Vor hundert Jahren starb Franz Mehring

Vor hundert Jahren, am 28. Januar 1919, starb im Alter von 72 Jahren Franz Mehring, einer der führenden marxistischen Theoretiker seiner Zeit. Die Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale haben ihre Verlagshäuser, Mehring Verlag, nach ihm benannt.

Franz Mehring war der wichtigste Historiker der deutschen Arbeiterbewegung. Er verfasste eine vierbändige „Geschichte der deutschen Sozialdemokratie“, eine „Deutsche Geschichte vom Ausgang des Mittelalters“ sowie die erste umfassende Biografie von Karl Marx, die ein Jahr vor Mehrings Tod zum hundertsten Geburtstag des Begründers des wissenschaftlichen Sozialismus erschien. Sie wurde in mehrere Sprachen übersetzt und bleibt bis heute ein Standardwerk, dessen Lektüre sich lohnt.

Eine deutsche Literaturgeschichte, die Mehring mehrmals plante, kam nur deshalb nicht zustande, weil er immer wieder durch dringendere Aufgaben beansprucht wurde. Seine Essays zu literarischen Fragen, die zwei Bände der „Gesammelten Schriften“ ausmachen, geben aber einen umfassenden Überblick über die deutsche Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts.

Mehring verfügte über ein umfassendes historisches und literarisches Wissen und spielte eine unersetzliche Rolle dabei, hunderttausende sozialdemokratische Arbeiter mit den Grundlagen des Marxismus, der Tradition der eigenen Bewegung, der preußischen Geschichte und der klassischen deutschen Literatur vertraut zu machen. Dabei immunisierte er sie gegen die nationalistischen Mythen, den Militarismus und den Preußenkult, der damals im sogenannten Bildungsbürgertum wilde Blüten trieb.

Mehrings (keineswegs vollständige) „Gesammelten Schriften“, die in den 1980er Jahren vom Dietz Verlag der DDR herausgegeben wurden, umfassen 15 Bände. Mehring schrieb für zahlreiche sozialdemokratische Publikationen, darunter den Vorwärts, das Zentralorgan der SPD, und die Neue Zeit, ihr international anerkanntes theoretisches Organ. Von 1902 bis 1907 war er Chefredakteur der Leipziger Volkszeitung, die Rosa Luxemburg und anderen Vertretern des linken Flügels der SPD eine Plattform bot. Seine eigenen Artikel befassen sich mit aktuellen politischen, historischen, philosophischen und kulturellen Fragen und haben oft die Form einer Polemik.

Bis 1895 leitete Mehring außerdem den Verein Freie Volksbühne in Berlin, der 1890 als erste kulturpolitische Arbeitermassenorganisation mit dem Ziel gegründet wurde, auch wenig bemittelten Arbeitern den Zugang zu Bildung und zum kulturellen Leben zu ermöglichen. Neben Klassikern, wie Goethe und Schiller, brachte die Volksbühne damals moderne und gesellschaftskritische Autoren, wie Henrik Ibsen und Gerhart Hauptmann, zur Aufführung.

1902 veröffentlichte Mehring einen Teil des literarischen Nachlasses von Marx und Engels, eine Pioniertat für die Aufarbeitung der Geschichte des Sozialismus, die erst in den 1920er Jahren in der Sowjetunion ihre Fortsetzung finden sollte. Von 1906 bis 1911 unterrichtete er an der zentralen Parteischule der SPD in Berlin.

Im Unterschied zu Georgi Plechanow, Karl Kautsky und anderen marxistischen Theoretikern seiner Generation, die sich mit dem Herannahen des Ersten Weltkriegs nach rechts wandten und im Oktober 1917 die proletarische Revolution in Russland ablehnten, radikalisierte sich Mehring mit zunehmendem Alter. Bereits 1905 begrüßte er die russische Revolution begeistert und unterstützte in der Massenstreikdebatte, die in den Reihen der SPD entbrannte, Rosa Luxemburgs. 1917 stellte er sich dann vorbehaltlos hinter Lenin und die Bolschewiki.

In Deutschland entwickelte sich Mehring zu einem der führenden Vertreter des linken, revolutionären Flügels der SPD. Bereits 1903 wurde er auf dem Dresdener Parteitag von den Parteirechten heftig denunziert, weil er im Revisionismusstreit Partei für Eduard Bernsteins marxistische Gegner ergriffen hatte. Damals wurde er allerdings noch vom Parteivorsitzenden August Bebel und von Karl Kautsky verteidigt.

Als die SPD dann 1914 den Ersten Weltkriegs unterstützte und einen Burgfrieden mit der herrschenden Klasse schloss, gab Mehring gemeinsam mit Rosa Luxemburg Die Internationale heraus, die den Krieg im Namen des revolutionären Internationalismus ablehnte. Am 1. Januar 1916 nahm er als einer von zwanzig Delegierten an der ersten Reichskonferenz der Spartakusgruppe teil.

Obwohl schon siebzig Jahre alt und krank, wurde Mehring im August 1916 wegen seiner Haltung gegen den Krieg für vier Monate in „militärische Schutzhaft“ genommen. Im März 1917 wurde er in das Preußische Abgeordnetenhaus gewählt. Er gewann den Berliner Wahlkreis von Karl Liebknecht, der wegen einer Verurteilung nicht antreten durfte. Als Mitglied des Spartakusbundes war Mehring intensiv in die Vorbereitung des Gründungsparteitags der Kommunistischen Partei Deutschlands eingebunden, der zum Jahreswechsel 1918/19 inmitten der revolutionären Kämpfe in Berlin stattfand. Wegen Krankheit konnte Mehring allerdings nicht selbst teilnehmen.

Zwei Wochen später musste er erleben, wie seine engsten Kampfgenossen, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, mit dem Segen der sozialdemokratischen Regierung brutal von rechtsradikalen Freikorps ermordet wurden. Er überlebte sie nur um zwei Wochen.

Die Lessing-Legende

Franz Mehring schloss sich erst 1891 im Alter von 45 Jahren der SPD an. Er wurde am 27. Februar 1846 in der Kleinstadt Schlawe in der preußischen Provinz Pommern, dem heutigen Sławno in Polen, geboren. Sein Vater, ein ehemaliger Offizier, war höherer Steuerbeamter und ermöglichte ihm eine gute Bildung. Er studierte in Leipzig und Berlin klassische Philologie und arbeitete in den 1870er und 1880er Jahren als Journalist für verschiedene Tages- und Wochenzeitungen. Politisch war Mehring damals bürgerlicher Demokrat. Er schwankte zwischen Nationalliberalismus und Sozialdemokratie, gegen die er wiederholt polemisierte.

1875 verfasste er eine Streitschrift gegen den reaktionären preußischen Hofhistoriker Heinrich von Treitschke, die auch in der SPD viel Anklang fand. Zwei Jahre später veröffentlichte er das Buch „Die deutsche Sozialdemokratie, ihre Geschichte und ihre Lehre“, das in der SPD auf heftige Empörung stieß. Mehring griff darin Marx sowie die SPD-Gründer Bebel, Liebknecht und Lassalle scharf an und warf der SPD vor, sie schüre „Hass gegen das Vaterland“. 1882 promovierte er an der Universität Leipzig mit einer Arbeit desselben Titels.

Es spricht für Mehrings intellektuelle Integrität, dass er sich in der intensiven Auseinandersetzung mit dem Marxismus und der SPD schließlich von ihrer Überlegenheit überzeugen ließ, selbst Marxist wurde und der SPD beitrat.

Das erste wichtige Werk, das Mehring als Marxist verfasste, war „Die Lessing-Legende“. Ursprünglich hatte er beabsichtigt, eine neuerschienene Lessing-Biografie von Erich Schmidt in drei bis vier Artikeln zu besprechen. Doch die Polemik wuchs unter der Hand auf zwanzig Artikel an, die vom Januar bis Juni 1892 im Feuilleton der Neuen Zeit erschienen. Für die Veröffentlichung in Buchform wurde sie dann noch einmal gründlich überarbeitet.

Dieses Buch mit dem Untertitel „Zur Geschichte und Kritik des preußischen Despotismus und der klassischen Literatur“ richtet sich gegen den Versuch, einen der bedeutendsten Dichter der deutschen Aufklärung für die Unterstützung des preußischen Absolutismus zu vereinnahmen. Die Lessing-Legende zielte im Kern darauf, den Autor von „Nathan der Weise“ und „Minna von Barnhelm“ nicht nur als Zeit-, sondern auch als Gesinnungsgenossen Friedrichs des Großen darzustellen und dem preußischen Despotismus eine Aura des Fortschritts und der Aufklärung zu verleihen.

Mehring entlarvt diese Legende mit einer fundierten Detailkenntnis, die seine bürgerlichen Kontrahenten immer wieder beschämte. Er weist nach, dass Lessing den preußischen König nicht bewunderte und als Geistesgenossen betrachtete, sondern dass er ihn hasste und gegen die feudalistische Gesellschaftsordnung rebellierte. Mehring gibt eine umfassende Darstellung der preußischen Geschichte, die keinen Stein des Preußenkults auf dem anderen lässt.

Friedrich Engels lobte das Buch am 14. Juli 1893 in einem Brief an Mehring, es sei „bei weitem die beste Darstellung der Genesis des preußischen Staats, die existiert, ja ich kann wohl sagen, die einzig gute, in den meisten Dingen bis in die Einzelheiten hinein richtig die Zusammenhänge entwickelnde. Man bedauert nur, dass Sie nicht auch gleich die ganze Weiterentwicklung bis auf Bismarck haben mit hineinnehmen können …“ Die „Auflösung der monarchisch–patriotischen Legenden“ sei einer der wirksamsten Hebel „der Beseitigung der die Klassenherrschaft deckenden Monarchie“.[1]

Mehring hatte sich beim Schreiben des Buches sehr bewusst auf die marxistische Methode gestützt und der ersten Auflage sogar eine Abhandlung über den historischen Materialismus beigefügt. Er habe sich bemüht, „die grundsätzliche Scheidung zwischen dem aufgeklärten Despotismus und der klassischen Literatur im Deutschland des achtzehnten Jahrhunderts noch schärfer durchzuführen“, schreibt er im Vorwort zur ersten Buchauflage. Je klarer sich der friderizianische Staat „als das geschichtliche Erzeugnis eines Klassenkampfes zwischen ostelbischem Fürsten- und Junkertum herausstellt, umso schärfer tritt unsere klassische Literatur als der Emanzipationskampf des deutschen Bürgertums hervor“.

Im ersten Kapitel des Buches betont Mehring, dass Lessings Charakter „im schroffsten Gegensatze zu dem Charakter der deutschen Bourgeoisie von heute“ stehe. Lessing sei „der freieste und wahrhaftigste“ unter den geistigen Vorkämpfern des deutschen Bürgertums gewesen. „Ehrlichkeit und Mannhaftigkeit, eine unersättliche Begierde des Wissens, … die großartige Verachtung aller weltlichen Güter, der Hass gegen alle Unterdrücker und die Liebe zu allen Unterdrückten, die unüberwindliche Abneigung gegen die Großen der Welt, die stete Kampfbereitschaft gegen das Unrecht, die immer bescheidene und immer stolze Haltung in dem verzehrenden Kampfe mit dem Elend der politischen und sozialen Zustände“ – all das habe Lessings Charakter geprägt und sich in seinen Briefen und Schriften gespiegelt.

Die kennzeichnenden Eigenschaften der deutschen Bourgeoisie von heute seien dagegen: „Zaghaftigkeit und Zweizüngigkeit, eine unersättliche Begierde nach Gewinn, die Lust am Jagen nach Profit und mehr noch am Profite selbst, … das Ducken nach Oben und das Drücken nach Unten, ein unausrottbarer Byzantinismus, das stete Totschweigen auch des schreiendsten Unrechts, die immer prahlerische und immer schwächliche Haltung in den politischen und sozialen Kämpfen der Gegenwart.“

Den Grund dafür sieht Mehring im Verrat an der Revolution von 1848, wo sich die Bourgeoisie mit dem preußischen Staat gegen die Arbeiterklasse verbündete. Die deutsche Bourgeoisie habe bereits 1848 erkannt, schreibt er, dass sie „aus eigener Kraft niemals die Herrschaft erobern könne“. Damals habe sie sich bereit erklärt, „mit den Bajonetten des preußischen Staats zu teilen“. Der preußische Staat wiederum habe erkannt, dass er „ein wenig modernisieren müsse“. So sei der Kompromiss entstanden, aus dem das neue Deutsche Reich hervorging.

Hier macht Mehring den Ursprung der Lessing-Legende aus. Die Bourgeoisie habe vor der verteufelt schweren Aufgabe gestanden, „ihre reelle Gegenwart mit ihrer ideellen Vergangenheit auszusöhnen, aus dem Zeitalter unserer klassischen Bildung ein Zeitalter Friedrichs des Großen zu machen“. Andere große Denker und Dichter des deutschen Bürgertums, wie Winckelmann und Herder, hätten ihre Heimat mit einem Fluch verlassen. „Der einzige Sündenbock, der diesem ideologischen Bedürfnisse der Bourgeoisie geschlachtet werden konnte“, sei Lessing gewesen, der freiwillig in Preußen gelebt habe. König Friedrich habe sich zwar nicht um Lessing gekümmert und ihn misshandelt, doch „in der Nacht jener glücklichen Unwissenheit, worin alle Katzen grau sind, waren die ‚geistesbefreienden‘ Tendenzen beider Männer die gleichen“.

„Die Lessing-Legende“ erlebte mehrere Auflagen und spielte eine immense Rolle dabei, die deutsche Arbeiterklasse gegen den Druck des Preußen- und Bismarckkults zu bewaffnen, dem sich das Bürgertum und das gebildete Kleinbürgertum hingaben und der auch auf die SPD, insbesondere die Funktionärsschicht in Partei und Gewerkschaften, einen erheblichen Einfluss ausübte. Mehring entwickelte zudem die darin angesprochenen Themen, wie Engels ihm geraten hatte, in Artikelserien und Büchern zur deutschen Geschichte weiter.

Für den heutigen Leser ist „Die Lessing-Legende“ wegen der vielen Polemiken über Detailfragen, die Grundkenntnisse der deutschen Geschichte und Literatur voraussetzen, keine einfache Lektüre. Trotzdem lohnt sich ihr Studium. Das Buch bietet zahlreiche Einsichten in historische und politische Fragen, die heute wieder hochaktuell sind. Mit der Rückkehr Deutschlands zum Militarismus lebt auch der Preußenkult wieder auf. Der Wiederaufbau historisch belasteter preußischer Prunkbauten, wie des Berliner Stadtschlosses und der Potsdamer Garnisonskirche, legt davon beredtes Zeugnis ab.

Zu ihrem beliebtesten Preußen-Historiker haben die deutschen Medien Christopher Clark gekürt, der wegen seiner australischen Herkunft als historisch unbelastet gilt. Clark zeichnet in seinem 2006 erschienen Bestseller über den Aufstieg und Niedergang Preußens ein äußerst schmeichelhaftes Bild des preußischen Despotismus. Er erwähnt Franz Mehring mit keiner Silbe und nennt Lessing lediglich in einer Randnotiz, ohne auf seine Bedeutung einzugehen.

Gegen Neukantianismus und Nietzsche

Mehrings theoretische Arbeit beschränkte sich nicht auf historische Fragen. Er kämpfte auch energisch gegen alle Versuche, das marxistische Fundament der SPD durch idealistische und irrationalistische Auffassungen zu untergraben.

Nachdem es Bismarck nicht gelungen war, die SPD durch das Sozialistengesetz zu zerschlagen, und dieses 1890 aufgehoben wurde, verstärkten die herrschenden Kreise ihre Bemühungen, die Partei ideologisch zu zähmen und in den Staat zu integrieren. An den Universitäten erlebte der Neukantianismus eine Blüte. Er setzte dem Klassenkampf eine über den Klassen und der Zeit stehende Ethik entgegen und versuchte, die SPD vom gefährlichen Pfad der sozialistischen Revolution auf den harmlosen Weg allmählicher Reformen zu lenken.

Mehring polemisierte in der Neuen Zeit wiederholt gegen die Neukantianer und ihren Meister. Einer seiner glänzendsten Artikel erschien am 17. Februar 1904 unter dem Titel „Kant und Marx“. [2] Dem Neukantianismus, „der Marx auf Kant oder Kant auf Marx zu pfropfen versucht“, warf er dort vor, er könne „keine andere Wirkung haben, als der deutschen Arbeiterklasse wieder die mühsam gewonnene Einsicht in ihre historischen Aufgaben zu verdunkeln“.

Kant sei in den Jubelhymnen zu seinem hundertsten Todestag als Philosoph des Liberalismus gefeiert worden, fährt Mehring fort. Das habe „wenigstens den guten Sinn, dass alle Halbheit, die der deutsche Liberalismus im vorigen Jahrhundert gezeigt hat, vorbildlich schon in Kant erscheint“. Kants Philosophie erkläre sich in letzter Instanz dadurch, „dass er niemals aus der Philisterhaut heraus konnte“.

Auf dieses Thema, dass der Kantianismus die Philosophie des deutschen Philisters sei, die dann ihre Fortsetzung in Arthur Schopenhauer fand, kommt er immer wieder zurück. Der Neukantianismus sei „seinem objektiven Wesen nach nichts als ein Versuch, den historischen Materialismus zu zerrütten“, betont Mehring. Und er weist darauf hin, dass die Neukantianer am Mangel „jenes historischen Sinnes leiden, den man begreift, wenn man ihn hat, aber den man nie begreifen lernt, wenn man ihn nicht hat“.

Auch gegen Friedrich Nietzsche, der in der SPD starken Einfluss auf Kreise ausübte, die dem Anarchismus zuneigten, zog Mehring heftig zu Felde. Die drei Modephilosophen des deutschen Bürgertums, Schopenhauer, (Eduard von) Hartmann und Nietzsche, schrieb er im Januar 1897 in der Neuen Zeit, „wurzeln mit allen Fasern ihres Wesens in den verschiedenen Perioden der ökonomischen Entwicklung, die ihre Klasse seit fünfzig Jahren durchlaufen hat“. [3]

Schopenhauer habe „noch immer seinen Stolz als Philosoph (gehabt); wie demütig der vormärzliche Philister sein mochte“. Hartmanns Philosophie des Unbewussten bedeute dagegen „die gänzliche Preisgabe des bürgerlichen Klassenbewusstseins, durch die der deutsche Philister sich den gnädigen Schutz der preußischen Bajonette erkaufen musste“. Und Nietzsche sei „der Philosoph des Großkapitals, das so weit erstarkt ist, um die Hilfe der preußischen Bajonette entbehren zu können“.

Die revolutionär klingenden Redensarten, die sich bei Nietzsche gelegentlich fänden, könnten nicht darüber hinwegtäuschen, „dass er den proletarischen Klassenkampf bekämpfte aus denselben erhebenden Gedankenkreisen heraus wie der erste beste Börsenjobber“. Ausführlich zitiert Mehring dann aus einem Artikel Nietzsches, der den Sozialismus mit denselben reaktionären Argumenten bekämpft, wie einst der reaktionäre Historiker Heinrich von Treitschke. So warnt Nietzsche davor, „die Leiden und Entbehrungen der niederen Schichten des Volkes … nach dem Maße der eigenen Empfindung“ zu messen. „In Wahrheit nehmen die Leiden und Entbehrungen mit dem Wachstum der Kultur des Individuums zu, die niedersten Schichten sind die stumpfsten: ihre Lage verbessern heißt sie leidensfähiger machen“, erklärt er.

Russische Revolution

Die russischen Revolutionen von 1905 und 1917 bedeuteten einen Wendepunkt für die internationale sozialistische Bewegung. 1905 trat die praktische Bedeutung des Konflikts zwischen Marxisten und Revisionisten, der bisher vor allem auf theoretischer Ebene ausgefochten wurde, klar in Erscheinung. In der Massenstreikdebatte gaben die Gewerkschaftsführer und der rechte Flügel der Parteiführung unmissverständlich zu verstehen, dass sie jede revolutionäre Massenbewegung der Arbeiterklasse kategorisch ablehnten. Rosa Luxemburg erhielt Auftrittsverbot bei den Gewerkschaften. Nach dem Sieg der Oktoberrevolution von 1917 war der organisatorische Bruch zwischen staatstragenden Sozialdemokraten und revolutionären Kommunisten unvermeidbar und überfällig.

Mehring erkannte die epochale Bedeutung der Revolution von 1905 sofort und begrüßte sie begeistert. In einem Land, das bisher als Hort der Reaktion und der Rückständigkeit galt, war die Arbeiterklasse als mächtiger revolutionärer Faktor in Erscheinung getreten.

Am 1. November 1905 verglich Mehring die russische Revolution in der Neuen Zeit mit der französischen Revolution des Jahres 1789. „Was die große russische Revolution von der großen französischen Revolution unterscheidet, das ist ihre Führung durch das klassenbewusste Proletariat“, schrieb er. „Was die Schwäche der europäischen Revolution von 1848 war, das ist die Stärke der russischen Revolution von 1905. Ihr Träger ist ein Proletariat, das jene ‚Revolution in Permanenz‘ begriffen hat, die ehedem die [von Marx herausgegebene] ‚Neue Rheinische Zeitung‘ noch tauben Ohren predigte.“ [4]

Mehring ging zwar nicht so weit wie Leo Trotzki, der aus der Revolution von 1905 seine Theorie der permanenten Revolution ableitete und zum Schluss gelangte, dass die Arbeiterklasse in Russland die Macht übernehmen und die bürgerliche direkt in die sozialistische Revolution überleiten müsse. Doch er ließ keinen Zweifel daran, dass der Fortschritt der Revolution davon abhing, dass die Arbeiterklasse die Initiative behielt.

„Es liegt nicht in ihrer Macht, die historischen Entwicklungsstufen zu überspringen und aus dem zaristischen Zwangsstaat im Handumdrehen ein sozialistisches Gemeinwesen zu schaffen“, schrieb er. „Aber abkürzen und ebnen können sie den Weg ihres Emanzipationskampfes, wenn sie die revolutionäre Macht, die sie errungen haben, nicht den trügerischen Luftspiegelungen der Bourgeoisie opfern, sondern sie immer von neuem einsetzen, um die historische, das will sagen die revolutionäre Entwicklung zu beschleunigen. … Ebendies ist die ‚Revolution in Permanenz‘, womit die russische Arbeiterklasse das bürgerliche Angstgeschrei nach ‚Ruhe um jeden Preis‘ erwidern muss.“

Mehring betonte die internationale Bedeutung der russischen Revolution und ermahnte die deutsche Arbeiterklasse, „dass die Sache der russischen Brüder auch die ihre ist“. In der Massenstreikdebatte stellte er sich uneingeschränkt hinter Rosa Luxemburg.

Nachdem die Bolschewiki in Russland die Macht erobert hatte, entfachte die herrschende Klasse in Deutschland eine antibolschewistische Hysterie, die nicht nur von der SPD unterstützt wurde, sondern auch auf Teile der Unabhängigen SPD übergriff. Insbesondere Karl Kautsky hetzte öffentlich gegen den „Terrorismus“ der Bolschewiki. Mehring verteidigte sie dagegen vehement.

Im Artikel „Marx und die Bolschewiki“ [5] denunzierte er Kautsky und zitierte Lenin, der drei Jahre vorher über diesen geschrieben hatte: „Die Arbeiterklasse kann ihre welthistorische revolutionäre Mission nicht erfüllen ohne rücksichtslosen Kampf gegen dieses Renegatentum, diese Charakterlosigkeit, diese Liebedienerei vor dem Opportunismus und diese beispiellose theoretische Verflachung des Marxismus.“ Er verteidigte die Bolschewiki gegen Kautskys absurde Behauptung, Marx habe unter der „Diktatur des Proletariats“ die Einführung des allgemeinen Wahlrechts verstanden.

Im Juni 1918 veröffentlichte Mehring in der Leipziger Volkszeitung den vierteiligen Artikel „Die Bolschewiki und wir“ [6], in dem er sie gegen die Anklagen ihrer Gegner verteidigte.

Den Vorwurf, es sei ein verwegenes Abenteuer und widerspreche einfachsten Begriffen des Marxismus, „dass die Bolschewiki eine sozialistische Gesellschaft in einem Lande gründen wollen, das neben 90 Prozent Bauern erst etwa 10 Prozent industrielle Arbeiter zählt“, wies er entschieden zurück. „Dem mag so sein, aber wenn Marx seine Meinung dazu sagen könnte, so würde er vermutlich ein bekanntes Wort wiederholen: Nun, dann bin ich eben kein Marxist. Er hat es nämlich nie für seine Aufgabe gehalten, neue Revolutionen an alten Formeln zu messen, sondern er sah jede neue Revolution darauf an, ob sie neue Erkenntnisse liefere, die den proletarischen Emanzipationskampf fördern könnten, unbekümmert darum, ob dabei diese oder jene alte Formel in die Brüche ging.“

Mehring ist den Weg, den er 1891 mit seinem Bekenntnis zum Marxismus einschlug, konsequent zu Ende gegangen. Man kann die letzten Worte dieses Gedenkartikels seiner engsten Mitkämpferin Rosa Luxemburg überlassen, die ihm am 27. Februar 1916, inmitten des Gemetzels des Ersten Weltkriegs, zu seinem 70. Geburtstag schrieb:

„Und sobald der Geist des Sozialismus in die Reihen des deutschen Proletariats wieder einzieht, wird seine erste Gebärde sein – nach Ihren Schriften, nach den Früchten Ihrer Lebensarbeit zu greifen, deren Wert unvergänglich ist und aus denen immer derselbe Odem einer edlen und starken Weltanschauung weht. Heute, wo uns Intelligenzen bürgerlicher Herkunft rudelweis verraten und verlassen, um zu den Fleischtöpfen der Herrschenden zurückzukehren, können wir ihnen mit verächtlichem Lächeln nachblicken: Geht nur! Wir haben der deutschen Bourgeoisie doch das Letzte und Beste weggenommen, was sie noch an Geist, Talent und Charakter hatte: Franz Mehring.“ [7]

Anmerkungen

1) MEW Band 39, S. 98,99

2) Franz Mehring, „Kant und Marx“, Gesammelte Schriften, Band 13, S. 57-66, auch online verfügbar

3) Franz Mehring, „Nietzsche gegen den Sozialismus“, Gesammelte Schriften, Band 13, S. 164-169, auch online verfügbar

4) Franz Mehring, „Die Revolution in Permanenz“, Gesammelte Schriften, Band 15, S. 84-88, auch online

5) Franz Mehring, „Marx und die Bolschewiki“, Gesammelte Schriften, Band 15, S. 778-780, auch online

6) Franz Mehring, „Die Bolschewiki und wir“, Leipziger Volkszeitung, 31. Mai, 1. Juni, 10. Juni u. 17. Juni 1918., auch online

7) Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 5, Berlin 1987, Seite 104

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