Stalinismus und die Gründung der Linken Opposition

40. Die Niederlage der deutschen Revolution 1923 trug dazu bei, die konservativen Strömungen zu stärken, die sich innerhalb des Sowjetstaats und der Parteibürokratie entwickelten. Diese Strömungen waren verstärkt aufgetreten, nachdem das Sowjetregime im Frühjahr 1921 die Neue Ökonomische Politik (NEP) eingeführt hatte. Die NEP ließ eine Wiederbelebung des kapitalistischen Marktes zu und machte bedeutende wirtschaftliche Zugeständnisse an kapitalistische Schichten in den Städten und auf dem Lande. Zweck dieser Zugeständnisse war es, die wirtschaftlichen Aktivitäten wiederzubeleben, die durch Revolutions- und Kriegsjahre weitgehend zum Erliegen gekommen waren. Während Lenin und Trotzki gehofft hatten, die Periode der Neuen Ökonomischen Politik würde von relativ kurzer Dauer sein - und der Sowjetunion helfen, die Zeit zu überbrücken, bis erneut international revolutionäre Kämpfe ausbrächen -, stärkte diese Politik konservative soziale Kräfte und veränderte die wirtschaftliche und politische Dynamik des sowjetischen Lebens. Diese Prozesse fanden ihren Widerhall in der Bolschewistischen Partei und untergruben Trotzkis Stellung in der Führung. In der herrschenden Schicht und der rasch wachsenden Partei- und Staatsbürokratie machten sich eine konservative Haltung und Selbstzufriedenheit breit, die immer offener politischen Ausdruck fand. Wie sich Trotzki in seiner Autobiografie erinnerte:

"’Aber doch nicht immer und nicht alles nur für die Revolution, man muss auch an sich denken’ - diese Stimmung wurde übersetzt mit: ‘Nieder mit der permanenten Revolution’. Der Widerstand gegen die theoretischen Ansprüche des Marxismus und die politischen Ansprüche der Revolution nahm für diese Menschen allmählich die Form des Kampfes gegen den ‘Trotzkismus’ an. Unter dieser Flagge vollzog sich die Entfesselung des Kleinbürgers im Bolschewik. Darin eben bestand mein Verlust der Macht, und das ergab die Form, in der dieser Verlust erfolgte."[29]

41. Die Angriffe auf Trotzki und die Theorie der Permanenten Revolution - die mit der Lüge begannen, "Trotzki unterschätzt die Bauernschaft" - waren die politische Widerspiegelung der Feindschaft der Staats- und Parteibürokratie gegen das internationalistische Programm der Oktoberrevolution. Die wachsende politische Macht Stalins und die bürokratische Diktatur, die mit seinem Namen verbunden ist, war kein unvermeidliches Ergebnis der sozialistischen Revolution, sondern entwickelte sich aus den besonderen Widersprüchen eines Arbeiterstaates, der in einem rückständigen Land entstanden und durch das Scheitern der internationalen Revolution isoliert geblieben war. Die vom zaristischen Russland ererbte wirtschaftliche Rückständigkeit wurde durch die verheerenden Folgen von sieben Jahren imperialistischen Krieges (1914-17) und Bürgerkrieges (1918-21) verschärft. Diese Bedingungen bedeuteten eine enorme Belastung für den Aufbau der Sowjetwirtschaft. Auch hatte der Bürgerkrieg von der Arbeiterklasse und der Bolschewistischen Partei selbst einen enormen Tribut an Menschenleben gefordert. Zehntausende klassenbewusste Arbeiter, die hauptsächlich die Machteroberung der Bolschewiki unterstützt hatten, waren getötet worden. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Degeneration der Bolschewistischen Partei war die Einbindung eines großen Teils ihrer Kader in die wuchernde Staats- und Parteibürokratie. Langjährige Revolutionäre wurden zu Verwaltungsbeamten, und diese Veränderung wirkte sich mit der Zeit auf ihre politische Orientierung aus. Hinzu kam, dass die Nachfrage des neuen Staates nach ausgebildeten Verwaltungskräften die Rekrutierung vieler Menschen mit sich brachte, die in der Bürokratie des alten Regimes gearbeitet hatten. Diese Veränderungen in der staatlichen Struktur, der sozialen Funktion vieler "Altbolschewiki" und der generellen Lage der Arbeiterklasse fanden schließlich einen politischen Ausdruck.

42. Wie Trotzki erklärte, war der aus Revolution und Bürgerkrieg hervorgegangene Sowjetstaat ein höchst widersprüchliches Phänomen. Als Produkt einer wirklichen Revolution der Arbeiterklasse, die die alte staatliche Struktur zerschlagen und die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse weitgehend abgeschafft hatte, gründete sich der neue Staat auf neue Eigentumsverhältnisse, die auf staatlicher Kontrolle über das Finanzwesen und dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln beruhten. In dieser Hinsicht war das neue Regime, das aus der Oktoberrevolution hervorgegangen war, ein Arbeiterstaat. Aber es gab auch eine andere Seite: Bedingt durch den niedrigen Stand der Produktivkräfte und des vorherrschenden "allgemeinen Mangels" war dieser neue Staat durch eine bürgerliche - d.h. ungleiche - Verteilung der Güter geprägt. Dieser grundlegende Widerspruch zwischen der sozialistischen Form der Eigentumsverhältnisse und der bürgerlichen Form der Verteilung verlieh dem Sowjetregime seine besondere und zunehmend repressive Gestalt.

43. Trotzki und seine Anhänger - darunter viele der wichtigsten Führer der russischen Revolution - bildeten 1923 die Linke Opposition, um die Politik der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion zu reformieren und für eine richtige Linie in der Kommunistischen Internationale zu kämpfen. Anhänger der Linken Opposition prangerten den Verfall der innerparteilichen Demokratie an und befürworteten eine Wirtschaftspolitik, die ein größeres Gewicht auf die Entwicklung der staatlichen Industrie legte, um die sozialistische Planung zu stärken und die Preise für Industriegüter zu senken. Die Stalin-Fraktion dagegen trieb die Marktliberalisierung voran, wobei sie die Bedürfnisse der besser gestellten Bauernschaft (Kulaken) im Auge hatte, und begrenzte die Entwicklung des staatlichen Sektors und der wirtschaftlichen Planung. Mit Lenins Erkrankung und seinem Tod im Januar 1924 nahm der Einfluss der von Stalin geführten Fraktion zu. In seinen letzten schriftlichen Äußerungen hatte Lenin vor der wachsenden Bürokratisierung der Kommunistischen Partei gewarnt und die Ablösung Stalins als Generalsekretär gefordert.

Wird fortgesetzt

 

Anmerkungen
12 Lenin, Werke Band 21, "Die Aufgaben der revolutionären Sozialdemokratie im europäischen Krieg", Dietz Verlag Berlin 1977, S. 2
13 Ebenda
14 Ebenda, S. 2-3
15 Ebenda, "Der Zusammenbruch der Zweiten Internationale", S. 246
16 Leo Trotzki, Europa im Krieg, "Der Krieg und die Internationale", Arbeiterpresse-Verlag, Essen 1998, S. 377-78
17 Ebenda, S. 382-383
18 Lenin, Werke Band 23, "Der Imperialismus und die Spaltung des Sozialismus", Dietz Verlag, Berlin 1978, S. 102
19 Lenin, Werke Band 22, "Der Imperialismus, das höchste Stadium des Kapitalismus", Dietz Verlag, Berlin 1988, S. 274
20 Lenin, Werke Band 25, "Staat und Revolution", Dietz Verlag, Berlin 1981, S. 423
21 Siehe dazu: Alexander Rabinowitch, The Bolsheviks in Power, Bloomfield, Indiana University Press, 2007
22 Leo Trotzki, "Die Lehren des Oktober" aus Oktoberrevolution 1917, Verlag Intarlit 1978, S. 80
23 How the Revolution Armed: The Military Writings and Speeches of Leon Trotsky, Volume 1: 1918, London, New Park Publications 1979, S. 58 (aus dem Englischen)
24 Rosa Luxemburg, Werke Band 4, "Zur russischen Revolution", Berlin 1979, S. 365
25 Die Kommunistische Internationale, Band 1, Verlag Intarlit 1984, S. 162-63
26 The First Five Years of the Communist International, Volume Two, London, New Park 1974, p. 7
27 Lenin, Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus, Dietz Verlag, Berlin 1973, S. 17
28 Leo Trotzki, "Die Lehren des Oktober" aus Oktoberrevolution 1917, Verlag Intarlit 1978, S. 18
29 Leo Trotzki, Mein Leben, Fischer Taschenbuch Verlag, Berlin 1974, S. 434

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