Vergangenen Samstag fand unter großem Beifall des Publikums und „Free Palestine“-Rufen die Weltpremiere des Dokumentarfilms „No Other Land“ im Berlinale-Festival statt. Der Film des palästinensisch-israelischen Kollektivs von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor zeigt die brutale Vertreibung palästinensischer Dorfbewohner aus Masafer Yatta, einer Siedlung aus 19 Dörfern südlich von Hebron im Westjordanland.
Basel Adra, ein junger palästinensischer Rechtsstudent, der in diesem Gebiet lebt und aufgewachsen ist, und Yuval Abraham, israelischer Journalist aus Tel Aviv, vermitteln hautnah und in Echtzeit die erschütternden Ereignisse. Sie filmen alles, was sie erleben, tauschen sich gegenseitig das Material, versuchen, es über Social Media zu verbreiten und Aufmerksamkeit in internationalen Medien zu erreichen. Sie selbst müssen sich vor dem aggressiven Vorgehen der israelischen Armee und der mit ihnen verbündeten Kampftrupps der Siedler schützen. Freunde und Angehörige helfen immer wieder, sie und ihr Filmmaterial zu verstecken.
Wer sich gegen die Räumung wehrt, wird gnadenlos zusammengeschlagen. Basel Adras Cousin ist einer davon. Er überlebt anfangs knapp, ist aber vollständig gelähmt. In einer Höhle liegt er auf einer Matratze am Boden, Tag und Nacht bewacht von seiner verzweifelten Mutter. Sein Schicksal löst unter seinen Freunden und den Dorfbewohnern massive Proteste aus. Sie fordern medizinische Hilfe, doch einen Platz in einer Pflegeeinrichtung gibt es nicht, und das Haus der Familie samt Betten ist zerstört. Am Ende stirbt er doch, wie der Film am Schluss mitteilt.
Nach der Vertreibung der Bewohner kommen die Bagger, zertrümmern alles, was die Menschen zum Leben brauchen – ihre Häuser, ihr Mobiliar, elektrische Geräte, Schaf- und Hühnerställe, Straßen, Lampen, die Stromversorgung. Schockierend die Filmaufnahmen von der Zerstörung eines modernen, gepflegten Badezimmers mit einem Bagger, gefolgt von zwei, drei Soldaten, die mit einer Säge die Wasserleitung durchtrennen.
Die geflüchteten Menschen retten sich in Höhlen der Gegend, die noch aus der Antike stammen, mit wenigen Habseligkeiten und Decken, die sie retten konnten. Ohne Wasser und Strom versuchen sie, unter den primitivsten Bedingungen zu überleben, sammeln Holz für Heizung und Kochen.
Zuletzt zerstören die Besatzer auch die Schule, die die Dorfbewohner eigenhändig aufgebaut haben, nachdem ihre Schulbusse auf der Fahrt in die nächste Stadt immer wieder angegriffen und gestoppt wurden.
Freunde von Basel Adra demonstrieren für ein friedliches Zusammensein von Palästinensern und Juden: „From both sides of the wall“, singen sie. Sie verweisen damit auf die hohe Betonmauer, die das israelische Regime im Westjordanland zwischen den Siedlergebieten und den palästinensischen Dörfern errichten ließ, und die man nicht „Mauer“, sondern nur „Sicherheitszaun“ nennen darf.
Yuval Abraham darf sich als Israeli frei bewegen und mit seinem Auto durch diese martialische Grenze fahren, die Palästinenser nur mit Sondergenehmigungen. Die einen haben gelbe, die anderen grüne Nummernschilder. Er ist nicht der einzige Israeli, der immer wieder den Kontakt zu den Palästinensern sucht, wie Basel später in einem Interview sagt. Aber als Journalist mit Kamera dorthin zu gehen, ist verboten, und von offiziellen israelischen Stellen wird er als Verräter denunziert.
Yuval und Basel wollen mit ihrem Film die Welt aufrütteln – in Israel ebenso wie in Deutschland, USA und den anderen westlichen Ländern, die die Netanyahu-Regierung mit Waffen und Geld unterstützen. Yuval setzt seine Social Media Kontakte ein. „Ich hatte heute nur ungefähr 170 Klicks“, berichtet er enttäuscht seinem Freund. Basel tröstet ihn: „Die Vertreibungen gibt es schon seit Jahrzehnten, und du erwartest Veränderungen in einem Tag.“
Später fragt Yuval seinen Freund: „Willst du nicht weggehen von hier?“ Er habe mit seinem Rechtsstudium vielleicht woanders Chancen. Basel schüttelt den Kopf. Er habe die Hoffnung auf das Gesetz verloren. Wenn er in Israel arbeiten will, kann er als Palästinenser ohnehin nur einen Job auf einer Baustelle bekommen. Weiter weg will er nicht, er muss seinem Volk helfen. Wenn es sein Land aufgibt, ist es verloren.
„Und was willst du später machen? Ein neues Haus bauen, Familie gründen?“ fragt Yuval weiter. Basel überlegt skeptisch. „Eigentlich nur etwas Stabilität, auch Demokratie, um überhaupt leben zu können.“
Basel und Yuvals Vorstellung, sie könnten mit der Verbreitung des Materials im Internet Druck ausüben auf die USA und andere westliche Regierungen, die vielleicht Israel zur Ordnung rufen, stellt sich als Illusion heraus. Auch ihre Hoffnung auf Hilfe durch internationale Medien zerplatzt, obwohl einige Berichte im Fernsehen durchsickern und sogar einmal ein Medienteam durch das Dorf gefahren wird.
Eines Tages stattet Tony Blair, ehemaliger Labour-Regierungschef Großbritanniens, dem betroffenen Gebiet und der Schule unter großem Mediengetöse einen Besuch ab. Der karge Filmkommentar: Sein Besuch dauert ganze sieben (!) Minuten. Und die Schule sowie das dazugehörige Dorf werden nur drei Tage lang von Armeeübergriffen verschont – danach geht es weiter. Schwerbewaffnete holen die Kinder mitten im Unterricht aus den Schulräumen, scheuchen sie mit Brüllen auf die Straße und zerstören das Gebäude.
Am Ende, im Sommer 2023 – kurz vor Beginn des Gaza-Kriegs – wird auch das Haus von Basels Familie zerstört. Seit dem 7. Oktober gehen die rechtsradikalen Siedlertrupps mit Unterstützung der Armee verstärkt gegen noch verbliebene palästinensische Bewohner vor.
In der Filmdokumentation erleben wir eine regelrechte Schlacht von bewaffneten Trupps, die auf palästinensische Bewohner, darunter viele Frauen und Kinder, einprügeln und deren Rufe „Wir sind Menschen, wir haben auch Rechte, wir wollen kein anderes Land“ mit Gebrüll „Dies ist unser Land“ übertönen. Armeesoldaten stehen dabei und stimmen in das Brüllen der rechtsradikalen Schläger ein.
Der Film endet am 23. Oktober 2023, als der Völkermord in Gaza schon Zigtausende ziviler Opfer gefordert hat. Am Schluss informiert er über das Bekanntwerden einer geheimen Räumungsorder der israelischen Regierung von 2022, „demolition order 1455“, genannt „Ilan“ nach dem Namen des verantwortlichen Kommandeurs. Es handelt sich um einen Freibrief für die Armee, mit Gewalt die Menschen zu vertreiben und sämtliche Lebensgrundlagen zu vernichten, um wie es heißt, ein Übungsgebiet für die IDF-Soldaten zu schaffen.
Ein Fact Sheet des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) vom 6. Juni 2022 bestätigt, dass die israelische Politik und Armeeführung diese Operation gezielt vorbereitet haben.
Teile des Gebiets von Masafer Yatta waren bereits Anfang der 1980er Jahre zum militärischen Sperrgebiet, zur „Feuerzone 91“ erklärt worden, aber die Übergriffe auf die Bevölkerung seitdem galten als illegal, führten zu internationalen Protesten von UN-Vertretern und Gerichten in Israel selbst. Am 4. Mai 2022 erklärte jedoch das oberste israelische Gericht (Israeli High Court of Justice, HCJ) gewaltsame Zwangsräumungen und Zerstörungen der Häuser für legal, um ein Übungsgebiet für das Militär zu schaffen.
Ein Jahr später startete die israelische Armee, trainiert und brutalisiert im Einsatz gegen die Bewohner von Masafer Yatta, ihre Bodeninvasion in Gaza und entfesselte den andauernden Völkermord gegen die palästinensische Bevölkerung.
In einem Interview im Berlinale Talk von radio eins klagen Basel und Yuval die deutsche Regierung an, die diesen Völkermord unterstützt. Als RBB-Reporter Knut Elstermann den „grauenhaften Angriff der Hamas“ am 7. Oktober anspricht, der „kaum Hoffnung“ für eine friedliche Lösung übriglasse, antwortet Yuval, der selbst am 7. Oktober Freunde verloren hat, vor allem in den 135 Tagen seitdem sei die Hoffnung auf Frieden gesunken. Der Bombenkrieg Israels habe inzwischen mehr als 13.000 Kinder in Gaza getötet, 70 Prozent der Häuser zerstört, über zwei Millionen Menschen zu Flüchtlingen gemacht. „Und ich weiß, dass Deutschland diesen Krieg vollständig unterstützt“, betont er, „selbst noch nach 135 Tagen, nachdem diese totale Zerstörung zu sehen ist!“
Als Elstermann protestiert und darauf verweist, dass die deutsche Regierung doch „von Anfang an Geld für die Zivilbevölkerung bereitgestellt und die Außenministerin sehr oft die Achtung der Menschenrechte angemahnt“ habe, unterbricht ihn Yuval wütend. Das bedeute nur, „erst die Menschen füttern und sie dann bombardieren“. Er habe als israelischer Journalist mit über einem Dutzend Kontakten von israelischen Sicherheitsquellen gesprochen, die über die Ziele der Bombardierung in Gaza genau informiert sind.
Dieser Krieg „ist der brutalste Krieg in der modernen Geschichte der Menschheit“, sagt er, „und total unmoralisch“. Es sei höchste Zeit, einen Waffenstillstand durchzusetzen, „doch Deutschland tut das nicht!“
„No Other Land“ ist eine mutige und schonungslose Anklage der deutschen, amerikanischen und anderen westlichen Regierungen, deren Unterstützung der israelischen Verbrechen einen abgrundtiefen moralischen Niedergang der herrschenden Klasse zum Ausdruck bringt.
Es ist dem Filmkollektiv zugleich hoch anzurechnen, dass sie sich nicht auf die filmische Dokumentation der schrecklichen Gewalttaten beschränken. Sie lassen zugleich die Menschen vor Ort sprechen – die palästinensischen Arbeiter, Bauern, ihre Familien und auch Israelis, deren Abscheu angesichts der Verbrechen der Netanyahu-Regierung und Armee zunimmt. Wie Yuval sagt, er fühle sich „verantwortlich, wir zahlen die Steuer, die dieses Apartheidsystem stabilisiert. Wir sind verbunden mit den Palästinensern, aber sie stehen unter Militärrecht, können sich nicht frei bewegen, anders als ich.“ Sie wollen für eine „Vision der vollen Gleichheit und Gerechtigkeit“ für Palästinenser und Israelis kämpfen.
Der Film verdient eine breite Zuschauerzahl unter Arbeitern und jungen Leuten, die auch in anderen Ländern mit der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen, mit wachsender sozialer Ungleichheit und Krieg konfrontiert sind.
Einen Trailer zum Film zeigt das Online-Filmmagazin The Hollywood Reporter.