In den vergangenen Tagen ist die Flüchtlingsinitiative „Moabit hilft“ in Berlin heftig unter Beschuss geraten. Seit einer Woche mehren sich Morddrohungen in Hassmails und per Telefon. Im Internet macht eine Gruppe namens „Moabit lügt“ mobil, hinter der der bekannte Berliner Neonazi Gregor Stein stehen soll, und verleumdet die Initiative wegen Veruntreuung von Spendengeldern. In der Nacht zu Montag traten Unbekannte die Tür zu ihrem Büro auf dem Lageso-Gelände ein. Auch in den Medien mehren sich Angriffe auf „Moabit hilft“.
Der vordergründige Anlass ist ein Vorfall der vergangenen Woche. Ein Flüchtlingshelfer aus dem Kreis von „Moabit hilft“ behauptete auf Facebook, er habe in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch einen jungen Syrer bei sich aufgenommen, der tagelang am Lageso (Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales) in der Schlange habe stehen müssen, hohes Fieber und Schüttelfrost bekommen habe und im Rettungswagen auf dem Weg zum Krankenhaus gestorben sei.
Viele, die morgens diese Nachricht sahen, sagten sich: Nun ist passiert, was lange schon erwartet wurde. Die unmenschliche Behandlung der Flüchtlinge durch den Berliner Senat hat offenbar ein tragisches Opfer gefordert.
Doch am späteren Mittwochabend gab der Verfasser der Nachricht, Dirk V., gegenüber der Polizei zu, er habe die Nachricht erfunden. In einer Stellungnahme von „Moabit hilft“ sagte deren Sprecherin Diana Henniges, es sei ein Fehler gewesen, die Facebook-Meldung nicht genauer zu prüfen. Allerdings habe „jeder Helfer, jeder Politiker und jeder Pressevertreter“ sich den Tod eines Flüchtlings vorstellen können. „Dies ist die eigentliche Tragik. Es wäre möglich.“
Dirk V. selbst erklärte, er sei durch die zermürbende Helfertätigkeit am Ende seiner Nerven gewesen und habe mit der Geschichte „wachrütteln, etwas verändern“ wollen. Tatsächlich war Dirk V. kurz zuvor wegen eines Erschöpfungszustands längere Zeit im Krankenhaus gewesen, wie eine weitere Helferin, Reyna B., berichtet, die mit ihm in der besagten Nacht gechattet hatte,
Auch Reyna B. zweifelte zunächst nicht an der Richtigkeit der Todesmeldung. „Seit einem halben Jahr sehen wir Anwohner, was geschieht“, schrieb sie schockiert nach dem letzten Eintrag von Dirk. „Seit einem halben Jahr helfen wir, rennen, pflegen, ernähren, versorgen, heilen… und sagen immer wieder, es wird Tote geben, wenn das so weiter geht. Und es wird heruntergespielt, beschönigt, weggeredet. Es wird so getan, als sei das alles normal, nur eine kleinere Verwaltungskrise. …“
Sie verweist auf Fehlgeburten, auf den Fall des kleinen Flüchtlingsjungen, der im Lageso-Chaos im letzten Sommer entführt und ermordet wurde, auf mehrere Wiederbelebungen auf dem Gelände, Herzinfarkte, Diabetes-Schocks, allnächtliche Rettungswagen-Einsätze für kollabierte Personen, und auf den Hunger, nachdem das Lageso vielen kein Taschengeld mehr ausgezahlt hat. „Letzten Freitag habe ich das erste Mal auf dem Heimweg geweint. Bis dahin war das Vertrauen, dass diese Stadt, dieses Land doch irgendwann den humanitären Knall hören muss, immer noch nicht ganz gebrochen.“
Obwohl jeder weiß, dass die Hauptverantwortung für das Verhalten von Dirk V. bei der Senatsverwaltung liegt, die für die Zustände am Lageso verantwortlich ist, entfachten Politik und Medien seit dem 27. Januar eine zynische Hetzkampagne gegen „Moabit hilft“.
Sie dient dazu, nicht nur diese Initiative, sondern alle Flüchtlingshelfer einzuschüchtern. Sie ist auch „ein Freischein“ für die rechten Hassmails, wie die Sprecherin Diana Henniges gegenüber WSWS sagt. „Köln war schon der Startschuss. Aber die Geschichte mit dem toten Flüchtling hat jetzt wie ein Korken gewirkt, der aus der Flasche springt.“
Pressevertreter, die noch am Mittwochmorgen mit großen Kamerateams am Lageso angerückt waren, um als Sensationsmeldung den Tod eines Flüchtlings über alle Kanäle zu verbreiten, fallen jetzt über „Moabit hilft“ her. Sie werfen einer Initiative von Freiwilligen, die nahezu alle ehrenamtlich arbeiten und ohne deren unermüdliches Engagement die Versorgung der Flüchtlinge längst zusammengebrochen wäre, „Unprofessionalität“, „Hochmut“ und „Gutmenschentum“ vor.
Besonders übel stößt ein Bericht der FAZ vom 29. Januar auf, in dem es unter dem Titel „Der Hochmut der Helfer“ heißt: „Manche hat das Hochgefühl der Sommertage, in denen jeder, der einen Kasten Mineralwasser zum Lageso brachte, sich der Berliner Verwaltung überlegen fühlen konnte, zum Hochmut verleitet. Etliche Helfer kultivieren seither ein überhöhtes Selbstbild, das sie einem Berufspolitiker niemals zugestehen würden.“
Die FAZ stützt sich dabei auf eine Äußerung der Berliner Grünen-Abgeordneten Bettina Jarasch, die die ehrenamtliche Flüchtlingshilfe als „Selbstverwirklichung“ bezeichnet haben soll.
n-tv schreibt unter der Überschrift „Wie man mit einer Lüge Propaganda macht“, nicht der Verfasser der falschen Nachricht sei das Problem, sondern „Vereine wie ‚Moabit hilft‘, die eine solche Geschichte nicht zum ersten Mal ungeprüft zum Anlass nehmen, um Stimmung zu machen“.
Der Berliner Senat nutzte den Vorfall für eigene Zwecke. Am Tag danach ließ er schnell den Plan eines Flüchtlingsghettos im ehemaligen Tempelhofer Flughafen absegnen, den erst eine Woche vorher eine große Bürgerversammlung einhellig abgelehnt hatte. Danach entbrannte im Abgeordnetenhaus eine Wahlkampf-Diskussion über die „digitale Märchenstunde“, wie der CDU-Vize Stefan Evers die Geschichte über den Lageso-Toten bezeichnete.
Innensenator Frank Henkel (CDU) forderte rechtliche Konsequenzen gegen Dirk V., wohl wissend, dass eine bloße Falschmeldung im Internet nicht strafbar ist. Den Sprechern von „Moabit hilft“ drohte er: „Wer solche Gerüchte streut und ungeprüft weiterverbreitet, legt es bewusst darauf an, die Stimmung in unserer Stadt zu vergiften.“
Die Vertreter der Grünen und der Linken beklagten die fehlende „Professionalität“ von Flüchtlingsinitiativen. Linken-Vertreter Klaus Lederer erklärte, die Sache sei „nicht akzeptabel“. Die Linken-Zeitung Neues Deutschland bezeichnete Dirk V. als „ausgebrannten und wohl selbstsüchtigen Helfer“.
Zu den Rufen nach „Professionalisierung“ sagt Diana Henniges: „Nur weil uns eine Lappalie unterlaufen ist und wir diese Nachricht nicht länger geprüft haben? Wir wurden doch schon am frühen Morgen per Telefon aus dem Bett geworfen und von Presseleuten zu Aussagen gedrängt. Wo waren denn diese Parteien und Medienvertreter vor einem halben Jahr, als die Leute am Lageso gehungert haben, Tag und Nacht anstanden und auf dem Boden schlafen mussten? Da sprach niemand von Professionalität. Ohne uns, ohne die vielen Menschen, die sich unbezahlt und in ihrer Freizeit eingesetzt haben, hätten wir heute eine schlimmere Lage, die Wahrscheinlichkeit von Toten wäre um Vieles größer.“
Die Grünen und die Linke waren in der Vergangenheit selbst Regierungsparteien und haben für den Abbau von professionellem Personal am Lageso, an Schulen, Kindergärten und im sozialen Bereich gesorgt. Jetzt versuchen sie, mit der Forderung nach mehr „Professionalität“ spontan entstandene Initiativen in der Bevölkerung wie „Moabit hilft“ zu vereinnahmen und abzuwürgen. Dies sei auch ihre Befürchtung, sagte Diana Henniges der WSWS.
„Moabit hilft“ hatte sich zu Beginn der Flüchtlingskrise unter Anwohnern des alten Berliner Arbeiterviertels Moabit gebildet und ist berlinweit das Vorbild vieler weiterer Initiativen freiwilliger Helfer geworden. Sie steht an der Spitze der großen Solidarität in der Berliner Bevölkerung, die auch nach den Kölner Silvester-Ereignissen nicht nachgelassen hat. Immer wieder hat sie die Missstände am Lageso und in den Massenunterkünften angeklagt und Proteste dagegen organisiert. Gestützt auf ihre Informationen stellten über vierzig Rechtsanwältinnen und –anwälte Strafanzeige gegen die Senatsverantwortlichen wegen massivem Rechtsbruch am Lageso.
Zuletzt war der Senat auch in etablierten Kreisen in die Kritik geraten. Die Bilder von den Menschenschlangen am Lageso und von überfüllten Massenlagern sind nicht opportun für die Hauptstadt. Hätte sich die Todesnachricht des syrischen Flüchtlings bewahrheitet, so spekulierten einige Journalisten, wären der Senat und sein Gesundheitssenator Mario Czaja vermutlich darüber gestolpert.
Kein Wunder, dass „Moabit hilft“ der politischen Elite der Stadt schon lange ein Dorn im Auge ist. Für Arbeiter und Jugendliche in und außerhalb Berlins sind die Attacken auf sie ein Warnsignal. Die verschärften Angriffe auf Flüchtlinge richten sich zunehmend auch gegen die einheimische Bevölkerung, die sich spontan an ihre Seite gestellt hat und wie diese Krieg und Armut ablehnt.