Massenproteste in Kolumbien gehen weiter, obwohl bereits 379 Demonstranten „verschwunden“ sein sollen

Wie die kolumbianische „Sucheinheit für Vermisste Personen“ (UBPD), eine staatlich finanzierte Einrichtung, am letzten Donnerstag bekanntgab, sind seit Beginn der Massenproteste am 28. April 379 Demonstranten nach wie vor „verschwunden“. Die Proteste richten sich gegen geplante Steuern auf grundlegende Dienstleistungen, Lebensmittel und Einkommen von Arbeitern.

Die Behörde untersuchte 471 Vermisstenmeldungen von 26 verschiedenen Organisationen und konnte nur 92 Demonstranten ausfindig machen, von denen einer getötet worden war. Diese Zahl liegt deutlich über den Angaben des Ombudsmanns der Regierung, der am 4. Mai von 89 Vermissten gesprochen hatte. Laut Angaben der Polizei wurden 47 der 89 Vermissten gefunden.

Das tatsächliche Ausmaß der Unterdrückung im ganzen Land durch den rechtsextremen Präsidenten Ivan Duque, an dem auch das von den USA ausgebildete und bewaffnete Militär beteiligt war, wird erst nach und nach deutlich. Laut der Nichtregierungsorganisation Temblores wurden bei Schusswaffeneinsätzen der Polizei 37 Demonstranten getötet und weitere 98 verwundet. Es gab 934 willkürliche Verhaftungen und elf Fälle von sexueller Gewalt durch Sicherheitskräfte, und 26 Demonstranten wurden durch „nichttödliche“ Projektile an den Augen verletzt.

Innerhalb von nur neun Tagen sind mehr als 500 Demonstranten entweder verschwunden oder wurden von den Sicherheitskräften getötet. Bereits diese Zahlen erinnern an die Massenmorde und die Praxis des „Verschwindenlassens“, die für die faschistischen Militärdiktaturen charakteristisch waren, die mit Unterstützung der USA in den 1960er, 70er und 80er Jahren einen Großteil von Südamerika regierten.

Die Repression zeigt, dass die vom Imperialismus unterstützte herrschende Klasse Kolumbiens entschlossen ist, der Arbeiterklasse sämtliche Kosten für die Corona-Pandemie aufzubürden.

Die hunderttausenden und möglicherweise Millionen Menschen, die trotz der bisher tödlichsten Welle der Pandemie im Land auf die Straße gegangen sind, haben andererseits den Mut und die Entschlossenheit der Arbeiterklasse und der Jugend demonstriert.

Es handelt sich in Kolumbien um den größten Volksaufstand in Lateinamerika seit den Massendemonstrationen in Chile und Bolivien im Jahr 2019. Allein in dieser Woche hat die Zahl der von Polizei und Militär in Kolumbien getöteten Demonstranten diejenigen in Chile (34) und Bolivien (32) überschritten.

Vor den jüngsten Protesten gegen Duque und seine Regierung hatten Studenten im Jahr 2018 für mehr Geld für das öffentliche Hochschulbildungswesen gestreikt. Darauf folgten Massenproteste, die mit einem landesweiten Streik gegen Steuererhöhungen am 29. November 2019 begannen und drei Todesopfer unter den Demonstranten forderten. Zuletzt fand im September 2020 eine massenhafte Erhebung gegen Polizeimorde statt, die ebenfalls mit scharfer Munition unterdrückt wurde und 13 Tote sowie 75 Verletzte forderte.

Die Beobachter des „Friedensabkommens“ von 2016 mit den Guerillakräften der Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia (FARC) haben berichtet, dass 904 Anführer lokaler sozialer Gruppen getötet wurden – darunter viele entwaffnete Kämpfer. Dies geschah vor dem Hintergrund der Operationen faschistischer Paramilitärs, die im Auftrag transnationaler Konzerne und lokaler Grundbesitzer nach wie vor Bauern von ihrem Land vertreiben.

Die Vereinten Nationen und die Europäische Union haben die „exzessive Gewalt“ der Polizei zwar nervös verurteilt, doch die US-Regierung von Präsident Joe Biden hat lediglich zu „Mäßigung“ aufgerufen und ihrem wichtigsten politischen und militärischen Verbündeten in der Region damit faktisch freie Hand gegeben.

Trotz der Repression und Duques Manöver, die geplanten Steuererhöhungen vorübergehend auszusetzen, haben sich im ganzen Land Tausende an Demonstrationen, Straßensperren und Mahnwachen für die Opfer beteiligt. Am Freitag fanden in der Hauptstadt Bogotá fünf verschiedene Demonstrationen unter der Führung von Studenten und Lehrern der öffentlichen Schulen statt.

Der Hauptgrund für die jüngsten Demonstrationen ist die Weigerung der Regierung, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um die soziale und gesundheitliche Katastrophe zu bekämpfen, die die Covid-19-Pandemie angerichtet hat.

Obwohl nur vier Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind und die Zahl der Toten auf den Rekordwert von fast 500 pro Tag angestiegen ist, weigert sich die Regierung, nicht lebenswichtige Bereiche der Wirtschaft zu schließen und den Arbeitern und Kleinunternehmern genug finanzielle Unterstützung zu zahlen, um die Krise zu überstehen.

Fast 468.000 Menschen haben während der Pandemie ihren Arbeitsplatz verloren, und die offizielle Arbeitslosenquote liegt bei fast 16 Prozent. 42,5 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der offiziellen Armutsrate von weniger als 87 Dollar pro Monat oder 2,90 Dollar pro Tag.

Die kolumbianischen Oppositionsparteien und das Nationale Streikkomitee, das von den wichtigsten Gewerkschaftsverbänden angeführt wird, haben versucht, die Demonstrationen einzudämmen und vor den Karren eines nationalen Dialogs mit Duque zu spannen. Gleichzeitig werden im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 2022 Illusionen in den pseudolinken Senator und ehemaligen Guerillaführer Gustavo Petro geschürt.

Zahllose Kommentare der Mainstreammedien haben eindeutig erklärt, dass der Aufstand in Kolumbien Teil eines globalen Kampfs um die Frage ist, welche Klasse für die pandemische Krise bezahlen wird. Das Magazin Foreign Policy erklärt, die Proteste in Kolumbien seien „eine Warnung an andere lateinamerikanische Staaten: Der Versuch, den Armen und der Mittelschicht den Großteil der Kosten für die Pandemie aufzubürden, könnte zu beträchtlichem Druck der Straße führen.“

Nach drei Jahren zunehmender Proteste hat der jüngste Aufstand jedoch gezeigt, dass Politiker, NGOs und Gewerkschaften die soziale Wut immer weniger in andere Kanäle lenken können. Es wird immer klarer, dass es mit Duque oder der kolumbianischen Finanzoligarchie, für die er spricht, nichts zu verhandeln gibt.

Das Medienunternehmen Bloomberg erklärte am Mittwochabend mit Blick auf die lateinamerikanischen Regierungen, dass trotz der steigenden Warenpreise „nur wenige Geld für Sozialausgaben haben, die die Bürger über Wasser halten können“. Und wenn Steuern „auf Unternehmen und Reiche konzentriert werden... warnen Forscher vor einem Szenario, in dem Unternehmen weniger Arbeiter einstellen.“

Mit anderen Worten: Das Finanzkapital wird jedes Land, das die Sozialausgaben erhöht oder konsequente Lockdown-Maßnahmen durchführt, mit Kapitalflucht bestrafen, was den Arbeitsplatzabbau und den inflationären Preisanstieg beschleunigen wird.

Mit Duque zu verhandeln oder ihn durch Petro oder irgendeinen anderen kapitalistischen und nationalistischen Politiker zu ersetzen, würde nur darauf abzielen, die Proteste zu demobilisieren und die Arbeiterklasse politisch zu entwaffnen. Die Vorbereitungen für neue Sparmaßnahmen, regressive Steuern und Repressionen würden jedoch weitergehen.

Dies geht eindeutig aus einer Kolumne hervor mit dem Titel „Lasst Petro an die Macht!“, die am Donnerstag in der Zeitung El Tiempo veröffentlicht wurde. Die Zeitung gehört dem reichsten Mann Kolumbiens, Luis Carlos Sarmiento, dessen Nettovermögen während der Pandemie um zwei Milliarden auf elf Milliarden Dollar angestiegen ist.

Darin heißt es: „Soll doch Gustavo Petro unter Druck an die Macht kommen, damit er das Haushaltsloch stopfen kann, das [Duques Amtsvorgänger] Juan Manuel Santos hinterlassen hat; damit er alle früheren und künftigen Subventionen beibehalten und dafür sorgen kann, dass die Lehrer glücklich sind (damit sie nicht streiken, wie sie es zwei Monate nach Duques Amtsantritt getan haben), genauso wie die Taxifahrer von Uber und anderen Plattformen, die Pflegerinnen und Pfleger, die Verbände, die Privatwirtschaft, der öffentliche Dienst und der Rest des Landes.“ Und weiter:

„Soll er den internationalen Kreditrating-Agenturen zeigen, dass Kolumbien auch ohne die Steuerreform kredit- und investitionswürdig ist... Wenn Petros Amtsübernahme dieses Chaos beenden und für Frieden sorgen kann, soll er heute noch an die Macht kommen.“

Dass die wirklichen Verbündeten der kolumbianischen Arbeiter ihre Klassenbrüder und -schwestern im Rest der Welt sind, zeigen die beträchtlichen Solidaritätsaktionen in Deutschland, New York, Kanada, Chile und vielen anderen Ländern.

Nur die politische Mobilisierung der Arbeiterklasse in ganz Lateinamerika, den USA, Europa und weltweit, die auf der Grundlage eines sozialistischen und internationalistischen Programms vereint sind, kann die Diktatur des Finanzkapitals überwinden und die Coronakrise im Interesse der Arbeiter und der unterdrückten Massen lösen.

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