Am Montag, dem zweiten Tag der Kämpfe zwischen Armenien und Aserbaidschan um die umstrittene Region Berg-Karabach, starben zig Soldaten und Zivilisten. Die schweren Kämpfe mit Panzern und gepanzerten Fahrzeugen, Jagdbombern und Drohnen sind bei weitem die blutigsten seit dem Krieg zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken von 1988 bis 1994, der noch vor der Auflösung der Sowjetunion 1991 ausbrach.
Die armenische Regierung, die Berg-Karabach kontrolliert, gab an, 28 Soldaten verloren zu haben, wodurch sich die Zahl der Toten auf 59 erhöhte. Außerdem gab es auf armenischer Seite 200 Verwundete. Das Büro für Menschenrechte in Arzach – der armenische Name für die Enklave Berg-Karabach – erklärte, alle Städte einschließlich Stepanakert, Askeran, Martakert, Martuni, Hadrut und Schuschi seien beschossen worden; eine Großmutter und ihre Enkelin wurden getötet. Die armenischen Streitkräfte geben an, sie hätten 15 Drohnen sowie mehrere aserbaidschanische Panzerfahrzeuge zerstört und Hunderte aserbaidschanische Soldaten getötet.
Die aserbaidschanischen Streitkräfte, die ihre militärischen Verluste nicht bekanntgegeben haben, erklärten, bei der Bombardierung der Städte seien 26 aserbaidschanische Zivilisten verwundet worden. Berichten zufolge rückten sie auch am Boden etwas weiter vor. Die von ihnen veröffentlichten Videos zeigen ihre angeblich von der Türkei zur Verfügung gestellten Drohnen bei der Zerstörung von gepanzerten armenischen Fahrzeuge und von Batterien aus Kurzstrecken-Flugabwehrraketen russischer Produktion. Die türkischen Streitkräfte haben bereits Drohnen eingesetzt, um solche Batterien zu zerstören, die von russisch unterstützten Einheiten in den Kriegen in Libyen und Syrien eingesetzt wurden.
Aserbaidschan schickte eine „letzte Warnung“ an Armenien, nachdem Armenien Berichten zufolge die aserbaidschanische Stadt Terter bombardiert hatte. Sie lautete: „Das Verteidigungsministerium warnt Armenien ein letztes Mal, dass erforderlichenfalls angemessene Vergeltungsmaßnahmen gegen sie ergriffen werden.“
Dieser Krieg ist die katastrophale Folge sowohl der nationalistischen Politik der stalinistischen Bürokratie, die in der Auflösung der Sowjetunion und Wiederherstellung des Kapitalismus gipfelte, als auch des jahrzehntelangen imperialistischen Kriegs in der Region seit 1991. Gewaltige geopolitische Spannungen konzentrieren sich jetzt im Kaukasus – ein Landstreifen im Zentrum Eurasiens, zwischen dem Schwarzen Meer und Europa im Westen, Russland im Norden, dem Kaspischen Meer und China im Osten sowie dem Iran und der Türkei im Süden. Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan warnte am Sonntag, dass sich die Kämpfe „über die Region hinaus ausbreiten und ein viel größeres Ausmaß annehmen könnten“.
Die Kämpfe entwickeln sich vor dem Hintergrund einer wachsenden militärischen Eskalation der USA gegen den Iran, China und Russland. Nachdem die Nato, die Europäische Union, Russland, Iran und Frankreich am frühen Sonntag in Erklärungen zur Zurückhaltung im armenisch-aserbaidschanischen Konflikt aufgerufen hatten, zog Washington hinterher. Auf einer Pressekonferenz am Sonntagabend zum armenisch-aserbaidschanischen Konflikt befragt, sagte US-Präsident Donald Trump allerdings nur: „Wir beobachten das sehr genau. Wir haben viele gute Beziehungen in diesem Gebiet. Wir werden sehen, ob wir das beenden können.“
Die Regierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan wies diese routinemäßigen Erklärungen jedoch zurück und forderte ein aggressives Vorgehen der Aserbaidschaner.
Der Krieg von 1988 bis 1994, der dazu führte, dass Armenien die Kontrolle über Berg-Karabach übernahm, war ein blutiger Konflikt, der den reaktionären Charakter des Nationalstaatensystems deutlich machte. Im armenisch-aserbaidschanischen Krieg zwischen Staaten mit nur drei bzw. zehn Millionen Einwohnern wurden eine Million Menschen vertrieben und über 20.000 getötet. Erdoğan ruft jedoch dazu auf, das Ergebnis des Kriegs rückgängig zu machen, Aserbaidschan bei der Rückeroberung Berg-Karabachs zu helfen und Armenien eine blutige Niederlage beizubringen.
Am Montag erklärte Erdoğan in Istanbul: „Es ist an der Zeit, dass die regionale Krise, die mit der Besetzung Berg-Karabachs begann, beendet wird. Sobald Armenien das besetzte Gebiet verlässt, wird die Region zu Frieden und Harmonie zurückkehren.“
Erdoğan wies Aufrufe zur Zurückhaltung vonseiten der Vereinigten Staaten, Russlands und Frankreichs zurück. Diese drei Staaten hatten in der postsowjetischen Zeit traditionell die aserbaidschanisch-armenischen Friedensgespräche vermittelt. Weiter erklärte er: „Sie taten im Grunde alles, was sie konnten, aber das löste das Problem nicht. Jetzt muss Aserbaidschan die Sache selbst in die Hand nehmen.“
Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar bekräftigte die ethnische Solidarität seines Regimes mit den turksprachigen Aserbaidschanern gegen Armenien: „Die Beziehungen zwischen der Türkei und Aserbaidschan basieren auf dem Prinzip ,zwei Staaten – eine Nation‘. Wir stehen immer zusammen, an guten wie an schlechten Tagen. Wir stehen auf der Seite unserer aserbaidschanischen Brüder bei der Verteidigung des Vaterlands.“
Diese Unterstützung für Aserbaidschan könnte zu einem Krieg zwischen der Türkei, einem Nato-Mitgliedsstaat, und Armeniens wichtigstem Verbündeten Russland eskalieren. Russland verfügt über eine Militärbasis in Gjumri in Armenien.
Dieses Risiko ist umso größer, weil die Nato-Kriege im Irak, Libyen und Syrien die Spannungen zwischen Russland und der Türkei weiter angeheizt haben. In den Bürgerkriegen in Libyen und Syrien, die auf die Nato-Stellvertreterkriege seit 2011 folgten, haben Russland und die Türkei rivalisierende Fraktionen unterstützt. Am 25. September brachen die Gespräche zwischen russischen und türkischen Regierungsvertretern über die Kontrolle der syrischen Provinz Idlib zusammen. Die Kämpfe zwischen den von Russland unterstützten syrischen Regierungstruppen und den von der Türkei unterstützten islamistischen „Rebellen“-Milizen könnten dort bald wieder ausbrechen.
Von Russland und der Türkei unterstützte Truppen kämpfen auch in Libyen, während griechische Kriegsschiffe, die von Frankreich unterstützt werden, der Türkei die Kontrolle über weite Teile des östlichen Mittelmeers streitig machen.
Umfassender betrachtet sind die wachsenden russisch-türkischen Spannungen, die den Berg-Karabach-Konflikt vorantreiben, jedoch nur ein Element im Zusammenbruch des Nationalstaatensystems im Nahen Osten sowie in Zentralasien und der Tendenz zu einem neuen imperialistischen Weltkrieg.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Es besteht die wachsende Gefahr, dass die Trump-Regierung, die bereits ihre Pläne für einen Staatsstreich und die Missachtung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen von November verkündet hat, in einer „Oktober-Überraschung“ vor den Wahlen versuchen könnte, einen Krieg mit dem Iran zu beginnen. Gestern sagte US-Außenminister Mike Pompeo dem irakischen Präsidenten Barham Salih, dass er beabsichtigt, die US-Truppen und Diplomaten abzuziehen, die seit der illegalen, von den USA angeführten Invasion 2003 im Irak stationiert sind. Falls Washington gegen den Iran in den Krieg ziehen sollte, wären sie Angriffen ausgesetzt, wenn sie blieben.
Der Iran hat bereits begrenzte Raketenangriffe auf US-Basen im Irak geführt, nachdem der iranische General Qassem Soleimani im Januar von Washington in Bagdad ermordet worden war.
In einem Bericht mit dem Titel „Die Drohung, US-Diplomaten aus dem Irak zu evakuieren, weckt die Angst vor einem Krieg“, stellte Reuters fest: „Jeder Schritt der Vereinigten Staaten, ihre diplomatische Präsenz in einem Land zu reduzieren, in dem sie bis zu 5.000 Soldaten stationiert haben, würde in der Region allgemein als Eskalation ihrer Konfrontation mit dem Iran angesehen... Das wiederum würde die Möglichkeit einer Militäraktion eröffnen, nur wenige Wochen vor einer Wahl, bei der Präsident Donald Trump eine harte Linie in Bezug auf Teheran und iranische Stellvertreter verfolgt.“
Reuters zitierte nicht genannte westliche Diplomaten, nach denen Pompeo dies ankündigt, weil Washington „in seinen Möglichkeiten“, gegen pro-iranische Kräfte im Irak vorzugehen, „nicht eingeschränkt sein will“. Reuters schreibt: „Auf die Frage, ob er erwartet, dass Washington mit wirtschaftlichen oder militärischen Maßnahmen reagiert, antwortete der Diplomat: Angriff.“
Diese Drohungen stehen in engem Zusammenhang mit der US-Konfrontation gegen China und Russland. Peking verhandelt mit dem Iran über ein Militärbündnis und ein 400-Milliarden-Dollar-Handelsabkommen. Washington droht damit, ein Verbot erneuter russischer und chinesischer Waffenexporte an den Iran durchzusetzen, was dazu führen könnte, dass US-Kriegsschiffe versuchen, russische und chinesische Schiffe auf hoher See zu beschlagnahmen.
Türkische Regierungsvertreter sehen einen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem Anheizen pan-türkischer Stimmungen durch Erdoğan und den Drohungen gegen den benachbarten Iran. Die staatliche türkische Nachrichtenagentur TRT World verurteilt den Iran, weil er „Armenien im Konflikt“ mit Aserbaidschan „stillschweigend unterstützt“ habe und behauptet, dass „das türkische Problem des Iran“ auf ethnisch-türkische Minderheiten im Norden des Iran zurückzuführen sei.
TRT World zitierte Professor Bülent Aras von der Universität Sabancı in Istanbul: „Der zunehmende türkische Nationalismus im Iran wird vom Iran als ein ernstes politisches Problem angesehen. Die Verbindungen und Beziehungen zwischen dem Norden des Landes und Aserbaidschan sind ein wichtiger Faktor in den politischen Problemen Teherans mit Aserbaidschan gewesen.“ Der TRT spekulierte, dass „die Idee eines Groß-Aserbaidschans“ den ethnischen Separatismus im Iran anheizen könnte.
Diese Konflikte sind eine Warnung vor der wachsenden Gefahr eines umfassenden Kriegs im Nahen Osten und international, der mit dem Zusammenbruch der amerikanischen Demokratie im eigenen Land verbunden ist. Sie unterstreichen die dringende Notwendigkeit, eine internationale Antikriegsbewegung aufzubauen, die die Arbeiterklasse in sozialistischem Widerstand gegen Nationalismus und Krieg vereint.