Die Europäische Zentralbank (EZB) hat zum dritten Mal in Folge eine deutliche Anhebung ihrer Leitzinsen angekündigt, obgleich sie einräumt, dass sich die Eurozone auf dem Weg in eine Rezession befindet.
Die Anhebung um 75 Basispunkte entspricht den Markterwartungen, zumal die EZB weitere Zinserhöhungen angekündigt hatte.
Christine Lagarde, die Präsidentin der Europäischen Zentralbank (EZB), hat auf ihrer Pressekonferenz im Anschluss an die Sitzung des EZB-Rats vom 27. Oktober darauf hingewiesen, dass sich die Wirtschaftslage in mehrfacher Hinsicht verschlechtert hat.
„Die Wirtschaftstätigkeit im Euroraum dürfte sich im dritten Quartal 2022 erheblich verlangsamt haben, und wir rechnen für den Rest des laufenden Jahres und Anfang 2023 mit einer weiteren Abschwächung“, sagte sie.
Die hohe Inflation, die derzeit bei fast 10 Prozent liegt, schmälert die Realeinkommen privater Haushalte und erhöht die Kosten für die Unternehmen. Dadurch wirkt sie drosselnd auf Ausgaben und Produktion, sodass sowohl das Vertrauen der Unternehmer als auch der Verbraucher „rapide“ sinkt.
„Die Nachfrage nach Dienstleistungen verlangsamt sich aktuell, nachdem sie in den vorangegangenen Quartalen kräftig zugelegt hatte, als die Sektoren wieder öffneten, die am stärksten von den pandemiebedingten Einschränkungen betroffen waren“, erklärte Lagarde.
Auch die Verschlechterung der Handelsbedingungen – eine Folge der Aufwertung des US-Dollars gegenüber dem Euro, wodurch die Importkosten schneller steigen als die Exporterlöse – „belastet die Einkommen im Euroraum“.
Laut EZB liegt die Inflation der Energiepreise um 40,7 Prozent über dem Vorjahresniveau. Dessen ungeachtet machte Lagarde deutlich, dass die Zentralbank höhere Staatsausgaben ablehnt, womit Sie den negativen Auswirkungen der Preissteigerung faktisch freien Lauf lässt.
„Die finanzpolitischen Maßnahmen zum Schutz der Wirtschaft vor den Auswirkungen hoher Energiepreise [sollten] befristet und auf die Schwächsten ausgerichtet sein“, sagte sie und forderte, dass die Regierungen eine Politik verfolgen, die darauf abzielt, die hohe Staatsverschuldung abzubauen.
Angesichts der Rezessionsgefahr wurde in einigen Kreisen die Befürchtung laut, dass die EZB ihre Zinserhöhungen zurücknehmen könnte. Carsten Brzeski, der Leiter des makroökonomischen Analystenbüros der niederländischen Bank ING, erklärte gegenüber der Financial Times, Lagarde habe mit ihrer Betonung der Rezession „die Tür für einen weichen Kurs geöffnet“.
Doch angesichts der klaren Haltung der Mitglieder des EZB-Rats, die in der Zusammenfassung seiner Septembersitzung klar zum Vorschein tritt, dürfte es sich hier um reines Wunschdenken seitens des Finanzkapitals handeln. Letzteres ist stets darauf bedacht an günstiges Geld zu gelangen.
In der Zusammenfassung der Sitzung des EZB-Rats vom September 2022 wurde festgehalten, dass die Inflation begonnen hat „sich selbst zu verstärken, und zwar so weit, dass sogar eine projizierte deutliche Wachstumsdelle nicht ausreiche, um eine Rückkehr der Inflation auf den Zielwert zu erreichen“.
Die Hauptsorge der EZB wie auch der Zentralbanken weltweit ist, dass die Inflation die Arbeiter in Lohnkämpfe treibt und sie die Fesseln der Gewerkschaften sprengen, wenn immer offensichtlicher wird, dass die Preissteigerungen weitergehen werden.
„Je länger die hohe Inflation anhalte, so wurde weiter angeführt, desto höher sei die Gefahr einer Entankerung der Inflationserwartungen, und desto teurer werde es, diese Erwartungen wieder zum Zielwert zurückzuführen“, heißt es entsprechend in der Zusammenfassung der Sitzung des EZB-Rats vom September.
Die Bereitschaft der EZB, eine Rezession herbeizuführen, um die Forderungen der Arbeiter für bessere Löhne zu unterdrücken, wurde mit den Worten zu Protokoll gegeben, dass „Bedenken hinsichtlich des Wachstums keinesfalls eine notwendige kräftige Leitzinsanhebung verhindern sollten“.
Die höheren Leitzinsen haben zu ersten Differenzen in der Eurozone geführt.
Am Dienstag nutzte die frischgebackene italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni, Führerin der faschistischen Fratelli d'Italia, ihre erste Rede im Parlament, um sich gegen die restriktive Zins- und Geldpolitik der EZB in Stellung zu bringen.
Sie sagte, die Entscheidung, die Zinssätze zu erhöhen, „betrachten viele als eine überstürzte Entscheidung, die noch dazu riskiert, dass sich Bankkredite für Unternehmen und Familien verteuern“. Die Entscheidung der EZB im Juli, ihr Anleihekaufprogramm zu beenden, „schafft weitere Schwierigkeiten für öffentlich hochverschuldete Mitgliedsstaaten“.
Der Zinsanhebungsbeschluss der EZB vom Juli ging mit der Einführung des neuen „Instruments zur Absicherung der geldpolitischen Transmission“ (Transmission Protection Instrument, TPI) einher. Damit kann die Europäische Zentralbank Staatsanleihen hoch verschuldeter Länder, insbesondere Italiens, aufkaufen, um einen Ausverkauf am Anleihenmarkt und damit einen sprunghaften Zinsanstieg zu verhindern.
Das TPI setzt jedoch voraus, dass die Regierungen das „Umstrukturierungsmaßnahmen“-Diktat der EZB einhalten. Dagegen wandten sich Meloni und ihre Partei unter dem früheren Ministerpräsidenten Mario Draghi, wodurch sie die Gunst zahlreicher Wähler gewinnen konnten.
Meloni ist bei Weitem nicht die einzige Kritikerin. Der französische Präsident Emmanuel Macron warnte letzte Woche in einem Interview mit der Zeitung Les Echos vor einer Drosselung der Binnennachfrage.
„Mit Sorge beobachte ich, wie zahlreiche Experten und gewisse geldpolitische Entscheidungsträger in Europa uns erklären wollen, dass wir die europäische Binnenwirtschaft einäschern müssen, nur um der Teuerung Herr zu werden“, sagte er. „Man muss hier sehr behutsam vorgehen.“
Macron benannte die „Entscheidungsträger“ nicht konkret, aber der Vorstoß für höhere Leitzinsen wird maßgeblich von den deutschen Finanzbehörden vorangetrieben.
Die finnische Premierministerin Sanna Marin hatte Anfang des Monats in einem Tweet die Politik der Zentralbank kritisiert. Sie schrieb, dass „völlig irrige geldpolitischen Ideale vorherrschen, wenn Notenbanken lieber ihre Glaubwürdigkeit bewahren, selbst wenn sie damit ganze Volkswirtschaften in die Rezession treiben“.
Lagarde wurde auf ihrer Pressekonferenz mit diesen Vorwürfen konfrontiert. Sie wischte die Bedenken mit den Worten beiseite: „Wir müssen tun, was wir tun müssen.“ Lagarde betonte zwar, dass die EZB das „Risiko einer Rezession“ nicht aus den Augen verliere, sich aber aufgrund ihres Mandats der „Realität der Teuerung“ stellen müsse.
Die EZB sah sich gezwungen, ein weiteres Problem von politischer Tragweite anzusprechen. Als Teil ihrer Maßnahmen zur Rettung von Unternehmen stellte sie zu Beginn der Pandemie 2,1 Billionen Euro an extrem billigen Krediten bereit, die sogenannten „gezielten langfristigen Refinanzierungsgeschäfte“.
Aufgrund des gestiegenen Leitzinses besteht jedoch die Möglichkeit, dass Schuldner dieses Geld bei der EZB hinterlegen, um damit einen risikofreien Gewinn in Höhe von insgesamt rund 28 Milliarden Dollar erzielen zu können, wie aus Schätzungen der US-Bank Morgan Stanley hervorgeht.
Um dem, wie ein Finanzchef es ausdrückte „faden Beigeschmack“ loszuwerden – ein massives Geldgeschenk an Finanzkonzerne, während private Haushalte einen „historischen Absturz“ ihrer Einkommen erleiden – beschloss die EZB, den Zinssatz für die Kredite ab dem 23. November anzuheben, um ihn an ihren Leitzins anzupassen.
Aber diese rückwirkende Entscheidung, die Regeln zu ändern, könnte rechtliche Schritte nach sich ziehen. Zumal einige Banken davor warnen, dass die Glaubwürdigkeit der EZB-Refinanzierungsgeschäfte beeinträchtigt werden könnte.
Vor dem Hintergrund des Mini-Haushalts der britischen Regierung unter Truss vom 23. September, der zu einem Einbruch der Anleihekurse führte, wird befürchtet, dass auch die europäischen Märkte von größeren finanziellen Turbulenzen betroffen sein könnten.
In dieser Woche hat die International Capital Market Association, die die bedeutendsten Händler auf den Anleihemärkten vertritt, in einem Schreiben an die EZB vor Problemen auf dem Repo-Markt gewarnt. Der Repo-Markt ist der Bereich des Finanzsystems, der den Banken kurzfristige Finanzmittel – häufig über Nacht – zur Verfügung stellt und sie mit Sicherheiten für den Derivatehandel versorgt.
Der europäische Repo-Markt hat ein Volumen von rund 10 Billionen Euro. Im Schreiben wird davor gewarnt, dass Liquiditätsmängel in der Vergangenheit bereits zu Verwerfungen führten, wie etwa zu Beginn der Pandemie.
Weiter im Brief steht: „Wir treten in eine neue Ära des finanzpolitischen Zyklus ein, in der die Stabilisierungs- sowie die Marktschwankungsphase zu exponentiell heftigeren und häufigeren Verwerfungen führen.“
In dem Papier heißt es, dass die derzeitigen Liquiditätsbedingungen auf den Repo- und Geldmärkten der Eurozone Anlass zu der Sorge geben, dass „die zunehmenden Krisen die Kernfunktion der geldpolitischen Transfermechanismen gefährden“.
Vor dem Hintergrund, dass die EZB die Leitzinsen anhebt und weitere Erhöhungen in Aussicht stellt, lassen diese Warnungen erkennen, dass die Krise, die im Vereinigten Königreich ausgebrochen ist, zwar bestimmte britische Besonderheiten aufweist, letztlich aber in Veränderungen im globalen Finanzsystem wurzelt, die sich aus den höheren Zinssätzen und der restriktiveren Geldpolitik ergeben, wie sie in allen Ländern und Regionen vorherrschen.