Die IG Metall ist dabei, den Tarifkampf der fast vier Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie auszuverkaufen. Der Bundesvorstand der Gewerkschaft beschloss am Montagabend, „den Weg für einen Einigungsversuch im IG-Metall-Bezirk Baden-Württemberg freizumachen“. Am heutigen Donnerstag beginnt in Ludwigsburg bei Stuttgart eine fünfte Verhandlungsrunde für den Südwesten, deren Ergebnis dann als Pilotabschluss von allen anderen Tarifbezirken übernommen werden soll.
In den vergangenen zweieinhalb Wochen beteiligten sich bundesweit fast 700.000 Metallarbeiterinnen und Arbeiter an Warnstreiks, um der Forderung nach einer kräftigen prozentualen Anhebung der Tariflöhne Nachdruck zu verleihen. Doch während die Kampfbereitschaft unter den Arbeitern enorm ist, vereinbarte die IG Metall hinter den Kulissen still und heimlich einen üblen Ausverkauf. Die Äußerungen beider Seiten machen deutlich, dass sich die Spitzen von Gewerkschaft und Arbeitgeberverbänden längst auf eine massive Senkung der Reallöhne verständigt haben.
Man habe in den vergangenen Tagen mit den Arbeitgebern sondiert und eine Absprungbasis geschaffen, sagte IGM-Chef Jörg Hofmann der Deutschen Presse-Agentur. Über Sondierungen habe man sich in vielen Detailfragen bereits angenähert. Der Arbeitgeberverband Südwestmetall erklärte, man sei an einer konstruktiven Lösung interessiert und am Donnerstag auf einen Einigungsversuch vorbereitet.
Auch die Umrisse der Einigung zeichnen sich bereits ab.
Hauptstreitpunkt der bisherigen vier Verhandlungsrunden, die in mehreren Tarifbezirken parallel stattfanden, war die Anhebung der tabellenwirksamen Entgelte. Seit April 2018, als sie um 4,3 Prozent stiegen, sind diese nicht mehr erhöht worden. Die IG Metall gab sich stattdessen mit diversen Einmalzahlungen zufrieden, die sich auf das langfristige Tarifniveau nicht auswirken.
Um den Preisanstieg seit der letzten Anhebung vor viereinhalb Jahren auszugleichen, wäre daher eine Erhöhung der Tariflöhne von mindestens 15 Prozent notwendig. Allein während der letzten zwölf Monate sind die Preise offiziell um 10,4 Prozent gestiegen, für Lebensmittel und Energie, die Arbeiterhaushalte besonders stark belasten, sogar um mehr als 20 Prozent. Eine Erhöhung um 15 Prozent würde die Inflation des kommenden Jahres, die sich voraussichtlich im zweistelligen Bereich bewegen wird, noch gar nicht berücksichtigen.
Unter diesen Umständen stand die IG Metall unter enormem Druck von unten. Sie kam nicht darum herum, eine Erhöhung der Tabellenlöhne zu fordern. Sie verlangte acht Prozent bei einer Laufzeit von zwölf Monaten – was, wie wir gesehen haben, den Reallohnverlust nicht annähend ausgleichen würde –, schrieb die Forderung in großen Lettern auf ihre Kundgebungsbanner und verkündete lautstark, sie werde nicht von der Forderung nach einer „dauerhaften prozentualen Tariferhöhung“ abrücken.
Die Metallunternehmer verlangten erst provokativ eine Nullrunde und boten schließlich eine Inflationsprämie von 3000 Euro bei einer Laufzeit von 30 Monaten – also 100 Euro zusätzlich im Monat, die sich aber nicht auf den Tabellenlohn auswirken. Die Bundesregierung hat solche Inflationsprämien in Absprache mit den Gewerkschaften steuer- und abgabenfrei gestellt, um niedrige Tarifabschlüsse zu ermutigen.
Abschluss wie in der Chemieindustrie
Was sich nun abzeichnet, ist ein ähnlicher Abschluss wie in der Chemieindustrie. Dort hat die IG BCE im Oktober eine Inflationsprämie von 3000 Euro, die in zwei Tranchen ausbezahlt wird, sowie zwei Tariferhöhungen von jeweils 3,25 Prozent vereinbart – bei einer Laufzeit von 27 Monaten. Bei Ablauf des Tarifvertrags wird der Reallohn der Chemiearbeiter um etwa 15 Prozent gesunken sein.
Die IG Metall hat bereits zu erkennen gegeben, dass sie etwa Ähnliches anstrebt. IGM-Chef Hofmann behauptet zwar weiterhin, dauerhafte und substanzielle Erhöhungen in den Gehaltstabellen seien unverzichtbar. Er rechnet aber laut Handelsblatt auch damit, „dass der vom Bund steuer- und abgabenfrei gestellte Betrag von 3000 Euro in mehreren Einmalzahlungen an die Beschäftigten fließen werde“.
Südwestmetall wiederum hat verkündet, der „große Knackpunkt“ sei die Laufzeit. Sollte sich die IG Metall auf eine Laufzeit von 30 Monaten einlassen, sei man auch bereit, über eine tabellenwirksame Lohnerhöhung zu reden.
Man muss kein Rechenkünstler sein, um zu sehen, worauf das Ganze hinausläuft: Inflationsprämie, eine symbolische Tariferhöhung bei einer Laufzeit von mindestens zwei Jahren plus zahlreiche Ausnahmeregeln für Betriebe in finanziellen Schwierigkeiten. Die vier Millionen Beschäftigten der Metall- und Elektroindustrie werden bei Ablauf des Vertrags gemessen an der Kaufkraft ein Viertel weniger verdienen als 2018, als die IG Metall zum letzten Mal eine Tariferhöhung vereinbarte.
Die IG Metall hatte nie die geringste Absicht, für die völlig ungenügende 8-Prozent-Forderung zu kämpfen. Obwohl sich die Tarifverhandlungen bereits seit zwei Monaten hinziehen, hat sie keine Urabstimmung durchgeführt und lediglich zu kurzen Warnstreiks aufgerufen, die meist in die Pause oder auf den Anfang oder das Ende einer Schicht fielen. Selbst auf 24-stündige Warnstreiks verzichtete sie, um den Unternehmen nicht weh zu tun.
Gleichzeitig fürchtet sie, dass umfassendere Streiks die Belegschaften weiter radikalisieren. Auf den Kundgebungen erklärten Arbeiter gegenüber der WSWS, dass „in Wirklichkeit 18 Prozent mehr Lohn nötig“ wären, um den Lebensstandard aufrechtzuerhalten. Viele Arbeiter fordern einen Vollstreik, um ihre Forderungen zu erreichen. Das Misstrauen unter Arbeitern gegenüber der IG Metall ist groß.
Nun droht sie zwar auf ihrer Website: „Sollte es auch in der fünften Verhandlungsrunde erneut keine Lösung am Verhandlungstisch geben, sind auch 24-Stunden-Warnstreiks oder gar Urabstimmungen möglich.“ Doch das ist das übliche Getöse vor dem Ausverkauf. Selbst wenn die IG Metall weiter gehen müsste, als sie will, würde sie alles tun, um einen Vollstreik zu verhindern oder so schnell wie möglich wieder abzubrechen.
Rekordprofite
Dabei geht es der Metall- und Elektrobranche gut. Die meisten Betriebe haben volle Auftragsbücher und erhöhen ihre Gewinne trotz Pandemie und Energiekrise. So erwartet der Mercedes-Konzern, der schon im letzten Jahr einen Rekordgewinn erzielte, für 2022 eine bereinigte Umsatzrendite von 13 bis 15 Prozent. Porsche erzielte im ersten Halbjahr 2022 bei einem Umsatz von 18 Milliarden Euro ein operatives Ergebnis von 3,5 Milliarden Euro.
Probleme haben viele Zulieferbetriebe, die von den großen Autokonzernen rücksichtslos ausgequetscht werden oder wegen der Umstellung auf Elektromobilität ihre Abnehmer verlieren. Sie müssen jetzt als Begründung für die umfassendste Reallohnsenkung seit der Großen Depression der 1930er Jahre herhalten.
„Insgesamt brummt die Metall- und Elektroindustrie zwar – doch nicht allen Betrieben geht es gut,“ schreibt die IG Metall zur Begründung ihrer niedrigen Forderung. „Das sehen auch die Tarifkommissionsmitglieder aus den gut laufenden Betrieben ein. Daher haben sich die Tarifkommissionen schließlich auf eine gemeinsame, solidarische Forderung geeinigt, die auch die weniger gut laufenden Betriebe mitgehen können: 8 Prozent.“
Was für ein bankrottes Argument! Lohnsenkung aus „Solidarität“ mit schlecht laufenden Betrieben. Nach dieser Logik gäbe es heute noch den 12-Stunden-Tag und Kinderarbeit.
Die IG Metall vertritt nicht die Interessen der Arbeiter, sondern die der Konzerne. Ihre Funktionäre sitzen in den Aufsichtsräten und entscheiden dort über Konzernstrategien und Kürzungspläne. Ihre Betriebsräte sorgen dafür, dass sich in den Betrieben kein Widerstand regt. Ihre Spitzenfunktionäre arbeiten im Rahmen der Konzertierten Aktion aufs Engste mit der Bundesregierung und den Wirtschaftsverbänden zusammen.
Dort arbeiten sie gemeinsam Pläne zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie aus, zu denen auch die Senkung der Lohnkosten gehört. Die Idee, Einmalzahlungen bis zu 3000 Euro von Abgaben und Streuern freizustellen, wurde in der Konzertierten Aktion geboren.
In diesem Monat hat ein weiteres korporatistisches Bündnis namens „Zukunft der Industrie“ „umfassende Vorschläge zur Sicherung industrieller Wertschöpfung in Deutschland“ vorgelegt, wie es in einer gemeinsamen Pressemitteilung des Bundesverbands der Deutschen Industrie und der IG Metall heißt.
„Wir müssen die gegenwärtigen Krisen als Chance nutzen, um die Transformation noch entschlossener voranzutreiben und so industrielle Wertschöpfung und damit auch gute Arbeitsplätze langfristig zu sichern,“ erklärt IGM-Chef Jörg Hofmann, ein führendes Mitglied des Bündnisses. „Es kommt darauf an, jetzt die richtigen Weichen zu stellen und in Technologien und Märkte der Zukunft zu investieren.“
Ein besonders inniges Verhältnis pflegen die IG Metall Baden-Württemberg und Südwestmetall, die jetzt den Pilotabschluss aushandeln. Im Frühjahr stellten sie sich in einer gemeinsamen Erklärung hinter die Sanktionen gegen Russland und die Kriegsoffensive der Nato und unterstützten den 100-Milliarden-Rüstungsfonds für die Bundeswehr. „Diese Maßnahmen werden uns allen Opfer abverlangen,“ heißt es in der Erklärung.
IGM sitzt auf Streikfonds von 1,1 Milliarden Euro
Die IG Metall steht nicht nur politisch, sondern auch materiell im Lager des Klassengegners. Sie sitzt auf einem gewaltigen Vermögen, das ihren Funktionären – neben zahlreichen Aufsichtsrats- und anderen Mandaten – ein sattes Einkommen sichert.
Wie die Tagesschau Anfang des Monats berichtete, hortet die IGM in ihrer Streikkasse „mindestens 1,1 Milliarden Euro“. Die genaue Summe ist nicht bekannt, da die Gewerkschaft sie geheim hält. Die dokumentierten Rücklagen seit 2000 belaufen sich auf 1,6 Milliarden Euro.
Für Streiks hat die IG Metall davon so gut wie nichts ausgegeben. Der teuerste Streik seit 2000 kostete sie vor vier Jahren gerade einmal 27 Millionen Euro. 2012 zahlte sie insgesamt 332 Euro (sic!) für Streikunterstützung! Dagegen gab sie jährlich 656 Millionen Euro (Wert von 2020) zur Deckung des allgemeinen Gewerkschaftsbudgets aus – für die Gehälter ihrer Funktionäre und diverse Gewerkschaftsaktivitäten.
Erhebliche Teile ihres Vermögens hat die IG Metall in Immobilien und Aktien investiert, mit denen sie ein Renditeziel von 5 Prozent anstrebt – d.h. sie hat ein direktes Interesse an hohen Aktienkursen, die durch hohe Lohnforderungen gefährdet werden.
Die Verteidigung der Reallöhne, Arbeitsplätze und anderer sozialer Errungenschaften ist nur gegen diese Bürokratie möglich, die mit beiden Füßen im feindlichen Lager steht. Die Sozialistische Gleichheitspartei tritt deshalb für den Aufbau unabhängiger Aktionskomitees ein, die diese Aufgabe in die Hand nehmen.
In den USA kandidiert der Autoarbeiter Will Lehman, ein Sozialist, mit Unterstützung der Socialist Equality Party für den Vorsitz der UAW, der Schwesterorganisation der IG Metall, um die Macht von der Bürokratie an die Basis zurückzugeben. Er tritt für die Abschaffung des UAW-Apparats und die Stärkung der Macht der Arbeiter durch Aktionskomitees ein und hat dafür in zahlreichen Betrieben große Unterstützung erhalten.
Die erste Aufgabe von Aktionskomitees besteht darin, Widerstand gegen den Ausverkauf der Tarifrunde durch die IG Metall zu organisieren. Arbeiter müssen den Gewerkschaftsbürokraten das Verhandlungsmandat entziehen und wirkliche Kampfmaßnahmen vorbereiten. Dazu müssen sie sich betriebsübergreifend und international vernetzen.
Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat die Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees, IWA-RFC) ins Leben gerufen, um den Aktionskomitees eine Orientierung zu geben und sie international zu koordinieren.