75 Jahre nach der Gründung Israels: Die Nakba und der Kampf für die Einheit von Juden und Arabern

Am 14. Mai jährte sich die Gründung des Staats Israel zum 75. Mal. In Israel selbst wurde der Tag offiziell nach dem hebräischen Kalender am 25. April begangen, im Anschluss an den jährlichen Gedenktag für diejenigen, die im Gründungskrieg und den nachfolgenden Kriegen Israels gekämpft haben und gestorben sind und die heute im aktiven Wehrdienst stehen.

Der offizielle Jahrestag wurde verhalten begangen. Er fand inmitten der größten Massenproteste jüdischer Israelis in der Geschichte des Staats statt, die sich gegen die Pläne von Ministerpräsident Benjamin Netanjahus Regierung aus faschistischen, religiösen und Siedlerparteien richten, durch einen Verfassungsputsch die Befugnisse des Obersten Gerichts zu beschneiden. Das Ausmaß des Widerstands gegen die rechtsextremste Regierung in der Geschichte Israels hat zu wiederholten Warnungen vor einem Bürgerkrieg geführt, der das Überleben des Staats gefährden würde. Gleichzeitig hat Netanjahu bewusst Kriegsstimmung gegen die Palästinenser in den besetzten Gebieten, Israels eigene arabische Bürger und die Nachbarstaaten geschürt, vor allem gegen den Iran und Syrien, die einige palästinensische militante Widerstandsorganisationen gegen Israel unterstützen.

Demonstration von Israelis, die die geplante Justizreform von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ablehnen. Sie zünden Lagerfeuer an und blockieren am 26. März 2023 eine Autobahn in Tel Aviv, kurz nachdem Netanjahu seinen Verteidigungsminister entlassen hatte. (AP Photo/Ohad Zwigenberg) [AP Photo/Ohad Zwigenberg]

Seit Netanjahu und seine rechtsextreme Koalition letzten Dezember ihr Amt angetreten haben, hat seine Regierung ihre Macht auf Kosten der Judikative konsolidiert, um sozialen und politischen Widerstand leichter unterdrücken zu können. Die Regierung versucht, den Weg frei zu machen für die dauerhafte Annektierung eines Großteils des besetzten Westjordanlands und für blutige Militärinterventionen gegen die Palästinenser, den Iran und seine Verbündeten. Netanjahus Koalition will palästinensischen Knesset-Abgeordneten außerdem das Mandat entziehen und ihren Parteien verbieten, bei Wahlen anzutreten. Damit würde ein Fünftel der israelischen Staatsbürger dauerhaft das Wahlrecht verlieren.

Dies würde die Apartheid-ähnlichen Verfassungsänderungen konsolidieren, die sich auf das Grundgesetz von 2018, das Nationalstaatsgesetz, stützen, das die jüdische Vorherrschaft als rechtliche Grundlage des Staats festschreibt. In dem Gesetz heißt es: „Nur die jüdische Bevölkerung des Staats Israel hat das Recht, nationale Selbstbestimmung auszuüben.“ Es spricht sich für die dauerhafte Annektierung von ganz Jerusalem als „vollständige und vereinte“ Hauptstadt Israels aus und befürwortet den Bau von Siedlungen als „nationalen Wert“. Zudem soll Arabisch den Status als offizielle Amtssprache verlieren. Wie zahlreiche Menschenrechtsorganisationen bestätigt haben, würden damit die arabischen Staatsbürger Israels zu Bürgern zweiter Klasse werden.

Die offizielle Opposition gegen dieses Vorhaben wird von einer heterogenen Gruppe bürgerlich-zionistischer Parteien angeführt, deren Meinungsverschiedenheiten mit Netanjahu die Sorge widerspiegeln, dass er die Interessen des Staats gefährde. Sie lehnen es kompromisslos ab, dass die entstehende faschistische Bedrohung in Israel mit dem Widerstand gegen die Unterdrückung der palästinensischen und arabischen Israelis in irgendeiner Weise in Verbindung gebracht wird. Wenn jedoch ein Weg gefunden werden soll, um gegen die Gefahr von Diktatur und Krieg zu kämpfen, die sich weit über Israel und Palästina ausdehnen würde, so sind dies jedoch die zentralen Fragen.

Wenn Israel den gregorianischen Kalender übernommen hätte, läge der Jahrestag seiner Gründung nur einen Tag vor dem palästinensischen Nakba-Tag, dem Gedenken an die „Katastrophe“, welche die Palästinenser erlebt haben, und an die Vertreibung eines Großteils der palästinensischen Bevölkerung vor und nach der Gründung Israels. Nur wenn die Beziehung zwischen diesen beiden Ereignissen untersucht wird, können die jüdischen und arabischen Arbeiter eine politische Antwort auf die verzweifelte und tragische Situation formulieren, in die der Zionismus sie beide gestürzt hat.

Die Gründung Israels

Die Krise in Israel ist das Ergebnis tief verwurzelter politischer und ideologischer Widersprüche innerhalb des zionistischen Staats. Sie wird angetrieben durch die zunehmende Kluft zwischen der Arbeiterklasse und der herrschenden Elite in einem der ungleichsten Länder der Welt. Israels Gründung hat ihre Wurzeln in der Katastrophe, die das europäische Judentum in den 1930ern und 1940ern erlitt. Diese Katastrophe gipfelte in der Ermordung von sechs Millionen Juden durch die Nazis im Holocaust nach der Niederlage der europäischen Arbeiterklasse gegen den Faschismus.

„Selektion“ ungarischer Juden in Auschwitz, 1944. Fast alle 400.000 ungarischen Juden wurden im Sommer 1944 in Auschwitz vergast.

Bill Van Auken erklärte 1998 in einer Perspektive auf der WSWS anlässlich des 50. Jahrestags der Gründung Israels:

In Israels Entstehung und Entwicklung konzentrieren sich die großen ungelösten Widersprüche des 20. Jahrhunderts. Ihre maßgeblichen Ursprünge liegen in einem der größten Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Geschichte: dem Holocaust der Nazis. Die Vernichtung von sechs Millionen europäischen Juden war wiederum der schreckliche Preis, der für die Krise der Arbeiterbewegung in Folge der stalinistischen Degeneration der Sowjetunion und der Kommunistischen Internationale gezahlt wurde. Die Verbrechen des Stalinismus und seine Vorherrschaft über die Arbeiterbewegung hinderten die Arbeiterklasse daran, dem krisengeschüttelten kapitalistischen System ein Ende zu setzen, das daraufhin im Faschismus seine letzte Verteidigungslinie fand.

Die Niederlagen der Arbeiterklasse, die Verbrechen des Stalinismus und das Grauen des Holocaust schufen die historischen Bedingungen für die Gründung Israels und den weitgehend erfolgreichen Versuch der zionistischen Bewegung – mit Unterstützung des US-Imperialismus und des Stalinismus – den Zionismus mit dem internationalen Judentum gleichzusetzen. Es handelte sich um eine Bewegung und einen Staat, der letztlich auf Entmutigung und Verzweiflung beruhte. Die Verrätereien des Stalinismus führten zur Desillusionierung gegenüber der sozialistischen Alternative, die auf jüdische Arbeiter auf der ganzen Welt zuvor so starke Anziehungskraft ausgeübt hatte. Die Verbrechen des deutschen Faschismus wurden als endgültiger Beweis dafür dargestellt, dass es unmöglich sei, den Antisemitismus in Europa oder sonst wo auf der Welt zu besiegen. Die Antwort des Zionismus war die Schaffung eines Staats und einer Armee, um die historischen Unterdrücker der Juden nach ihren eigenen Regeln zu schlagen...

Sie hatten damit Erfolg, weil die staatenlosen und obdachlosen Überlebenden der jüdischen Bevölkerung Europas aus klaren geopolitischen Gründen nach Palästina gelenkt wurden. Washington, das im Krieg seine Grenzen für Juden geschlossen hatte, die vor der Verfolgung durch die Nazis flohen, betrachtete die Entstehung eines jüdischen Staats im Nahen Osten als Instrument zur Sicherung seiner eigenen Hegemonie in der Region auf Kosten der alten Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich.

Israels Gründung als jüdischer Staat war nur möglich, weil ein Volk, das eine Zuflucht vor Verfolgung und Brutalität suchte, in ein großes Verbrechen verwickelt wurde: die gewaltsame Vertreibung von fast einer Million Palästinenser und die Enteignung ihres Landes in einer brutalen ethnischen Säuberung.

Zu den Gründungsmythen, die der Zionismus verbreitet, gehört die Behauptung, die Juden seien in ihr biblisches „gelobtes Land“ zurückgekehrt, aus dem sie vor 2000 Jahren vertrieben worden waren, und die Gründung eines jüdischen kapitalistischen Staats würde „ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land“ schaffen.

Letzteres war eine durchsichtige, aber politisch notwendige Lüge.

Nach dem Zweiten Weltkrieg schlugen die neu gegründeten Vereinten Nationen als Nachfolger des Völkerbunds, der Großbritannien 1922 für 25 Jahre ein „Mandat“ für die Kontrolle Palästinas erteilt hatte, um es auf die Unabhängigkeit vorzubereiten, die Teilung Palästinas in zwei getrennte, nicht zusammenhängende arabische und jüdische Kleinstaaten vor. Palästina war zuvor bereits durch die Abtrennung des heutigen Jordaniens durch Großbritannien verkleinert worden. Jerusalem sollte dabei unter internationaler Kontrolle stehen. Der reaktionäre und nie ratifizierte Vorschlag löste einen Bürgerkrieg zwischen Juden und Palästinensern aus. Auf die Ausrufung des Staats Israel, nach dem Auslaufen des britischen Mandats, folgte der arabisch-israelische Krieg von 1948, an dem Ägypten, Jordanien, der Irak und andere arabische Staaten beteiligt waren. Dabei eroberte Israel Gebiete, die ein Drittel mehr ausmachten, als im Teilungsplan vorgesehen war. Die Palästinenser wurden größtenteils vertrieben.

Als Israel gegründet wurde, machten Juden nur ein Drittel der Bevölkerung des Mandatsgebiets Palästina aus: 1.157.000 palästinensische Muslime, 146.000 Christen und 580.000 Juden. Zwei Jahre später gab es im späteren Israel nur noch etwa 200.000 Palästinenser, die bis 1966 unter Militärherrschaft lebten.

Israelische Soldaten im Kampf gegen das arabische Dorf Sassa in Obergaliläa (Foto: Israelische Nationalbibliothek /digitale ID. 990040390490205171/Gideon Markowiz / CC BY-SA 3.0) [Photo by National Library of Israel/digital ID. 990040390490205171/Gideon Markowiz / CC BY-SA 3.0]

Mehrere tausend Palästinenser wurden getötet und mindestens 700.000 wurden vertrieben oder flohen in Nachbarländer, wo sie als Flüchtlinge in provisorischen Zeltlagern Zuflucht fanden. Es gab mindestens 31 bestätigte Massaker und zahlreiche Berichte über Gräueltaten, u. a. in dem Dorf al-Dawayima, wo israelische Truppen Kindern „mit Stöcken die Schädel einschlugen“ oder in Saliha, wo Soldaten zwischen 60 und 80 Einwohner in ein Gebäude trieben und es in die Luft sprengten.

Den vertriebenen Palästinensern und ihren Nachkommen wurde die Rückkehr nach Israel verboten. Ihre Häuser und ihr Eigentum wurden vom israelischen Staat beschlagnahmt. Seither weigert sich Israel, die Nakba und die damit verbundene ethnische Säuberung anzuerkennen oder das Recht der Palästinenser auf Rückkehr in ihr Land zu akzeptieren, wie es im Völkerrecht und in der 1948 während des arabisch-israelischen Kriegs verabschiedeten UN-Resolution 194 verankert ist.

Andererseits erlaubt das israelische Rückkehrgesetz von 1950 und das Staatsbürgerschaftsgesetz von 1952 jedem Juden das Recht auf sofortige Staatsbürgerschaft nach der Ankunft in Israel. In den drei Jahren nach dem Krieg wanderten etwa eine Million Juden ein, einige aus den Ruinen Europas, die meisten jedoch aus dem Nahen Osten und Nordafrika.

Eine organisch undemokratische Gesellschaft

Damit beruhte Israel vom Moment seiner Gründung an auf der gewaltsamen Unterdrückung der Palästinenser und dem Krieg gegen seine Nachbarstaaten und war daher organisch unfähig, eine wirklich demokratische Gesellschaft aufzubauen. Es entwickelte sich zu einem militarisierten Staat umgeben von feindseligen Nachbarn und gestützt auf religiösen Exklusivismus. Sehr bald entwickelte es Atomwaffen und wurde zu einer üppig finanzierten Garnison des US-Imperialismus, in der das Militär die zentrale Säule der Gesellschaft bildete.

Je größer Israels militärische und politische „Erfolge“ wurden, desto mehr bestätigte sich sein rechtsgerichteter und undemokratischer Kurs. Während Israel anfangs als mutiger Underdog und Heimat eines Volks angesehen wurde, das in der Geschichte schreckliches Unrecht erlitten hatte, sollte es zur stärksten Militärmacht und einzigen Atommacht der Region werden.

Israelische Panzer rücken im Juni 1967 auf den Golanhöhen vor. (Foto: Pressestelle der israelischen Regierung / CC BY.SA 4.0) [Photo by Government Press Office (Israel) / CC BY-SA 4.0]

Im Jahr 1967 marschierte Israel mit Unterstützung der USA in Ägypten, Syrien und Jordanien ein, besetzte das Westjordanland, Ost-Jerusalem, die Golanhöhen und den Gazastreifen und löste damit eine neue Flüchtlingswelle aus. Dieser Konflikt führte zur Gründung der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) unter der Führung von Yassir Arafat und einem ungleichen militärischen Kampf zwischen Israel und den Palästinensern.

Israels politische Landschaft veränderte sich, und mit ihr das wirtschaftliche und soziale Leben.

Der Krieg und der Siedlungsbau signalisierten den Kurswechsel hin zu einer expansionistischen „Groß-Israel“-Politik. Ein wiedererstarkter rechter Flügel forderte, die neu besetzten Gebiete als die biblischen Länder Samaria und Judäa, die Gott dem jüdischen Volk versprochen hatte, unter israelische Oberhoheit zu bringen. Dies erforderte eine Fortsetzung der ethnischen Säuberung von Palästinensern und den Aufbau von jüdischen Siedlungen im Kolonialstil.

Damit war die Grundlage für den ständigen Ausbruch von Kriegen geschaffen, darunter der arabisch-israelische Krieg von 1973, militärische Aggressionen gegen Syrien, den Libanon und den Iran, und immer wieder neue Angriffe auf die im Grunde wehrlosen und verarmten Palästinenser in den besetzten Gebieten, die neue Flüchtlingswellen und Binnenvertriebene schufen.

Die ultra-orthodoxen Parteien Israels wurden zu einer mächtigen Kraft, vor allem im Zusammenhang mit den periodischen jüdischen Einwanderungswellen, und konnten in bisher als säkular geltenden Bereichen jüdisches Religionsrecht durchsetzen und die Bildung von immer rechteren Regierungen bestimmen. Der Konflikt zwischen säkularen und orthodoxen Juden ist zu einem Merkmal des gesellschaftlichen Lebens in allen Bereichen geworden.

Auf dieser Grundlage entstanden die faschistischen Tendenzen innerhalb des politischen und militärischen Establishments. Wie die World Socialist Web Site erklärte, diktieren diese Kräfte heute die Regierungspolitik und bedrohen nicht nur die Palästinenser, sondern auch die meisten Israelis mit brutaler Unterdrückung.

Die Jahrzehnte seit den 1970ern waren außerdem geprägt von einer außergewöhnlichen Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums nach oben und der Zunahme äußerster Armut. Im Jahr 2010 kontrollierten etwa 20 israelische Familien knapp die Hälfte des israelischen Aktienmarkts und besaßen ein Viertel aller Unternehmen in Israel. Zehn Konzerne, von denen die meisten reichen Familien gehören, kontrollierten 30 Prozent des Marktwerts der öffentlichen Unternehmen. In Israel leben 71 Dollar-Milliardäre – mit 6,7 auf eine Million Einwohner einer der höchsten Pro-Kopf-Werte der Welt, auch wenn nicht alle von ihnen in Israel leben.

Obdachloser in Israel im Jahr 2006 (Foto: Charcoal Soul/Flickr/ CC BY-ND 2.0) [Photo by charcoal soul/Flickr / CC BY-ND 2.0]

Am anderen Ende der Gesellschaft ist Israel heute nach den USA das Land mit der zweithöchsten sozialen Ungleichheit unter den Staaten der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Die Armutsquote ist die dritthöchste unter den OECD-Staaten nach Bulgarien und Costa Rica und fast doppelt so hoch wie der Durchschnitt der OECD. Mehr als 27 Prozent der Bevölkerung und mehr als ein Drittel aller Kinder leiden unter Armut, und mehr als zehn Prozent der Familien (312.000) sind von schwerer Ernährungsunsicherheit betroffen. Diese Lage führte im Jahr 2011, nach dem Arabischen Frühling, zu Massenprotesten – ein Vorläufer der politischen Unruhen, die jetzt gegen Netanjahus Justizreform ausgebrochen sind.

Die falschen Versprechen von Oslo, der PLO und der Palästinenserbehörde

Die groteske Behandlung der Palästinenser ist das konstante Merkmal des israelischen Lebens. Kein offizieller Schritt zur Beendigung dieses Konflikts hat etwas an den politischen Realitäten geändert. Der viel gepriesene Osloer Friedensprozess, der 1993 begann, hatte die fast sechs Jahre andauernde palästinensische Intifada gegen die israelische Besatzung beendet, allerdings zu den von Israel bestimmten Bedingungen, und damit eine Falle für die Palästinenser geschaffen. Er bot die Illusion einer „Zweistaatenlösung“, die in Wirklichkeit aus einem winzigen, geteilten und nicht zusammenhängenden palästinensischen Kleinstaat neben Israel bestand. Als Gegenleistung stimmten Arafat und die PLO zu, Israel anzuerkennen, seine Sicherheit zu garantieren und den bewaffneten Kampf für die Befreiung der Palästinenser aufzugeben.

Der Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde, Mahmud Abbas, US-Präsident George W. Bush und Ariel Sharon bei einem Gipfeltreffen am Roten Meer in Aqaba im Juni 2003

Oslo ignorierte die Nakba, das Recht auf Rückkehr, die Stellung Jerusalems als Hauptstadt eines palästinensischen Staats und die Zukunft der zionistischen Siedlungen und rief die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) ins Leben. Diese nominelle Regierung in Wartestellung hatte keine Kontrolle über ihre Grenzen, allerdings volle juristische Zuständigkeit für den Gazastreifen und nur 18 Prozent des Westjordanlands (Gebiet A) sowie mit Israel die gemeinsame juristische Zuständigkeit über 22 Prozent (Gebiet B). Ganze 60 Prozent des Westjordanlands (Gebiet C), in dem sich die meisten Siedlungen befinden, bleiben unter Kontrolle des israelischen Militärs.

Die Hauptaufgabe der PA war es, den palästinensischen Widerstand gegen Israel zu kontrollieren. Ministerpräsident Itzhak Rabin lobte die Tatsache, dass die PA „keine Rechtsmittel vor dem Obersten Gericht erlauben und den israelischen Bürgerrechtsverband daran hindern wird, die dortigen Bedingungen zu kritisieren, indem sie diesem den Zugang zu dem Gebiet verwehrt“.

Doch selbst diese Karikatur eines Staats galt Ariel Sharon, Benjamin Netanjahu und ihrer Partei Likud als unzumutbar. Nur kurz vor Rabins Ermordung durch einen rechten israelischen Fanatiker im November 1995 jubelten sie der Menschenmenge zu, die nach Rabins Blut verlangte. In Camp David im Sommer 2000 machte der Ministerpräsident der Arbeitspartei, Ehud Barak, deutlich, dass ein vorgeschlagener Rückzug aus Teilen des Westjordanlands und des Gazastreifens den Palästinensern nur 15 Prozent des ursprünglichen Palästina überlassen würde. Nachdem Arafat seine Unterschrift verweigerte, war der „Friedensprozess“ gescheitert. Beispielhaft dafür waren Sharons provokanter Besuch in der Al-Aqsa-Moschee bzw. dem Tempelberg und der Beginn der zweiten Intifada.

Yassir Arafat im Jahr 1997 (Foto: Israelische Nationalbibliothek/ digitale ID. 990040390490205171/Gideon Markowiz / CC BY 4.0) [Photo by National Library of Israel/digital ID. 990040390490205171/Gideon Markowiz / CC BY 4.0]

Danach verfolgten alle zionistischen Parteien eine Politik, die darauf abzielte, gegen das „demografische Problem“ anzugehen und die Kontrolle über das Westjordanland auszuweiten.

Heute leben in Israel-Palästina etwa gleich viele jüdische Israelis und Palästinenser, wobei die Palästinenser bald die Mehrheit bilden werden. Würde der Staat Israel an der Realität der Bevölkerung gemessen, deren Schicksal er bestimmt, würde er nicht nur die 9,3 Millionen Israelis umfassen, die innerhalb seiner international anerkannten Grenzen von vor 1967 leben, von denen zwei Millionen Palästinenser sind, sondern auch die etwa 5,4 Millionen Palästinenser in den Gebieten, die während des Sechstagekriegs von 1967 besetzt wurden, und die seither unter israelischer Militärherrschaft leben.

Somit werden aufgrund von Demografie und Bevölkerungsrückgang bald die Muslime die Mehrheit und die Juden eine Minderheit sein. Die einzige Antwort des Zionismus auf diese als existenzbedrohend erachtete Gefahr sind Krieg und ethnische Säuberung. Ministerpräsident Ariel Sharon erklärte im Dezember 2002, die Palästinenser müssten aus den besetzten Gebieten vertrieben werden, um Platz für jüdische Siedlungen zu machen. Netanjahu wetterte: „Wir werden das ganze Gebiet säubern...“

Sharon benutzte die zweite Intifada als Rechtfertigung für den Bau der Grenzmauer zwischen Israel und dem Westjordanland, der von der Awoda-Partei („die Arbeit“) unterstützt wurde. Dabei beschlagnahmte Israel dauerhaft bis zu 18 Kilometer Land innerhalb des Westjordanlands, einschließlich der großen Siedlungsblöcke, und damit neun Prozent des Gebiets und isolierte etwa 30.000 Palästinenser auf der israelischen Seite und 230.000 Palästinenser in Ost-Jerusalem auf der Seite des Westjordanlands. Da Israel durch die Grenzmauer den westlichen Grundwasserleiter und 80 Prozent des Grundwassers im Westjordanland kontrolliert, hat es für Millionen Menschen eine chronische, künstliche Wasserkrise verursacht. Auch der Anteil des bewässerten Agrarlands ist drastisch gesunken, von 14 Prozent vor 1967 auf heute weniger als zwei Prozent.

Das alles erachtete das viel gepriesene Oberste Gericht Israels als rechtmäßig.

Gemälde der ermordeten palästinensisch-amerikanischen Journalistin Shireen Abu Akleh an der Grenzmauer zum Westjordanland in Bethlehem im Jahr 2022 (Foto: Dan Palraz / CC BY-SA 4.0) [Photo by Dan Palraz / CC BY-SA 4.0]

Im Jahr 2005 wurde der Gazastreifen durch Sharons Rückzugsplan weiter isoliert. Sharon wollte auf diese Weise die Zustimmung der USA für eine Ausweitung und Konsolidierung der Siedlungen im Westjordanland erhalten. Als die Hamas im Jahr 2007 die Kontrolle über die Enklave übernahm, ging Israel von einer Eindämmungsstrategie zu einer umfassenden Wirtschaftsblockade über. Dadurch wurde das Westjordanland in ein verarmtes Ghetto und Gaza in ein Gefängnis verwandelt.

Nein zu Zionismus und arabischem Nationalismus! Für sozialistischen Internationalismus!

Der grundlegendste Aspekt des Konflikts zwischen Netanjahus Regierungskoalition und der Opposition ist ihre Übereinstimmung in allen grundsätzlichen Fragen. Die Führer der Proteste gegen den Angriff auf das Oberste Gericht sind nicht von einer abstrakten Liebe zur „Demokratie“ motiviert, sondern vom unnachgiebigen Eintreten für den Zionismus und die sozialen Interessen der israelischen Bourgeoisie. Unbehelligte Kriegsverbrecher wie der Oppositionsführer Benny Gantz und Netanjahus rebellischer Verteidigungsminister Yoav Gallant fürchten, dass Netanjahu und seine faschistischen Hintermänner bei ihrem Streben nach einer verschärften ethnischen Säuberung, einer religiös-kulturellen Offensive und juristischen Manövern zur Rettung Netanjahus vor dem Gefängnis die betrügerische „demokratische“ Fassade zerstören, die das Oberste Gericht und die Judikative dem unablässigen Angriff auf die Palästinenser in den letzten Jahrzehnten verschafft haben.

Der israelische Ministerpräsident Naftali Bennett (links), Präsident Reuven Rivlin (zweiter von links), Verteidigungsminister Benny Gantz (dritter von links), der ehemalige Ministerpräsident und Oppositionsführer Benjamin Netanjahu (vierter von links) und andere Würdenträger bei einer Gedenkveranstaltung in Jerusalem am 20. Juni 2021. (AP Photo/Abir Sultan/Pool Photo via AP) [AP Photo/Abir Sultan/Pool Photo via AP]

Die Destabilisierung der israelischen Gesellschaft durch die Übergabe der Initiative an Verfechter der jüdischen Vorherrschaft und religiöse Reaktionäre hat die Unterstützung für Israel im Rest der Welt, einschließlich der weltweit größten jüdischen Gemeinde in den USA, geschwächt. Diese Unterstützung beruht teilweise darauf, dass Israel in Washington und den europäischen Hauptstädten als „einzige Demokratie“ im Nahen Osten dargestellt wird. Sie hat auch den Versuchen geschadet, Opposition gegen den Zionismus als eine Form von „linkem Antisemitismus“ darzustellen, der von Israel mehr verlangt als von ähnlichen „liberalen Demokratien“ und Israel zu Unrecht mit Südafrika während der Apartheid gleichsetzt.

Vor allem aber gefährdet dies Washingtons aggressive Militärpolitik in der Region, in der Israel als Kettenhund für die geostrategischen Interessen der USA agiert.

Obwohl die Agenda der Protestbewegung innenpolitisch derzeit von der zionistischen Bourgeoisie diktiert wird und soziale Unterstützung von Teilen des städtischen Kleinbürgertums erhält, drohen die politischen Unruhen eine Explosion sozialer Kämpfe gegen die Unterdrückung demokratischer Rechte und die Austeritätspolitik auszulösen, die notwendig ist, um die Besatzung und den Krieg zu finanzieren, und mit der sich die israelischen Oligarchen bereichern.

Der Zionismus – die Propagierung eines Staats auf der Grundlage einer religiös-kulturellen Identität und einem angeblichen gemeinsamen nationalen Interesse aller Juden – war lange Zeit die Grundlage dafür, nicht nur die Verteidigung der Rechte der Palästinenser abzulehnen, sondern auch die Durchsetzung der unabhängigen sozialen und politischen Interessen jüdischer Arbeiter.

Die Zentrale der Histadrut in Tel Aviv (Foto: :ד“ר אבישי טייכר / CC BY 2.5) [Photo by צילום:ד"ר אבישי טייכר / CC BY 2.5]

Der Gewerkschaftsbund Histadrut entwickelte sich zu einer staatlichen Institution, die den Dienstleistungssektor, die größten Konglomerate, die Nationalbank sowie die Gesundheits- und medizinischen Einrichtungen Israels kontrolliert. Die Liberalisierung und Privatisierung der Wirtschaft führten zu einem weltweit beispiellosen Mitgliederschwund – von rund 1,8 Millionen Mitgliedern (damals 85 Prozent der Beschäftigten) im Jahr 1983 auf heute weniger als 200.000. Sie schließt Araber und Migranten von der Mitgliedschaft aus und hat sich bei ihrem Aufruf zu einem Generalstreik während der Massenproteste mit Netanjahu abgesprochen, damit sich die Streiks nicht ohne ihre bürokratische Kontrolle entwickeln.

Der Arbeiterzionismus, die Gründungsideologie des israelischen Staats, erlitt einen noch schlimmeren Zusammenbruch als sein Gewerkschaftsflügel, da seine sozialistischen Ansprüche an der Realität eines Staats und einer Gesellschaft zerschellten, die auf Kapitalismus und sektiererischem religiösem Exklusivismus basieren.

Die politischen und sozialen Unruhen, die Israel am 75. Jahrestag seiner Gründung erschüttern, bestätigen, dass die Bedingungen für den Kampf für eine revolutionäre sozialistische Alternative existieren. Doch solange die grundlegenden Dogmen des Zionismus nicht in Frage gestellt werden, wird die Krise der bürgerlichen Herrschaft durch einen weiteren Rechtsruck gelöst werden.

Die größte Gefahr besteht darin, dass die eskalierende politische Krise zu einer immer schärferen Hinwendung zur militärischen Unterdrückung der Palästinenser und zum Schüren eines Kriegs gegen Syrien und den Iran führt. Da Israel eine zentrale Rolle bei den militärischen Anstrengungen des US-Imperialismus zur Sicherung der globalen Hegemonie innehat, die sich von einem de-facto-Krieg mit Russland in der Ukraine zur Vorbereitung eines Krieges gegen China erstrecken, rückt auch die Gefahr eines Kriegs im gesamten Nahen Osten immer näher.

Die zionistische Utopie eines Nationalstaats, in dem die Juden der Welt Zuflucht finden sollen, hat stattdessen zu einem Polizeistaat geführt, zu Faschismus, Bürgerkrieg und Krieg mit den Palästinensern und den arabischen Nachbarstaaten. Der Ausweg liegt in der Vereinigung der jüdischen und palästinensischen Arbeiter in einem gemeinsamen Kampf gegen den Kapitalismus und für den Sozialismus.

Jüdische Arbeiter müssen sich im Kampf gegen die extreme Rechte Marx' Parole zu eigen machen: „Eine Nation, die eine andere versklavt, schmiedet ihre eigenen Ketten.“ Auch die Palästinenser müssen ein grundlegendes Verständnis dafür entwickeln, dass es keinen national-kapitalistischen Weg zur Befreiung von Unterdrückung gibt. Die gesamte postkoloniale Geschichte des Nahen Ostens und Afrikas sowie der Palästinensischen Autonomiebehörde haben das eindeutig gezeigt.

Leo Trotzki an seinem Schreibtisch in Prinkipo

Eine echte revolutionäre Alternative muss auf der Theorie der permanenten Revolution basieren. Wie Trotzki erklärte, ist im Zeitalter des Imperialismus die Verwirklichung der grundlegenden demokratischen und nationalen Aufgaben in den unterdrückten Nationen, die in einer früheren Zeit mit dem Aufstieg der Bourgeoisie assoziiert wurden, nur möglich durch die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse auf der Grundlage einer sozialistischen und internationalistischen Perspektive.

Arbeiter müssen alle nationalen Spaltungen überwinden und für die Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens kämpfen, frei von den räuberischen Interessen der imperialistischen Mächte und transnationalen Konzerne. Auf der Grundlage des essentiellen Prinzips der Gleichheit aller Völker der Region würde dies eine demokratische Zukunft und Wohlstand für alle garantieren, da die immensen Rohstoffe der Region zur Befriedigung der wichtigsten sozialen Bedürfnisse eingesetzt werden könnten.

Dies erfordert den Aufbau von Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale in Israel, Palästina und der gesamten Region, um eine sozialistische revolutionäre Führung schaffen.

Loading