Am 1. Juni berichteten der Sydney Morning Herald und The Age, zwei führende australische Zeitungen, über neue Informationen, die darauf hindeuteten, dass das amerikanische Federal Bureau of Investigation (FBI) die Ermittlungen gegen den WikiLeaks-Herausgeber Julian Assange offenbar fortsetzt.
In dem Artikel heißt es, dass das FBI in der Vorwoche Andrew O'Hagan, einen schottischen Journalisten und Autor, kontaktiert und um ein Interview über Assange gebeten habe. O'Hagan hatte 2011 den Auftrag erhalten, als Ghostwriter für Assange dessen Autobiografie zu schreiben.
Wie so viele Vertreter der gut betuchten und eigensüchtigen Mittelschicht Großbritanniens, geriet O'Hagan später in erbitterte Gegnerschaft zu WikiLeaks. Und er schrieb über seine Beziehung zu Assange einen langatmigen und bösen Bericht für die London Review of Books.
O'Hagan hat angegeben, er habe sich geweigert, mit dem FBI zu sprechen. Er sagte, lieber gehe er ins Gefängnis, als mit einer FBI-Operation gegen Journalisten zu kooperieren. Das ist ein prinzipieller Standpunkt.
Die Untersuchung, die offensichtlich läuft, ist jedoch beunruhigend und höchst ungewöhnlich. Es ist Jahre her, dass die US-Regierung Anklage gegen Assange erhob, weil er amerikanische Kriegsverbrechen im Irak und in Afghanistan aufgedeckt hatte. Seit mehr als vier Jahren wird der WikiLeaks-Gründer im britischen Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh inhaftiert, da er mehrfach angeklagt wurde und gegen ihn ein Auslieferungsersuchen läuft.
Die Ermittlungen könnten darauf hinweisen, dass die US-Regierung versucht, neue Anklagen gegen Assange oder sogar gegen andere WikiLeaks-Vertreter auszuhecken. Vor allem aber zeigen sie, dass der amerikanische Staat nach all den Jahren nichts Stichhaltiges gegen Assange in der Hand hat und weiterhin im Trüben fischt, um ihn, gestützt auf Lügen und Fälschungen, im laufenden Auslieferungsprozess anzugreifen.
Am Freitag gab WikiLeaks eine Erklärung ab und kritisierte die Art und Weise, in der im Sydney Morning Herald und in der Age über die FBI-Untersuchung berichtet wurde. Beide Publikationen hatten geschrieben, die Anfrage an O'Hagan deute darauf hin, dass das FBI die Ermittlungen gegen den WikiLeaks-Gründer „wieder aufgenommen“ habe.
WikiLeaks stellte jedoch fest: „Seitdem die Trump-Administration das aktuelle Verfahren 2017 auf Druck von CIA-Chef Michael Pompeo eröffnet hatte, ist die Untersuchung niemals abgeschlossen worden. Es ist daher unsinnig zu behaupten, sie sei ‚wieder aufgenommen‘ worden.“
WikiLeaks-Chefredakteur Kristinn Hraffnson kommentierte:
Das FBI hat einen erschreckenden neuen Tiefpunkt erreicht, indem es einen Journalisten (O'Hagan) auffordert, seine Interaktionen mit seiner Quelle (Assange) offenzulegen. Es besteht kein Zweifel, dass die im Fall von Julian Assange getroffenen Entscheidungen eine abschreckende Wirkung auf Journalisten weltweit haben.
Vom Aushorchen von Julians Anwälten bis hin zur Planung seiner Ermordung, haben die Verfolger mit ihrem Verhalten die Büchse der Pandora des Machtmissbrauchs geöffnet. Die Botschaft, die sich an die Biden-Regierung und an den Generalstaatsanwalt Merrick Garland richten muss, lautet im Interesse der Pressefreiheit auf der ganzen Welt: Lasst die Anklagen fallen. Macht damit Schluss!
Die Erklärung bezog sich auf die gut dokumentierten schmutzigen Tricks, die die amerikanischen Geheimdienste gegen Assange anwandten. Sie spielen in der Tat bei der versuchten US-Strafverfolgung die entscheidende Rolle.
Ein Beispiel ist auch ein Bericht der Website Yahoo! News vom September 2021, der enthüllte, dass die Trump-Administration und die CIA darüber gesprochen hatten, Assange illegal aus London zu entführen oder ihn sogar zu ermorden. Die Yahoo-Untersuchung stützte sich auf die Aussagen von mindestens 30 ehemaligen US-Beamten.
Im Juni 2020, als die USA schon 17 Anklagen nach dem Espionage Act gegen Assange erhoben hatten, um seine Auslieferung zu beantragen, präsentierten sie eine weitere, ergänzende Anklageschrift. Diese stützte sich weitgehend auf die Aussagen von Sigurdur „Siggi“ Thordarson, der Jahre zuvor Geld von WikiLeaks gestohlen hatte. Ziel der neuen Anklage war es, die verlogene Behauptung zu untermauern, Assange sei ein Hacker und kein Journalist und Verleger.
Im Juni 2021 gab Thordarson zu, dass seine Aussage größtenteils aus Lügen bestanden hatte. Er hatte sie gegenüber FBI-Agenten als Gegenleistung für die Zusage gemacht, ihn nicht strafrechtlich zu verfolgen. Thordarson ist ein verurteilter Sexualstraftäter und Betrüger. Ein gerichtlich bestellter Psychiater hat ihn als „Soziopathen“ bezeichnet.
In der WikiLeaks- Erklärung heißt es weiter:
Der Fall gegen Julian Assange entbehrt jeder Grundlage und ist politisch motiviert. Der jüngste Schritt des FBI unterstreicht lediglich die politische Verzweiflung seiner Verfolger. Zu den Bemühungen des FBI, aus dem Nichts einen Fall zu schaffen, gehört auch, einen verurteilten Betrüger zum Kronzeugen zu machen (der seine Aussage inzwischen widerrufen hat).
Mit anderen Worten: Das FBI hat bei seiner Verfolgung von Assange bereits die Abgründe der Verderbtheit ausgelotet, aber seine Bemühungen gehen weiter. Angesichts von O'Hagans früherer Feindseligkeit gegenüber WikiLeaks und der Tatsache, dass er für seine Autobiografie Hunderte von Stunden an Gesprächen mit Assange auf Band aufgenommen hat, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, warum das FBI an ihn herangetreten ist.
Dies alles wirft beunruhigende Fragen auf.
Die erste lautet: Das schriftliche Ersuchen des FBI, O'Hagan zu befragen, wurde vom Anti-Terror-Kommando der Londoner Metropolitan Police an diesen weitergeleitet. Warum die Anti-Terror-Polizei in ein laufendes US-Verfahren gegen einen Journalisten einbezogen wird, der sich seit langem in britischem Gewahrsam befindet, ist völlig unklar, lässt aber nichts Gutes erahnen.
Assange wird seit vielen Jahren von führenden US-Politikern auf übelste Weise als „Terrorist“ denunziert. Zu ihnen gehört auch US-Präsident Joe Biden, der Assange einmal als „Hightech-Terroristen“ bezeichnet hat.
Assanges australischer Anwalt Stephen Kenny reagierte in einer Stellungnahme gegenüber dem Herald und The Age auf O'Hagans Enthüllungen mit den Worten: „Offenbar versuchen sie, weiter zu ermitteln, was ich angesichts der Zeit, die seit Beginn der Ermittlungen vergangen ist, ungewöhnlich finde. Ich denke, das ist insofern besorgniserregend, als wir uns um eine Regelung bemüht haben, um Julian nach Hause zu bringen.“
Die australische Labor-Regierung behauptet, der Biden-Regierung gegenüber geäußert zu haben, dass der Fall Assange „schon zu lange andauert“. Doch darüber, wie genau der Fall beendet werden sollte, hat Labor sich nur sehr vage geäußert.
Falls es jedoch solche Vorstöße gegeben hat, so werden sie offenbar immer stärker zurückgewiesen.
Das Thema kam letzte Woche in der Sendung „QandA“ des australischen Rundfunks Australian Broadcasting Corporation vor. Die Moderatorin Patricia Karvelas befragte den stellvertretenden Außenminister der Labour-Partei, Tim Watts, zu den Aussichten auf eine Einigung zwischen der US-amerikanischen und der australischen Regierung, um die Strafverfolgung von Assange zu beenden.
Watts sagte: „Die Amerikaner haben keinen Zweifel daran, wie wir zu diesem Thema stehen.“
Karvelas erwiderte: „Ok. Wenn wir davon ausgehen, was Sie gerade gesagt haben: Sie haben keine Zweifel und wir sind ein enger Verbündeter. Sind sie uns das dann nicht schuldig? Tut man für einen engen Freund nicht genau das?“
Sichtlich verlegen antwortete Watts: „Nun, Freunde sind oft unterschiedlicher Meinung.“ Dann ließ er sich über die Schwierigkeiten aus, die einer direkteren Intervention der Labor-Administration für Assanges Freilassung entgegenstehen würden.
Mehrere haben erklärt, dass die Biden-Regierung Assange weniger lautstark verfolge als die Trump-Regierung. Wurden Biden-Politiker nach dem WikiLeaks-Gründer gefragt, weigerten sie sich oft, über seinen Fall zu sprechen, oder stellten ihn absurderweise als Angelegenheit des US-Justizministeriums – und nicht der Regierung – dar.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass FBI-Agenten durch London streifen und versuchen, über Assange irgendwelchen Schmutz auszugraben, ohne dass die Regierung und wahrscheinlich der Präsident selbst zugestimmt haben.
Die jüngste Entwicklung zeigt erneut, wie unwahrscheinlich es ist, dass der Fall Assange eine positive Lösung findet, wenn nicht eine Massenbewegung aktiv für seine Freiheit kämpft.
Die Biden-Regierung führt in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg gegen Russland, der sich zu einem Atomkonflikt auszuweiten droht. Unter diesen Bedingungen geht sie gemeinsam mit ihren Verbündeten Großbritannien und Australien hart gegen Journalisten vor, die nationale Sicherheitsthemen beleuchten, und bekämpft ganz allgemein jede Antikriegsopposition.
Eine Kampagne gegen angebliche „russische Einmischung“ im Stile McCarthys gehört zudem zur Identität der Biden-Regierung. Lügen und Verleumdungen gegen Assange spielen dabei eine wichtige Rolle, auch wenn sie längst vollständig widerlegt worden sind. Da die Biden-Regierung gerade dabei ist, die gehobenen Mittelschichten der USA in einen russenfeindlichen Rausch zu versetzen, ist es höchst unwahrscheinlich, dass sie Assange wohlwollend die Hand reichen wird.
Was die australische Regierung betrifft, so rüstet sie gerade auf beispiellose Weise auf, um sich dem Krieg der USA gegen China anzuschließen. Die Regierung besteht darauf, dass dieses Kriegsprogramm Sache der „gesamten Nation“ sein müsse, was das Schreckgespenst weiterer Angriffe auf demokratische Rechte an die Wand malt.
Es wird immer klarer, dass Assanges Verfolgung die Speerspitze einer globalen Kampagne der Reaktion ist, die mit einer neuen Periode des imperialistischen Kriegs einher geht. Das bedeutet, dass der Kampf für seine Befreiung nur im Rahmen einer internationalen Antikriegsbewegung der Arbeiterklasse geführt werden kann.