90 Jahre seit dem Putsch von Pilsudski

Die Strategie des Intermariums

Teil 2: Das Intermarium von 1921 bis 1989

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Vom 12. bis 14. Mai jährte sich zum 90. Mal der Putsch von Józef Piłsudski in Polen. Mit dem Putsch versuchte die polnische Bourgeoisie ihre Herrschaft vor der Gefahr einer sozialistischen Revolution zu schützen. Heute wird Piłsudski von großen Teilen der polnischen Bourgeoisie und den US-Eliten verherrlicht.

Das hat viel mit Piłsudskis Strategie des sogenannten Intermarium zu tun, die sich heute wachsender Beliebtheit erfreut. Das Intermarium war eine pro-imperialistische Allianz von rechten, nationalistischen Regimen in Osteuropa, die sich in erster Linie gegen die Sowjetunion richtete. Das wiedererwachte Interesse am Intermarium ist Bestandteil der Vorbereitungen auf einen neuen Weltkrieg, die, wie das IKVI in seiner Resolution Sozialismus und der Kampf gegen Krieg schrieb, von einem Wiederaufleben der Geopolitik unter den Ideologen des Imperialismus begleitet werden.

Diese Artikelserie behandelt die Geschichte der Intermariums-Strategie. Ihre Grundlagen wurden noch vor dem Ersten Weltkrieg als bürgerlich-nationalistischer Gegenentwurf zu den Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa entwickelt, für die der russische Revolutionär Leo Trotzki eintrat.

Das Intermarium in der Zwischenkriegszeit

Der Sieg gegen die Rote Armee wurde zum Gründungsmythos der Zweiten Polnischen Republik und wird bis heute von der polnischen Bourgeoisie verherrlicht. In Wirklichkeit befand sich das Land jedoch nach dem Krieg in einer tiefen politischen Krise. Die herrschenden Eliten waren vollkommen zerstritten. Józef Piłsudski war im Jahr 1922 schließlich gezwungen, zumindest formal die politische Bühne zu verlassen. Er blieb jedoch in den folgenden Jahren hinter den Kulissen politisch hoch aktiv. Vor allem pflegte er seine Verbindungen zu zahlreichen Nationalisten und militärischen Führungsfiguren, die als Mitglieder der ehemaligen Eliten der nunmehrigen Sowjetunion größtenteils im Exil waren. Auf dieser Grundlage baute er die so genannte Prometheus-Liga auf.

Der amerikanische Professor Timothy Snyder (Yale University), der Henryk Józefski, einem der wichtigsten Verbündeten Piłsudskis, ein ganzes Buch widmete, beschrieb die Prometheus-Liga mit den Worten:

„Die Prometheus-Bewegung war eine anti-kommunistische Internationale, die dazu dienen sollte, die Sowjetunion zu zerstören und aus ihren Republiken unabhängige Staaten zu machen… Sie brachte die großen Strategen aus Warschau mit exilierten Patrioten zusammen, deren Versuche, unabhängige Staaten zu gründen, von den Bolschewiki vereitelt worden waren. Symon Petljura und seine exilierte Ukrainische Volksrepublik vereinigten ihre Kräfte mit anderen geschlagenen Patrioten aus dem Kaukasus und Zentralasien… Die Prometheus-Bewegung wurde von den europäischen Mächten unterstützt, die der Sowjetunion feindlich gesinnt waren; moralisch von Großbritannien und Frankreich, politisch und finanziell durch Polen.“ [1]

Nach Piłsudskis Machtergreifung im Mai-Putsch 1926 wurde diese Politik institutionalisiert und ausgeweitet. Der Aufbau dieser rechten Allianz fand ihr Gegenstück in der Innenpolitik: das Piłsudski-Regime ging brutal gegen kommunistische und sozialistische Parteien vor und baute einen autoritären Staat mit faschistischen Elementen auf.

Sowohl politisch und wirtschaftlich wie geographisch betrachtete Piłsudski die ukrainische Sowjetrepublik als wichtigstes Sprungbrett für einen Angriff auf die Sowjetunion und als hebel für ihre Zerschlagung.

Der polnische Geheimdienst, dessen Führung sich größtenteils aus ehemaligen Militärs zusammensetzte, die gemeinsam mit Piłsudski in den Legionen und dann dem Polnisch-Sowjetischen Krieg gekämpft hatten, entfaltete umfassende Aktivitäten in der Sowjetunion. Ihr Schwerpunkt lag dabei auf der Sowjetukraine. Die Unterstützer von Symon Petljura, der selbst 1926 in Paris durch ein Attentat umgebracht wurde, erhielten politisches Asyl in Polen.

1927 wurde die Armee von Petljuras „Ukrainischer Volksrepublik” im Geheimen auf polnischem Territorium neu gegründet. Ihr Generalstab entwickelte Pläne für einen Überfall auf die Sowjetunion. Als die Sowjetukraine sich 1930 aufgrund des Massenhungers, der durch die kriminelle und abenteuerliche Politik der stalinistischen Bürokratie verursacht worden war, am Rande eines Bürgerkriegs befand, bereitete sich die ukrainische Armee darauf vor, die Krise auszunutzen und die UdSSR zu überfallen. Die polnische Regierung lehnte einen entsprechenden Vorschlag jedoch ab, vermutlich aufgrund der eindeutigen militärischen Überlegenheit der Roten Armee, die in den 1920er Jahren eine rasante Entwicklung durchgemacht hatte. [2]

Die Intermarium-Pläne wurden damals ebenso wie heute hinter dem Rücken der polnischen Bevölkerung entwickelt und umgesetzt. Sie wurden nie zur offiziellen Staatspolitik erklärt oder von den Parteien öffentlich diskutiert. In den Worten Timothy Snyders war „Polen zu wichtig, um es den Polen anzuvertrauen“. [3]

Die polnische Regierung baute eine komplexe Infrastruktur auf, die militärisches Training und Ausbildung für gegenwärtige und zukünftige Mitglieder des Prometheus-Netzwerkes sowie zahlreiche Publikationen umfasste. Dazu gehörten unter anderem das Ost-Institut in Warschau, das dem Studium des Nahen und Fernen Ostens gewidmet war; Stipendienprogramme für Studenten aus Warschau, Vilnius, Poznan, Kraków, Paris, Berlin und Kairo; vier Prometheus-Clubs in Warschau, Paris, Helsinki und Harbin; und mehrere Zeitschriften, darunter Promethée (Paris) und Prometheus (Helsinki), die Ideen rund um die Prometheus-Bewegung propagierten und diskutierten. Darüber hinaus wurden Institute und Publikationen gegründet, die das Prometheus-Projekt für die Ukraine, die Tataren, die kaukasischen Völker und die Kosaken diskutieren und bewerben sollten. [4]

Im Laufe der 1930er Jahre verlor Piłsudski allerdings in den polnischen Eliten und im Militär zunehmend Unterstützung für das Intermarium-Projekt. Während eines Großteils der 1930er Jahre versuchte sein Regime zwischen Hitlers Drittem Reich und der Sowjetunion zu manövrieren. Am 25. August 1932 unterzeichneten Polen und die UdSSR einen Nicht-Angriffspakt. Als Folge reduzierte die polnische Regierung ihre Aktivitäten in Bezug auf die Prometheus-Bewegung etwas, stellte sie jedoch nicht ganz ein. Die Zentrale für die Planung und Leitung wurde nun von den verschiedenen Ministerien, die sich diese Aufgaben bis dahin geteilt hatten, an die Zweite Abteilung des Zweiten Generalstabes übertragen. [5] Im Jahr 1934 schloss Piłsudskis Polen einen Nicht-Angriffspakt mit Nazi-Deutschland.

Fünf Jahre später unterzeichnete Stalin, der kurz zuvor einen Großteil der Kommunisten in Polen, Russland und ganz Osteuropa ermordet hatte, einen Pakt mit Hitler in dem verzweifelten Versuch, einen Krieg Nazi-Deutschlands gegen die Sowjetunion zu verhindern. Das Geheimprotokoll des Pakts sah die Aufteilung Europas in Einflusssphären für den Fall eines Nazi-Angriffs auf Polen vor. Wenige Wochen später, am 1. September 1939, fiel die Wehrmacht in Polen ein.

Das Intermarium während des Zweiten Weltkrieges

Nach dem Einfall der Nazis in Polen floh die polnische Regierung ins Exil. Teile des Intermarium-Netzwerkes wurden in die Abwehr des Dritten Reiches integriert und im Krieg gegen die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 begann, eingesetzt. Während des Krieges gegen die UdSSR mobilisierten die Nazis systematisch rechte nationalistische Kräfte, vor allem im Baltikum und in der Ukraine, die bei der Vernichtung der europäischen Juden und dem Kampf gegen die Rote Armee helfen sollten. Ein Autor schrieb dazu:

„Die Abwehr (der deutsche Militärgeheimdienst) nutzte die Intermarium-Kontakte vor dem Krieg als ‚Einflussagenten‘ im Ausland und als einigermaßen zuverlässige Informationsquellen in den großen europäischen Emigranten-Gemeinden. Als die Nazis den Kontinent überrannten, war das Intermarium laut einem Geheimbericht der US Armee zu einem ‚Werkzeug des deutschen Geheimdiensts‘ geworden.“ [6]

Die bürgerliche Exilregierung, die sich seit 1940 in London aufhielt, griff die Intermariums-Idee in etwas abgewandelter Form ebenfalls wieder auf. General Władysław Sikorski, der zuvor unter Piłsudski einer der wichtigsten bürgerlichen Oppositionspolitiker gewesen war, übernahm als Chef der Exilregierung dessen Vorstellung einer Föderation. In einem Memorandum, das er dem amerikanischen Präsidenten Franklin Roosevelt im Dezember 1942 vorlegte, schlug er vor, eine Zentral-Europäische Föderation zu schaffen. Diese Föderation war laut Sikorski notwendig, um

„… die wirtschaftliche Existenz und damit auch die Sicherheit der Staaten entlang der Achse Belgrad-Warschau zu sichern. Eine Föderation, die auf starken Grundlagen basiert, wird zudem die Sicherheit der Vereinigten Staaten sowohl im Hinblick auf Deutschland als auch auf jede andere Kraft gewährleisten, die versuchen könnte, Europa wieder ins Chaos und damit schließlich auch in einen Krieg zu stürzen. Unsere Vorstellung sieht folgende wesentliche Mitglieder der Föderation vor: Polen (mit Litauen), die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Griechenland (und Ungarn).” [7]

Sikorskis Vorschlag wurde jedoch zurückgewiesen. Angesichts der Gefahr einer sozialistischen Revolution in Europa, das seit 1943 Schauplatz wachsender Kämpfte der Arbeiterklasse gegen die Nazi-Besatzung war, einigten sich die Vereinigten Staaten, Frankreich und Großbritannien darauf, Europa mit der Sowjetunion in Einflusssphären aufzuteilen. Im Gegenzug sollte die stalinistische Bürokratie die revolutionäre Bewegung der Arbeiterklasse ersticken.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges dehnte die stalinistische Bürokratie die Eigentumsverhältnisse, die aus der Oktoberrevolution hervorgegangen waren, mit militärischen und bürokratischen Mitteln auf Osteuropa aus. Doch obwohl die Alliierten sich auf Einflusssphären geeinigt hatten, um die bürgerliche Ordnung im Weltmaßstab zu schützen, waren die deformierten Arbeiterstaaten, die nun entstanden, dem Imperialismus immer ein Dorn im Auge. In dem verdeckten Krieg gegen die Sowjetunion stützten sich die imperialistischen Mächte maßgeblich auf genau jene rechten und faschistischen Kräfte, die erst von der polnischen Regierung im Rahmen des Intermariums und dann von den Nazis gegen die Sowjetunion mobilisiert worden waren.

Ehemalige Mitglieder der Organisation Ukrainischer Nationalisten (OUN) und der Ukrainischen Aufstandsarmee (UPA) wurden en masse von der CIA rekrutiert und aus der sowjetisch kontrollierten Zone Europas herausgeschmuggelt. Dieselben Programme halfen auch Nazi-Kollaborateuren aus den Baltischen Staaten (Litauen, Lettland und Estland), Kroatien, der Slowakei und mehreren anderen Ländern. (Siehe auch: „Die faschistische Tradition des ukrainischen Nationalismus“)

Der wichtigste Kanal, über den Nazi-Kollaborateure in den Westen geschleust wurden, war der Vatikan, seit langem ein enger Verbündeter der osteuropäischen Rechten. Teile der katholischen Elite verschmolzen praktisch mit dem Intermarium. Darunter befanden sich Monsignore Krunoslov Dragonovic, der die Fluchtwege für Mitglieder der kroatischen, faschistischen Ustascha organisierte und Hauptrepräsentant Kroatiens beim selbsternannten Intermarium-Rat war. Wichtigster Vertreter der Ukraine im Intermarium war Erzbischof Iwan Butschko, der bei Papst Pius XII. ein gutes Wort für ehemalige Mitglieder der ukrainischen Waffen-SS einlegte. Gustav Celmins, der ehemalige Chef der lettischen Nazi-Partei Perkonkrusts, war Sekretär der Intermariums-Organisation in Rom. [8]

Das wichtigste Bindeglied, das die vielen verschiedenen Allianzen zusammenhielt, die die Nationalisten von der Prometheus-Liga im 20. Jahrhundert eingingen, war ihr militanter Antikommunismus. So wurde das Intermarium während des Kalten Krieges auch ein Hauptrekrutierungsfeld für CIA-Operationen wie Radio Free Europe oder Radio Liberation from Bolshevism. [9]

Große Teile der polnischen Eliten und nationalistischen Intelligenzija hatten Polen bis 1948, als die Polnische Volksrepublik ausgerufen wurde, bereits verlassen. Bestimmte Schichten unter ihnen setzten das Prometheus-Projekt fort. Das einflussreichste polnische Emigranten-Magazin Kultura, das in Paris von Jerzy Giedroyc herausgegeben wurde, propagierte Piłsudskis Intermarium-Strategie ganz offen.

Giedroyc war in den Jahren 1929-1935 Mitglied der Regierung Piłsudski und laut dem amerikanischen Professor Timothy Snyder eine „zentrale, wenn auch im Hintergrund agierende Figur der Prometheus-Bewegung in den frühen 1930er Jahren” gewesen. [10] Mehrere andere Figuren der frühen Prometheus-Bewegung sammelten sich ebenfalls um die Zeitschrift Kultura. Eine Grundidee von Giedroycs Journal bestand darin, dass Polen nur dann ein unabhängiger Nationalstaat werden könne, wenn es Litauen, Weißrussland und insbesondere die Ukraine auch sein würden. Die Zeitschrift beobachtete daher die nationalistischen Bewegungen in diesen Sowjetrepubliken sehr genau und unterstützte sie. Die politischen Ideen und Ratschläge dieser Zeitschrift sollten einen bedeutenden Einfluss auf viele polnische Dissidenten in der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc haben, die dann später die Restauration des Kapitalismus in Polen durchsetzte und Mitglied der ersten bürgerlichen Regierungen nach 1989 wurde.

Fortsetzung folgt

Anmerkungen:

[1] Timothy Snyder: Sketches from a Secret War. A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine [Anmerkungen zu einem geheimen Krieg. Die Mission eines polnischen Künstlers zur Befreiung der Sowjetukraine], Yale University Press 2005, S. 40-41.

[2] Ebd., S. 102.

[3] Ebd., S. 26.

[4] Edmund Charaszkiewicz: „Referat o zagadnieniu prometejskim” (12 luty, 1940) [Bericht zur Prometheus-Frage, 12. Februar, 1940], in: Charaszkiewicz, Edmund, Andrzej Grzywacz, Marcin Kwiecień, and Grzegorz Mazur: Zbiór Dokumentów Ppłk. Edmunda Charaszkiewicza [Sammlung von Dokumenten des Oberstleutnand Edmund Charaszkiewicz], Fundacja CDCN, 2000, S. 64-67. Edmund Charaszkiewicz war jahrelang der wichtigste Koordinator der Prometheus-Bewegung.

[5] Ebd., S. 77.

[6] Christopher Simpson: Blowback. America’s Recruitment of Nazis and Its Effects on the Cold War [Blowback: Amerikas Rekrutierung von Nazis und ihre Auswirkungen auf den Kalten Krieg], Grove Press 1988, S. 180-81.

[7] Zitiert in: Sarah Meiklejohn Terry: „Sikorski and Poland’s Western Borders“ [Sikoski und Polens Westgrenzen], in: Keith Sword (ed.): Sikorski: Soldier and Statesman. A Collection of Essays [Sikorski: Soldat und Staatsmann. Eine Aufsatzsammlung], Orbis Books 1990, S. 139.

[8] Christopher Simpson: Blowback. America’s Recruitment of Nazis and Its Effects on the Cold War, Grove Press 1988, S. 180.

[9] Siehe Ebd., S. 89.

[10] Timothy Snyder: Sketches from a Secret War. A Polish Artist’s Mission to Liberate Soviet Ukraine, Yale University Press 2005, S. 250.

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