Die Zinserhöhungen der US-amerikanischen Zentralbank schaffen die Voraussetzungen für eine Finanzkrise und eine globale Rezession. Davor warnt eine stetig wachsende Anzahl überstaatlicher Organisationen. Zu den Mahnern zählen neben der Weltbank und der Welthandelsorganisation seit kurzem auch die Vereinten Nationen.
In ihrem Anfang des Monats veröffentlichten Jahresbericht erklärt die Konferenz der Vereinten Nationen für Handel und Entwicklung (UNCTAD), dass sich die Weltwirtschaft nach einer „Erholung“ im Jahr 2021 „inmitten einer kaskadierenden und sich vervielfachenden Krise“ befindet.
Da die Einkommen in den meisten der führenden Volkswirtschaften immer noch unter dem Niveau von 2019 liegen, „verlangsamt sich das Wirtschaftswachstum global“.
Der Anstieg der Zinssätze und die äußerst volatilen Anleihemärkte führen dazu, dass „verschuldete Länder, darunter mehr als die Hälfte der Niedriglohnländer und etwa ein Drittel der Länder mit mittlerem Einkommen, der Zahlungsunfähigkeit sehr nahe kommen“.
Mit einem klar auf den Klassenkampf gerichteten Blick stellt der Bericht fest, dass die wirtschaftliche Misere im Kern auf die Lebenshaltungskostenkrise in den Industrie- und Entwicklungsländern zurückgeht. Verschärft durch die Gefahr neuer Covid-19 Massenausbrüche, die Folgen des Klimawandels und Kürzungen der Staatsausgaben „führt dies bereits jetzt zu gesellschaftlichen Unruhen, die schnell zu politischer Destabilisierung und offenen Konflikten eskalieren können“.
Unter Verweis auf die Auswirkungen der Zinssätze auf die Weltwirtschaft stellt der Report fest, dass jeder Anstieg des Leitzinssatzes der US-Notenbank in den nächsten drei Jahren die Wirtschaftsleistung in den Industrieländern um 0,5 Prozentpunkte und in den armen Ländern um 0,8 Prozentpunkte senkt. Und drastischere Erhöhungen um 2 oder gar 3 Prozentpunkte (derartige Erhöhungen sind bereits im Gange) würden den „bereits stagnierenden Wirtschaftsaufschwung“ in den Schwellenländern noch stärker belasten.
Die Generalsekretärin der UNCTAD, Rebeca Grynspan, kommentierte den Jahresbericht mit den Worten: „Noch ist genügend Zeit, um vom Rande der Rezession zurückzutreten.“ Aber der gegenwärtige Ansatz schade den Schwächsten, vor allem in den Entwicklungsländern, und „droht die Welt in eine globale Rezession zu stürzen“.
Die Zinserhöhungen, von der US-Zentralbank initiiert und von Zentralbanken in der ganzen Welt mitgetragen, wurden im Zeichen der Inflationsbekämpfung beschlossen. Sie werden jedoch nicht zur Senkung der Preise beitragen, da diese das Ergebnis von Angebotsengpässen, Spekulationen und Profitgier der Großunternehmen sind, wie der Bericht im Detail nachweist.
Richard Kozul-Wright, Leiter des federführenden UNCTAD-Report-Teams, sagte in einem Interview: „Versucht man hier etwa ein Problem der Angebotspolitik mit einer nachfrage-orientierten Lösung zu beheben? Das scheint uns ein sehr gefährlicher Ansatz zu sein.“
Diese Einschätzung trifft allerdings nicht zu. Die Zentralbankpolitik zielt nicht auf die Senkung der Inflationsrate per se ab, vielmehr dient sie der Herbeiführung einer erheblichen Konjunkturabschwächung, wenn nötig einer Rezession. Es geht darum die Lohnforderungen der Arbeiter abzuschmettern, die versuchen, bereits erlittene Einbußen ihres Lebensstandards – und die weiteren Abstriche, die sich aus den größten Preissteigerungen seit vier Jahrzehnten ergeben – wieder wettzumachen.
Mit anderen Worten: Die von der amerikanischen Notenbank verfolgte Strategie ist nicht das Resultat einer Fehldiagnose der Wirtschaftslage. Vielmehr ist sie das Ergebnis einer bewusst ausgearbeiteten Klassenkampf-Agenda, die sich aus der von Regierungen und Zentralbanken verfolgten Politik zumindest seit der globalen Finanzkrise von 2008 herausgebildet hat.
In dem Bericht wird die These verworfen, dass der Preisanstieg einfach auf den Krieg in der Ukraine zurückzuführen sei, und betont, dass dieser zwar „die Wirtschaftsängste verschärft“ habe, „die gravierendsten Probleme, denen die Weltwirtschaft gegenübersteht, aber bereits vor dem Krieg existierten“.
Die Fakten zeigen, dass der Inflationsschub nicht auf die Lockerung der Finanzpolitik oder den Lohn- und Gehaltsdruck, „sondern größtenteils auf die Kostensteigerungen, insbesondere im Energiesektor, und eine schleppende Angebotsentwicklung aufgrund der seit langem gezügelten Investitionsbereitschaft“ zurückzuführen ist.
Dies ist eine direkte Folge der Politik der quantitativen Lockerung der US-Fed und anderer Zentralbanken seit der Krise von 2008, die sich nach dem Kollaps der Finanzmärkte im März 2020 noch beschleunigte. Die Bereitstellung von ultrabilligem Geld in Billionensummen hatte zur Folge, dass Spekulation und Finanzparasitismus wie Krebsgeschwüre überall wucherten.
In einem „Hochprofitumfeld verkam das Finanzierungswesen zu einem reinen Instrument des Rent-Seekings, an der vor allem große multinationale Konzerne verdienten. [Rent-Seeking ist das durch Lobbyarbeit erzielte leistungslose „Renten“-Einkommen, wie z.B. die Gaspreiskostenumlage für Energielieferanten.] Durch ihre Marktmacht konnten sie den Großteil ihrer Einkünfte aus künstlicher Verknappung und nicht aus der Produktion von Waren oder der Erbringung von Dienstleistungen erzielen.“
Parallel dazu trieb die Profitgier immer neue Blüten. Mitte 2022 lag das Verhältnis der Unternehmensgewinne zum Bruttoinlandsprodukt der USA bei 7 Prozent, im Vergleich zu den 6,25 Prozent von vor der Pandemie. Bei einem BIP von etwa 20 Billionen Dollar bedeutet dies, dass mindestens 150 Milliarden Dollar zusätzlich in die Schatztruhen der Konzerne fließen.
Dem Jahresbericht zufolge lassen sich zwischen 2020 und 2022 „schätzungsweise 54 Prozent des durchschnittlichen Preisanstiegs im Nicht-Finanzsektor auf höhere Gewinnmargen zurückführen, verglichen mit nur 11 Prozent in den 40 Jahren davor“.
Ein weiterer Haupttreiber des Preisanstiegs, besonders bei Energie und Nahrungsmitteln, ist die Zunahme der Spekulationsgeschäfte, die durch niedrige Zinssätze finanziert wird. „Die quantitative Lockerung der Jahre 2020 und 2021 führte zu mehr Finanzspekulation und Inflation auf den Kapitalmärkten, von Kryptowährungen bis hin zu Erdöl, Lebensmitteln und Bodenschätzen.“
Absicherungsgeschäfte gehören seit langem zum geschäftlichen Alltag auf den Rohstoffmärkten, da diese stark schwankungsanfällig sind. Allerdings ist dieses System mittlerweile vollständig von der Finanzspekulation überschattet, die nun „einen wesentlichen Faktor für den Anstieg der Energie-, Lebensmittel- und Rohstoffpreise“ bildet.
Vor 2002 machten nicht-gewerbliche Spekulationsgeschäfte 20 Prozent der US-Öl-Terminmärkte aus. Bis 2009 stieg dieser Anteil auf 50 Prozent, und neueren Schätzungen zufolge liegt er mittlerweile sogar zwischen 70 und 80 Prozent.
Der Report stellt fest, dass seit der Finanzkrise von 2008 die finanziellen Abhängigkeiten zunehmend weltumspannend wurden, mit dem Resultat, dass „komplexe Krisen, wie etwa der plötzliche Ausbruch einer Finanzmarktpanik oder extremer Preisturbulenzen, oder eine Kombination externer Ursachen, eine ständige akute Gefahr bilden“.
Die Studie wurde vor der britischen Finanzkrise erstellt, aber zweifellos hätte die Krise, wenn sie nicht durch die Intervention der Bank of England mit 65 Milliarden Pfund auf dem Anleihemarkt zumindest vorübergehend abgewendet worden wäre, das globale Wirtschaftssystem in Mitleidenschaft gezogen, was die Korrektheit der Analyse bestätigt.
„Die restriktivere Geldpolitik“, so der Bericht weiter, „birgt ein zusätzliches Risiko für die Realwirtschaft und den Finanzsektor: Angesichts des hohen Verschuldungsgrads in Nicht-Finanz-Unternehmen könnten die ansteigenden Kredittilgungskosten dazu führen, dass Ausfälle von Schuldnern stark zunehmen, und eine Kaskade von Insolvenzen auslösen.“
Wenn Regulierungen als politisch inakzeptabel angesehen werden (in den Augen der Finanzmärkte) und die Währungshüter nicht in der Lage sind, die Inflation schnell zu stabilisieren, würden die Behörden „auf zusätzliche restriktive Finanzmaßnahmen zurückgreifen“, was „nur dazu beiträgt, eine schwerere globale Rezession zu verursachen“.
Die finanzielle Situation wurde durch das, was die UNCTAD als „das Universum der Nichtbank-Finanzinstitute und -Kreditanbieter“ bezeichnet, noch instabiler. Das so genannte Schattenbankensystem, das weitgehend unreguliert agiert, hat trotz einiger Bemühungen, es einzudämmen, „an Größe, geografischer Ausdehnung und Vielfalt“ hinzugewonnen.
Der Anteil des weltweiten Finanzvermögens, der von Schattenbanken gehalten wird, ist von 42 Prozent im Jahr 2008 auf fast 50 Prozent Ende 2019 angestiegen. In den USA werden mehr als zwei Drittel der Immobilienkredite von Schattenbanken vergeben, und der Anteil ihrer Unternehmenskredite ist fast genauso hoch wie derjenige der Banken.
Im Jahr 2021 kontrollierten Schattenbanken Vermögenswerte in Höhe von 226,6 Billionen Dollar bezogen auf eine Gesamtsumme von 468,7 Billionen Dollar.
Der Bericht stellte korrekterweise fest: „Die Welt befindet sich in einer Systemkrise, die nur durch ein systematisches Vorgehen gelöst werden kann.“
Doch die spärlichen Reformvorschläge der UNCTAD, die auf einer stärkeren Reglementierung und Überwachung basieren, reichen bei Weitem nicht aus. Außerdem zeigt die jüngste Geschichte, wie der Bericht selbst darlegt, dass selbst diese Reformvorhaben nicht umgesetzt werden.
Dazu heißt es in dem Bericht: „Im Jahrzehnt nach der globalen Finanzkrise wurde eine Gelegenheit versäumt, die Welt auf einen nachhaltigeren und integrativeren Wachstumspfad zu bringen.“ Als die Panik vorbei war, ging es weiter wie gehabt: Die Zentralbanken pumpten noch mehr Geld hinein, die Nichtbanken-Finanzinstitute weiteten ihre Portfolios stark aus, die Regierungen kürzten ihre Staatsausgaben, die Löhne und Gehälter stagnierten und die Vermögens- und Einkommensdisparitäten verschärften sich.
Die „verpasste Möglichkeit“ war nicht auf mangelndes Wissen zurückzuführen. Berichte, z. B. des US-Senats im Jahr 2011, haben auf die enormen Gefahren in den Machenschaften des Finanzsystems und seine oftmals unverhohlene Kriminalität aufmerksam gemacht.
Es gab auch kein politisches Dilemma, etwa in Form von zaudernden Wechselwählern. Nach der globalen Wirtschaftskrise, die das Leben von Millionen Menschen in den USA und auf der ganzen Welt zerstörte, gab es eine breite öffentliche Unterstützung für die staatliche Übernahme des gesamten Finanzsystems. Doch selbst dort, wo eklatante kriminelle Aktivitäten aufgedeckt wurden, kam es zu keiner Strafverfolgung. Die Banken wurden als zu groß erklärt, um sie in Konkurs gehen zu lassen, und die Verbrecher als zu mächtig, um sie ins Gefängnis zu stecken.
Aufgrund der enormen Macht des Finanzkapitals über den Politikbetrieb und das Handeln der Regierenden wurden keinerlei Maßnahmen ergriffen. Diese Einflussnahme hat sich seither noch ausgeweitet. Die Systemkrise kann daher nur überwunden werden, wenn sie an ihrer Quelle, dem Profitsystem selbst, angegangen wird: durch den Kampf der Arbeiterklasse für ein sozialistisches Programm, in dessen Verlauf die Finanz- und Konzernriesen in öffentliches Eigentum unter demokratischer Kontrolle überführt werden.
Die Autoren des UNCTAD-Berichts haben dies mit Sicherheit nicht beabsichtigt, aber die von ihnen vorgelegten Daten sind ein unumstößliches Argument für die Verwirklichung dieses sozialistischen Programms.