Das Jahr 2019 endete in der deutschen Automobilindustrie mit der Ankündigung des Abbaus Zehntausender Arbeitsplätze. Das Jahr 2020 begann mit einer Brandrede des Vorstandsvorsitzenden des weltgrößten Automobilkonzerns, Volkswagen, der einen „Radikalumbau des Konzerns“ und das „Schlachten heiliger Kühe“ ankündigte.
Konzernchef Herbert Diess eröffnete das sogenannte „Global Board Meeting“ von VW, ein Treffen von 120 Managern und Führungskräften, am letzten Donnerstag mit den Worten: „Eine Zeitenwende steht vor uns – von der Dimension der industriellen Revolution.“
Die Elektromobilität, die helfen soll, die Emissionen der Fahrzeugflotte auf die gesetzlichen Grenzwerte zu senken, erhöhe den Innovationsdruck, die Digitalisierung verändere das Produkt Automobil grundlegend. Auf erzielten Errungenschaften dürfe sich der Konzern nicht ausruhen. Denn auch wenn im letzten Jahr die Absatz-, Umsatz- und Gewinnzahlen gestimmt hätten und er wohlwollende Einschätzungen von Finanzanalysten zitieren könne, wolle er ehrlich sein. Dazu gehöre auch: „Der Sturm geht jetzt erst los.“
Seine Vision sei, den Automobilkonzern binnen weniger Jahre in einen Technologiekonzern umzuwandeln, verkündete Diess. Immer wieder verglich er VW mit dem kalifornischen Tesla-Konzern. Dessen Aktienkurs steige weitaus dynamischer als der von VW. Beim Marktwert seien beide Konzerne fast gleichauf. „Meine Damen und Herren, wir werden wie ein Automobilunternehmen bewertet, Tesla wie ein Tech-Unternehmen.“ Das wolle er ändern.
Denn, so Diess: „Das Automobil wird in Zukunft das komplexeste, wertvollste, massentaugliche Internet-Device.“ Und das Auto werde das wichtigste „Mobile Device“. Es werde also dem Smartphone den Rang ablaufen.
Nur so könne man verstehen, „warum Tesla aus Sicht der Analysten so wertvoll“ sei. „Wir als Volkswagen wollen auch genau dorthin“, erklärte Diess. Auf „die große Frage“, ob VW dafür schnell genug sei, antwortete er: „Vielleicht, aber es wird immer kritischer.“ Das jetzige Tempo sei zu gering.
Er erinnerte an den Handy-Hersteller Nokia, der „im Kampf gegen Apple untergegangen ist“. Das sei „exakt die Situation, die sich in der Automobilindustrie wiederholt“. Die Zeit klassischer Automobilhersteller sei vorbei, die Zukunft von Volkswagen liege im digitalen Tech-Konzern – „und nur da“.
Der Chef von weltweit mehr als 660.000 Beschäftigten erklärte, dem Konzern fehle „der Mut zu kraftvollem, wenn es sein muss radikalem Umsteuern“. Die Umwandlung zu einem Technologiekonzern soll mit einer Erhöhung oder mindestens Beibehaltung der Profite einhergehen. „Die Margen im Jahr 2020 müssen mindestens halten.“ Ziel sei es, den Börsenwert des Konzerns auf 200 Milliarden Euro zu steigern, das wäre mehr als eine Verdoppelung des derzeitigen Werts von 92 Milliarden Euro.
Diese obszöne Bereicherung der Aktionäre ist ohne einen Frontalangriff auf die Belegschaften des gesamten Konzerns nicht möglich. Diess drohte: „Wir haben das Potenzial dazu, wenn wir den Ernst der Lage wirklich zum Anlass nehmen, um die Potenziale dieses Konzerns voll auszuschöpfen und wo nötig auch heilige Kühe zu schlachten.“
Mit „heiligen Kühen“ sind Arbeitsplätze, Löhne und Arbeitsbedingungen gemeint. Diess umschreibt das mit der Nutzung von „Synergien“ und der Steigerung der „Produktivität“. „Bei der Produktivität müssen wir weiter vorankommen. In allen Marken laufen Kostensenkungsprogramme“, sagte er. Insbesondere in den deutschen Standorten liege Potenzial. „Und bei ihnen liegt auch ein großer Hebel.“
Aktivitäten müssten regelmäßig überprüft werden, VW müsse sich fragen: „Was kann wegfallen, was brauchen wir neu?“ Der VW-Chef verkündete die Losung: „Um unsere Zielmargen zu erreichen und dauerhaft zu steigern, brauchen wir auch ein grundlegendes Umdenken. Weg von der Volumenorientierung, hin zur Ergebnisqualität.“
So liefere die Edelmarke Bentley 10.000 Fahrzeuge aus, mache aber keine Rendite. „Wenn ich ganz ehrlich bin: Lieber wären mir 5000 Auslieferungen und eine Rendite über 20 Prozent. […] Wir werden künftig noch stärker auf Umsatz, Rendite und Cash als Kernberichtsgrößen abstellen.“
Die Auswirkungen auf die Arbeitsplätze, wenn nur noch die Hälfte der Fahrzeuge gebaut wird, interessieren Diess nicht, Hauptsache die Rendite stimmt: „Dafür brauchen wir einen Radikalumbau des Konzerns“. Was dem VW-Chef hier, noch ohne konkrete Zahlen zu nennen, vorschwebt, ist ein rigoroser Kahlschlag bei den rund 660.000 Arbeitsplätzen, insbesondere den rund 230.000 in Deutschland.
Die Vorstellungen von Diess gehen weit über den bereits angekündigten Abbau hinaus. So hatte die Marke VW bereits 2016 mit der IG Metall und den Betriebsräten vereinbart, 30.000 Arbeitsplätze abzubauen. Die Premium-Marke Audi hatte Ende letzten Jahres den Abbau von fast 10.000 Arbeitsplätze angekündigt.
Diess will den durch die technologische Entwicklung anstehenden Umbruch nutzen, um die bislang noch bestehenden Errungenschaften in der Autoindustrie abzuschaffen. Der Manager, der 2015 als Sanierer von BMW zu VW geholt wurde, ist sich sicher, dass ihn die IG Metall und der Betriebsrat dabei unterstützen, die Aktionäre auf Kosten der Belegschaften zu bereichern.
Als Diess 2015 zu VW kam, hatte der Gesamtbetriebsratsvorsitzende Bernd Osterloh dem Handelsblatt 2015 erklärt, er sei „sein Mann“. An seiner Berufung sei er maßgeblich beteiligt gewesen. Die Wirtschaftswoche titelte 2018, als Diess Chef des Gesamtkonzerns wurde: „Ein Vorstandsvorsitzender von Osterlohs Gnaden.“
In Zusammenarbeit mit Osterloh will Diess die innerbetrieblichen Mechanismen des Abbaus organisieren. Die IG Metall arbeitet derweil mit der Bundesregierung und den Verbandsvertretern der Automobilindustrie an den gesellschaftlichen Auffangmechanismen. Dazu hatten sie bereits im vorletzten Jahr die „Nationale Plattform Mobilität“ (NPM) einberufen. Unter Leitung des Bundesverkehrs- und des Bundeswirtschaftsministeriums arbeiten Vertreter der Merkel-Regierung, der Konzernverbände und der Gewerkschaften in sechs Arbeitsgruppen zusammen.
Die Arbeitsgruppe 4 mit dem irreführenden Titel „Sicherung des Mobilitäts- und Produktionsstandortes“ leitet niemand geringeres als Jörg Hofmann, Bundesvorsitzender der IG Metall. Wenn Gewerkschafter und Betriebsräte von Sicherung des Produktionsstandortes reden, ist immer der Abbau von Arbeitsplätzen gemeint. In den letzten Jahren ist noch jeder vernichtete Arbeitsplatz in der Autoindustrie als Sicherung des Standortes deklariert worden.
Die IGM und ihre Betriebsräte entwickeln die Pläne, die Argumente („Sicherung der Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit“, „Produktivitätssteigerung“, „Standortsicherung“) und die Mechanismen (Sozialpläne, Abfindungs-, Altersteilzeit-, Frühverrentungsregelungen) für den Abbau der Arbeitsplätze.
In ihrem Januarbericht, der letzte Woche erschien, hat die Arbeitsgruppe von IGM-Chef Hofmann verschiedene Szenarien für das kommende Arbeitsplatzmassaker und seine Folgen entwickelt. Nach einem Szenario, dem „worst case“, gehen in den nächsten zehn Jahren 410.000 Arbeitsplätze in der Autoindustrie verloren, das ist exakt jeder zweite der 820.000 Arbeitsplätze in Deutschland.
Die Gewerkschaft schlägt vor, den „Strukturwandel abzufedern“, indem die zu entlassenden Autoarbeiter weitergebildet werden. Schon im letzten Jahr hatte sie dazu ihr Konzept eines „Transformations-Kurzarbeitergeldes“ vorgestellt. Konzerne und Bundesagentur für Arbeit zahlen den arbeitslos gewordenen Autoarbeitern ein stark reduziertes Gehalt, während sie bis zu 24 Monate „weitergebildet“ und in andere Berufe oder Branchen vermittelt werden sollen.
Nun schreibt die NPM, es brauche ein zentrales Weiterbildungskonzept für den gesamten Mobilitätssektor. Schon einen Tag später, am Mittwoch vergangener Woche, war der NPM-Bericht Arbeitsgrundlage der Runde aus Regierungs-, Unternehmens- und Gewerkschaftsvertretern, die im Bundeskanzleramt zusammenkam. Personalvorstände und Betriebsräte aus der Autoindustrie trafen sich mit Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) und mehreren Ministern.
In Wirklichkeit geht es bei dem hektische Treiben einzig und allein um die Frage, wie die Arbeitsplätze abgebaut und die Profite gesteigert werden können, ohne Massenproteste auszulösen. Denn neben VW haben auch alle anderen Autohersteller einen massiven Jobabbau angekündigt, darunter Daimler, Opel und Ford.
Das von der IG Metall vorgeschlagene Transformations-Kurzarbeitergeld und das dazugehörige Weiterbildungskonzept sollen dies ermöglichen. Die Weiterbildungszentren, an denen sich womöglich gewerkschaftsnahe Bildungsträger noch eine goldene Nase verdienen, hätten für die Autoarbeiter nur eine Funktion: Verschiebebahnhof in die Arbeitslosigkeit. Das war bereits mit den Transfergesellschaften bei Opel Bochum der Fall.
Während die modernen Technologien ungeahnte Möglichkeiten schaffen, den Lebensstandard und das kulturelle Niveau der ganzen Menschheit zu heben, geschieht unter kapitalistischen Bedingungen das Gegenteil. Arbeiter verlieren ihre Jobs und Lebensgrundlage, der Reichtum der Gesellschaft fließt in die Taschen einer kleinen Minderheit.
Die Autoarbeiter müssen sich auf heftige Auseinandersetzungen vorbereiten, in denen sie mit den Konzernen, der Bundesregierung sowie den Gewerkschaften und ihren Betriebsräten konfrontiert sein werden. Die WSWS und die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) unterstützen Arbeiter, die sich entscheiden, sich unabhängig zu organisieren, Aktionskomitees aufzubauen und den Kampf gegen die korrupten Vertreter aus Gewerkschaft und Betriebsrat aufzunehmen. Nehmt Kontakt zu uns auf.