Die folgende Rede hielt David North, Leiter der internationalen Redaktion der World Socialist Web Site und Vorsitzender der Socialist Equality Party (US), am 15. Oktober 2023 auf einer Veranstaltung der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten (YGBL) zum 100. Jahrestag der Gründung der Linken Opposition. Die YGBL ist eine trotzkistische Jugendorganisation in Russland, der Ukraine und mehreren anderen ehemaligen Sowjetrepubliken, die ihre Übereinstimmung mit der Politik des Internationalen Komitee der Vierten Internationale erklärt hat.
Im Namen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und der Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten überbringe ich revolutionäre Grüße an die Genossen der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten.
Eure Veranstaltung ist deshalb so wichtig, weil ihre Einberufung genau 100 Jahre nach der Gründung der Linken Opposition beweist, dass der Trotzkismus in der ehemaligen Sowjetunion lebendig ist. In Russland, der Ukraine und all den verschiedenen Teilen der ehemaligen Sowjetunion greift eine neue Generation der revolutionären Jugend die Prinzipien und Traditionen auf, die Trotzki und seinen Mitstreitern – den weitblickendsten und bewusstesten Teilen der Bolschewistischen Partei – als Grundlage dienten, und hat den Kampf dafür aufgenommen.
Trotzki wurde einmal als „Mann der Geschichte“ beschrieben. Die Vierte Internationale, die aus der Linken Opposition hervorgegangen ist, ist eine Partei der Geschichte. Unsere Bewegung trägt die großen und oft tragischen revolutionären Erfahrungen in sich, die die Arbeiterklasse in einer ganzen historischen Epoche gesammelt hat, und ist zugleich der konzentrierte Ausdruck dieser Erfahrungen. Die heutige Veranstaltung ist undenkbar, ohne dass wir uns dieses großen Erbes erinnern.
Heute vor 100 Jahren richteten Gesinnungsgenossen von Leo Trotzki in der Führung der Bolschewistischen Partei, der Russischen Kommunistischen Partei, einen Brief an das Politbüro des Zentralkomitees – die Erklärung der 46 – und kritisierten darin das Anwachsen des Bürokratismus und die falsche Politik, die das Überleben des jungen Arbeiterstaats gefährdeten.
Es ist wichtig zu verstehen, dass sich ihre Kritik nicht nur gegen eine bestimmte Politik richtete, sondern auch gegen die Abkehr von der marxistischen Methode als der einzigen Grundlage, auf der eine richtige Politik für die Arbeiterklasse formuliert werden kann. Sie kritisierten den Bürokratismus als eine Methode, die den Interessen feindlicher Klassen Ausdruck verlieh, die innerparteiliche Demokratie erstickte und eine echte theoretische Arbeit und politische Analyse unmöglich machte. Sie erkannten, dass diese falsche Methode, die in feindlichen Klassenkräften und dem Druck des Imperialismus auf den Arbeiterstaat wurzelte, für die Arbeiterklasse große Gefahren mit sich brachte.
Niemand konnte 1923 ahnen, dass mit diesem Dokument ein politischer Kampf begann, der sich als der folgenreichste in der modernen Geschichte erweisen sollte. Doch im historischen Rückblick wird sehr deutlich, dass das Ergebnis des Kampfs innerhalb der Bolschewistischen Partei, der sich auf internationaler Ebene fortsetzte, enorme Konsequenzen für die internationale Arbeiterklasse und die gesamte Menschheit haben sollte.
Die Niederlage der Linken Opposition gegenüber der stalinistischen Bürokratie ist der Hauptgrund für die furchtbaren Niederlagen der Arbeiterklasse im 20. Jahrhundert. Hätte sich die Linke Opposition in ihrem Kampf gegen die stalinistische Fraktion – gegen das Anwachsen des Bürokratismus, gegen das Wiederaufleben des Nationalismus – durchgesetzt, dann wäre die sozialistische Weltrevolution im letzten Jahrhundert erfolgreich abgeschlossen worden. Aber dazu kam es bekanntlich nicht.
Was sind die Ursachen für dieses Scheitern? Trotzki und seine Anhänger nahmen den Kampf gegen den Stalinismus unter ungünstigen Bedingungen auf. In demselben Monat, in dem die Gründer der Linken Opposition erstmals gegen den wachsenden Apparat auftraten, erlitt die deutsche Revolution eine schwere Niederlage. Diese Niederlage der stärksten Arbeiterklasse Europas, auf die nur zehn Jahre später der katastrophale Sieg des Faschismus in Deutschland folgen sollte, hatte tiefgreifende Auswirkungen auf den Kampf für den Marxismus in der Sowjetunion. Denn letztlich war der Stalinismus das Ergebnis der Niederlagen der Arbeiterklasse, sowohl innerhalb Russlands als auch international.
Trotzki ist nie in politischen Pessimismus verfallen. Alle Ereignisse dieser Zeit wurden einer marxistischen Analyse unterzogen, und aus diesen Erfahrungen zog Trotzki weitreichende politische Lehren. Das große Problem unserer historischen Epoche, der Epoche des Todeskampfs des Kapitalismus, so Trotzki, bestand in der Krise der Führung der Arbeiterklasse.
Der Marxismus wurde durch die Ereignisse der 1920er und 1930er Jahre nicht widerlegt. Vielmehr bestätigte sich, wenn auch in tragischer Form, seine wesentliche Bedeutung für die Befreiung der Arbeiterklasse. Der Kapitalismus taumelte von einer Krise in die nächste, und Trotzkis Beschreibung erwies sich als völlig richtig: Der Kapitalismus lag im Todeskampf. Doch das große Problem der proletarischen Führung blieb bestehen. Dieses Problem galt es zu lösen. Und Trotzki war davon überzeugt, dass es gelöst werden konnte.
Die zentristischen Gegner des Trotzkismus hielten es für verfrüht, die Vierte Internationale zu gründen. Man könne eine Internationale nicht losgelöst von „großen Ereignissen“ gründen, erklärten sie, und meinten damit, dass eine Internationale nur auf der Grundlage einer erfolgreichen sozialistischen Revolution geschaffen werden könne. Diese Auffassung war grundfalsch, denn sie implizierte, dass eine erfolgreiche sozialistische Revolution dem Aufbau einer marxistischen Führung vorausgehe. Wenn dem so wäre, bräuchte man überhaupt keine revolutionäre Partei. Ihr einziger Zweck würde in nachträglichen Siegesfeiern bestehen.
Trotzki erinnerte seine Kritiker zunächst daran, dass auch die Dritte Internationale, obgleich sie ihren ersten Kongress erst 1919 abhielt, in Wirklichkeit unmittelbar nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 gegründet worden war, als Lenin zum Bruch mit der diskreditierten und politisch bankrotten Zweiten Internationale aufrief.
Die Vierte Internationale, so Trotzki, sei aus „großen Ereignissen“ hervorgegangen, nämlich den größten Niederlagen in der Geschichte der Arbeiterklasse. Aber diese Niederlagen würden, sofern die Lehren daraus gezogen würden, die Grundlage für eine neue internationale revolutionäre Umgruppierung der Arbeiterklasse bilden. Trotzki vertraute uneingeschränkt auf die Kraft der marxistischen Ideen, das marxistische Programm und die revolutionären Fähigkeiten der Arbeiterklasse. Und er verstand, dass die sowjetische Bürokratie trotz ihrer Brutalität und Macht politisch zum Scheitern verurteilt war. Der Stalinismus war ein reaktionärer Auswuchs der Revolution, und sein Sieg würde nur von kurzer Dauer sein. Sein nationales Programm, das auf dem falschen Konzept des „Sozialismus in einem Land“ beruhte, stand im Widerspruch zu den Grundtendenzen der weltgeschichtlichen Entwicklung und taugte nicht zur Verwirklichung des Sozialismus, nicht in der Sowjetunion und schon gar nicht im Weltmaßstab.
Trotzkis Aufruf zur politischen Revolution sollte sich bestätigen. Er hatte wiederholt erklärt, dass die stalinistische Bürokratie, wenn sie nicht gestürzt würde, die UdSSR zerstören würde. Genau das ist eingetreten. Aber die Auflösung der Sowjetunion bedeutet nicht das Ende des Marxismus. Die heutigen politischen Entwicklungen beweisen eindringlich, wie scharfsinnig und weitblickend Trotzkis Analyse und das Programm der Vierten Internationale waren.
Man kann die Frage stellen: Warum sollte man diesem 100. Jahrestag so viel Bedeutung beimessen? Geht es einfach nur darum, die Geschichte zu studieren? Welche Bedeutung hat diese Geschichte für die heutige Zeit?
Meiner Ansicht nach kann diese Frage sowohl mit theoretischen als auch mit politischen Gründen beantwortet werden.
Erstens zeigt der Kampf der Linken Opposition – und dies ist insbesondere in den Büchern des Genossen Wadim Rogowin ausführlich dokumentiert –, dass es eine Alternative zum Stalinismus gab, dass das Schicksal der Sowjetunion nicht vorherbestimmt war, dass der Stalinismus nicht die natürliche und unvermeidliche Folge der Oktoberrevolution und des Bolschewismus war, sondern vielmehr ihre Negation; und dass es eine starke Opposition mit einem umfassenden Programm gab, das die Entwicklung der Sowjetunion richtig analysierte und darauf abzielte, ihr eine völlig andere Richtung zu geben. Wenn sich dieses Programm durchgesetzt hätte, wäre das Ergebnis ein völlig anderes gewesen. Das ist der erste Punkt, auf den wir hinweisen und den wir betonen.
Zweitens zeigt sich im Kontext der gegenwärtigen Weltlage, dass alle von der Linken Opposition aufgeworfenen Fragen bereits in Keimform die Probleme enthielten, mit denen die Arbeiterklasse in der ehemaligen UdSSR und weltweit heute konfrontiert ist.
Beispielsweise spielte die Nationalitätenfrage, die Lenin in den letzten Monaten seines aktiven politischen Lebens umtrieb, bei der Entstehung der Linken Opposition eine zentrale Rolle. Lenin erkannte, dass Stalin innerhalb der Bolschewistischen Partei immer offener eine gefährliche und reaktionäre nationalistische Tendenz vertrat. Er war entschlossen, dieser Tendenz den Krieg zu erklären, und das hätte er auf dem für April 1923 anberaumten Zwölften Parteitag auch getan, wenn er keinen Schlaganfall erlitten hätte.
Die Dokumente aus dieser Zeit sind unverzichtbar, um die Wurzeln des tragischen Bruderkriegs zwischen Russland und der Ukraine zu verstehen. Dieser Krieg wurde vom amerikanischen und europäischen Imperialismus angezettelt. Aber historisch geht er auf die Ablehnung des sozialistischen Internationalismus durch das stalinistische Regime zurück.
Die Politik von Putin in Moskau und Selenskyj in Kiew – Regime, die aus der Auflösung der UdSSR und der Restauration des Kapitalismus hervorgegangen sind – hat ihre Wurzeln im Chauvinismus der stalinistischen Bürokratie, der die nationalen Spaltungen vertiefte.
Oder nehmen wir die gegenwärtigen tragischen Ereignisse in Israel und im Gazastreifen. Es ist auffallend, wie stark diese Ereignisse die Warnungen Trotzkis aus den Jahren 1938 und 1939 bestätigen, dass jeder Versuch, die so genannte „Judenfrage“ ohne eine sozialistische Revolution zu lösen, zum Scheitern verurteilt ist. Die Arbeiter in Palästina und Israel zahlen jetzt den Preis für den tragischen Verrat des Stalinismus, und sie erleben, wie aussichtslos jeder Versuch ist, diese historische Frage außerhalb des Kampfs für den Sozialismus und sozialistischen Internationalismus in der Arbeiterklasse zu lösen.
Unsere Partei entwickelt ihr Programm und ihre Aktivitäten in der Arbeiterklasse im Weltmaßstab auf der Grundlage der strategischen Erfahrungen der Arbeiterklasse im vergangenen Jahrhundert. Keine andere Partei hat der Arbeiterklasse etwas zu bieten. Hat sich 100 Jahre nach der Gründung der Linken Opposition eine Alternative zum Programm des Trotzkismus herausgebildet? Wo sind andere und bessere Antworten auf die großen politischen Fragen unserer Zeit zu finden? In den Schriften von Gramsci? Von Mao Zedong? Von Fidel Castro? Der Frankfurter Schule? All diese Spielarten der bürgerlichen Ideologie, der kleinbürgerlichen Politik und der nationalistischen Perspektiven sind hohler Betrug. Keine dieser Figuren und Tendenzen hat ein Programm und ein Vermächtnis hinterlassen, das Antworten auf die Probleme unserer Zeit gibt. Nur das Werk Trotzkis, das von der Vierten Internationale fortgeführt wurde, wird unserer historischen Epoche gerecht.
Abschließend möchte ich betonen, dass wir in diesem Jahr zwei Jubiläen begehen. Das erste feiern wir heute: den 100. Jahrestag der Gründung der trotzkistischen Bewegung. Außerdem haben wir nächsten Monat, am 16. November, den 70. Jahrestag der Gründung des Internationalen Komitees. Diese Jahrestage sind eng miteinander verknüpft. Sie geben Antworten auf die beiden großen Fragen unserer Zeit.
Die erste Frage lautet: „Gab es eine Alternative zum Stalinismus?” Sie wird durch den Rückblick auf die Geschichte der Linken Opposition positiv beantwortet.
Wenn man jedoch diese Frage bejaht und feststellt, dass der Trotzkismus die Alternative zum Stalinismus war, stellt sich sofort die nächste Frage: „Wer sind die Trotzkisten?“ Gibt es heute eine Bewegung, die mit Recht behaupten kann, das Erbe des Trotzkismus zu vertreten? Auch diese Frage wird durch die Gründung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale nicht weniger entschieden mit Ja beantwortet.
Von den 100 Jahren des Trotzkismus standen 70 unter dem Banner des Internationalen Komitees. In dem „Offenen Brief“, mit dem James P. Cannon im November 1953 zum Bruch mit dem Pablismus aufrief, wurden die Grundsätze der trotzkistischen Bewegung bekräftigt. Und sie haben sich ausnahmslos als richtig erwiesen. Einige Monate später, im März 1954, unterstrich Cannon erneut, dass allein das Internationale Komitee die leninistisch-trotzkistische Theorie der revolutionären Partei vertritt.
Die letzten 70 Jahre waren Jahre des unnachgiebigen Kampfs gegen diejenigen, die die Prinzipien, auf deren Grundlage die Linke Opposition und die Vierte Internationale entstanden waren, revidieren und aufgeben wollten. Daher sind diese beiden Jahrestage – 100 Jahre Linke Opposition und 70 Jahre Offener Brief – in der gegenwärtigen Situation von immenser historischer und politischer Bedeutung.
Uns allen ist klar, dass wir uns in einer globalen wirtschaftlichen, sozialen, politischen und intellektuellen Krise befinden. Und doch eröffnet diese Situation, die für eine revolutionäre Epoche typisch ist, die Möglichkeit zur Umgestaltung der Gesellschaft auf der Grundlage des Sozialismus. Die alte Ordnung bricht zusammen, und eine neue und höhere Form der Zivilisation ist im Entstehen begriffen.
Überall auf der Welt erleben wir, wie sich wieder revolutionärer Widerstand regt. Diese Opposition ist sich ihrer Aufgaben noch nicht bewusst. Aber unsere Bewegung wird in den Kampf, der sich jetzt entfaltet, Bewusstsein und ein Verständnis der politischen Aufgaben hineintragen. Wir befinden uns in einer Epoche, in der die Einheit der internationalen Arbeiterklasse, die immer das Hauptziel unserer Bewegung gewesen ist, hergestellt werden kann. Es ist die Epoche des Trotzkismus. Keine andere Bewegung, keine andere Partei, keine andere Tendenz hat sich auf die Situation vorbereitet, in der wir uns heute befinden.
Als jemand, der seit mehr als einem halben Jahrhundert in der trotzkistischen Bewegung aktiv ist, muss ich abschließend sagen, Genossinnen und Genossen, dass die Tatsache, dass wir mit unseren Genossen in Russland, der Ukraine und anderen Teilen der Sowjetunion 100 Jahre Trotzkismus feiern, nicht nur eine Bestätigung unseres Kampfs ist, sondern auch eine Quelle für enormen Optimismus. Der Trotzkismus lebt. Er gewinnt in der ganzen Welt an Einfluss. Die Vierte Internationale wird sich in der Praxis als Weltpartei der sozialistischen Revolution erweisen.
Es lebe die Vierte Internationale!
Es lebe das Internationale Komitee!
Es lebe der Kampf für die sozialistische Weltrevolution!