Nato-Chef fordert Einsatz westlicher Waffen auf russischem Boden, während der Kreml einen Waffenstillstand mit der Ukraine ins Spiel bringt

Am Freitag feuerte das ukrainische Regime mehrere US-amerikanische Raketen des Army Tactical Missile System (ATACMS) auf russische Truppen auf der Krim ab. Die Waffen hatten die USA geliefert. Zeitgleich forderte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg in einem Interview mit dem Economist, dass die Ukraine auch Nato-Raketen einsetzen sollte, um Ziele in Russland zu bombardieren.

Diese enorme militärische Eskalation, mit der die Nato auf den immer schnelleren Zusammenbruch der ukrainischen Streitkräfte reagiert, entlarvt auch ihre Kriegslügen. Parallel zum Economist-Interview veröffentlichte die Nachrichtenagentur Reuters einen Bericht basierend auf Interviews mit hochrangigen Mitarbeitern des russischen Präsidenten Wladimir Putin, die an die Nato-Mächte appellierten. Sie fordern einen Waffenstillstand und warnen vor der Gefahr eines Atomkriegs. Nicht Moskau, sondern die Nato-Mächte unter der Führung Washingtons sind die treibende Kraft in dem Krieg, der schnell zu einem totalen Krieg in Europa und der Welt zu führen droht.

Rauch nach einem russischen Angriff auf die ukrainische Stadt Charkiw am 17. Mai 2024 [AP Photo/Evgeniy Maloletka]

Stoltenberg schloss sich früheren Äußerungen von US-Außenminister Antony Blinken und dem britischen Außenminister David Cameron an und forderte die Ukraine auf, die von der Nato gelieferten Langstreckenraketen für Angriffe auf Russland einzusetzen: „Unsere Verbündeten sollten jetzt überlegen, ob sie einige der Einschränkungen aufheben, die sie für den Einsatz der Waffen festgelegt haben, die sie der Ukraine geliefert haben. ... Der Ukraine die Möglichkeit zu verwehren, diese Waffen gegen legitime militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet zu nutzen, macht es ihnen sehr schwer, sich zu verteidigen.“

Stoltenberg versprach: „Wir werden in dem Konflikt nicht selbst eingreifen.“ Allerdings argumentierte er gleich darauf, die Nato solle der Ukraine einen Blankoscheck ausstellen, westliche Waffen für beliebige Ziele in Russland zu benutzen. Er erklärte: „Die Ukraine hat das Recht, sich zu verteidigen. Dazu gehören auch Angriffe auf Ziele auf russischem Staatsgebiet.“

Stoltenberg versteckt seine rücksichtslose Forderung nach einer Eskalation hinter der Lüge, die Nato werde dadurch nicht in einen offenen Krieg mit Russland verwickelt. Doch in herrschenden Kreisen ist allgemein bekannt, dass dies nicht stimmt. Wie ein geleaktes Gespräch zwischen deutschen Offizieren enthüllt hatte, sind US-amerikanische und britische Truppen bereits in der Ukraine und helfen ukrainischen Truppen bei Raketenangriffen auf Russland. Daher haben russische Regierungsvertreter gedroht, Nato-Staaten anzugreifen, die der Ukraine Waffen für Bombenangriffe auf Russland liefern.

Laut Stoltenberg gehe es um eine Verbesserung der Nato-Strategie, um Russland eine demütigende und vernichtende Niederlage zuzufügen. Das Problem mit der derzeitigen Strategie sei, dass die Regierungen der Nato-Länder wollen, „dass die Ukraine auf eine Art und Weise gewinnt, mit der Russland nicht verliert“.

Ein zentrales Problem für die herrschenden Eliten ist der starke Widerstand der Bevölkerung gegen eine direkte Nato-Beteiligung am Krieg. Laut Umfragen lehnen 68 Prozent der Franzosen, 80 Prozent der Deutschen und 90 Prozent der Polen Maßnahmen wie die Entsendung von Truppen in die Ukraine ab, die zu einem totalen Krieg führen könnten. Die Gefahr, dass die imperialistischen Nato-Mächte einen solchen Krieg in der nahen Zukunft auslösen, wird in der Bevölkerung jedoch nach wie vor erheblich unterschätzt.

Stoltenberg lieferte eine Rechtfertigung für einen Angriff auf Russland, auch wenn Russland die Nato nicht physisch angegriffen hat. Er behauptete, vermeintlichte russische Cyberangriffe könnten zur Anwendung von Artikel 5 des Nato-Vertrags führen und einen Krieg rechtfertigen: „Wenn [die russischen Cyberangriffe] ein gewisses Ausmaß erreichen ... können wir Artikel 5 anwenden und mit Cyberangriffen, aber auch mit anderen Angriffen reagieren, um die Nato-Verbündeten zu schützen.“

Das ist eine extrem weitgehende Äußerung. Cyberangriffe sind sehr schwer zurückzuverfolgen. Ein Cyberangriff könnte sehr leicht von Computern in Russland von einer Person außerhalb Russlands durchgeführt werden. Doch nach Stoltenbergs Argumentation würde dies dennoch als Rechtfertigung für ein militärisches Vorgehen der Nato gegen Russland ausreichen. Auf diese skrupellose Art und Weise versucht er, einen militärischen Angriff auf eine große Atommacht zu legimitieren.

Die Tatsache, dass Nato-Vertreter militärische Angriffe fordern, die in Moskau als Schritt hin zum offenen Krieg verstanden werden, zeigt, dass in der herrschenden Klasse wichtiger Nato-Staaten die Entscheidung für einen direkten Krieg gegen Russland bereits gefallen ist. Führende Politiker aus Nato-Mitgliedsstaaten geben zu, dass ein solcher Krieg aktiv geplant wird.

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban erklärte am Freitag gegenüber dem russischen Staatssender RT: „Was heute in Brüssel und Washington passiert... sieht aus wie das Aufwärmen für einen möglichen direkten militärischen Konflikt. Wir können es mit ziemlicher Sicherheit als die Vorbereitung für Europas Eintritt in den Krieg bezeichnen. ... In der Nato gibt es Arbeitsgruppen, die die besten Möglichkeiten prüfen, ihre Beteiligung an dem Konflikt auszuweiten.“

Orban behauptete, seine Regierung wolle Wege finden, um nicht in den Krieg verwickelt zu werden, den die Nato fieberhaft gegen Russland plant: „Ungarns Position muss neu definiert werden. Unsere Anwälte und Beamten arbeiten an Wegen, die es Ungarn ermöglichen, weiterhin Nato-Mitglied zu bleiben, ohne sich an den Nato-Aktivitäten außerhalb des Gebiets des Blocks zu beteiligen. Wir müssen eine neue Herangehensweise, eine neue Definition unserer Position als Friedenskraft innerhalb der Nato schaffen.“

Diese Versprechen sind wertlos. Wenn die Nato Russland angreift, wird Ungarn – wie auch die anderen osteuropäischen Staaten, deren Staatsoberhäupter Bedenken wegen des Kriegs geäußert haben, etwa die Slowakei und Bulgarien – in einen europaweiten und weltweiten Krieg hineingezogen und verwüstet werden, unabhängig von der juristischen Position ihrer Regierungen. Wenn der Krieg nicht schnell beendet wird, werden sie und ein Großteil der Welt durch Atomwaffen vernichtet.

Es gibt keinen nationalen Weg, um die Katastrophe zu verhindern, die von der Nato in Gang gesetzt wurde. Die verheerenden Auswirkungen der Auflösung der Sowjetunion und der Wiedereinführung des Kapitalismus durch die stalinistischen Regime überall in Osteuropa 1989–1991 werden immer offensichtlicher. Die imperialistischen Mächte konnten die ehemaligen Sowjetrepubliken gegeneinander ausspielen und die Ukraine als Basis für einen Krieg gegen Russland nutzen. Die Staaten Osteuropas sind der Nato beigetreten, die unter dem Vorwand des Kampfs für „Menschenrechte“ und „Demokratie“ brutale imperialistische Kriege führt.

Russlands Politik zeigt deutlich, dass eine nationalistische Opposition gegen den Imperialismus völlig bankrott ist. Putin hat mit seiner reaktionären Invasion der Ukraine im Jahr 2022 versucht, die Nato-Mächte zu zwingen, mit ihm zu verhandeln. Er wollte verhindern, dass sie die Ukraine weiter mit Waffen gegen Russland versorgen, und hoffte, dass die enorme militärische Stärke Russlands die Nato-Mächte an den Verhandlungstisch bringen würde. Das erwies sich jedoch als illusorisch. Während Russlands Armee die von der Nato bewaffneten ukrainischen Einheiten auf dem Schlachtfeld vernichtet, verdoppeln die Nato-Mächte ihre Pläne für einen Regimewechsel oder einen Krieg gegen Russland.

Reuters veröffentlichte am Freitag einen Bericht mit dem Titel „Putin will Waffenstillstand mit der Ukraine an den jetzigen Frontverläufen“, der auf Interviews mit fünf führenden Vertretern Russlands basiert, die „vertraut mit den Diskussionen in Putins Umfeld“ oder „ehemalige Mitarbeiter Putins“ seien. Sie betonen, der Kreml wolle seinen militärischen Vorteil nicht nutzen, um große Teile des ukrainischen Staatsgebiets zu erobern, und strebe dringend einen Waffenstillstand mit der Nato an.

Einer der Interviewpartner erklärte gegenüber Reuters: „Putin kann kämpfen, solange es nötig ist, aber er ist auch zu einem Waffenstillstand bereit, um den Krieg zu stoppen.“ Laut Reuters habe er zudem erklärt, Putin habe sich vor einer kleinen Gruppe von Beratern frustriert gezeigt. „[Putin] sehe Versuche des Westens, Verhandlungen zu sabotieren, und darüber hinaus, dass sich der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj entschieden habe, Verhandlungen auszuschließen.“

Ein anderer Vertreter betonte gegenüber Reuters, dass Russlands derzeitige Offensive nicht das Ziel verfolgt, die ukrainische Armee und das Regime zu zerstören. Er versprach: „Putin wird langsam Gebiete erobern, bis [der ukrainische Präsident Wolodymyr] Selenskyj ihm ein Angebot vorlegt, um [den Krieg] zu beenden.“

In den Interviews heißt es, Putin sei besorgt über den Widerstand der russischen Bevölkerung gegen die Einberufung von Soldaten und über die Gefahr eines Atomkriegs. Reuters berichtet: „Zwei der Quellen erwähnten russische Sorgen wegen der wachsenden Gefahr einer Eskalation mit dem Westen, einschließlich einer nuklearen Eskalation, wegen der Pattsituation in der Ukraine... Drei Quellen erklärten, Putin verstehe, dass jeder dramatische neue Vorstoß eine weitere landesweite Mobilmachung erfordern würde, die er nicht will.“

Die Äußerungen von Stoltenberg, Blinken und Cameron zeigen jedoch, dass die Nato-Mächte kein Interesse an einer Einigung mit Putin haben. Sie führen gegen Putin und Russland einen Krieg mit dem Ziel eines Regimewechsels. Eine katastrophale Eskalation des Konflikts, der sich faktisch bereits zum Dritten Weltkrieg in Europa entwickelt hat, kann nur durch den Aufbau einer sozialistischen Massenbewegung der Arbeiterklasse gegen imperialistischen Krieg verhindert werden. Diese Massenbewegung muss die Arbeiter sowohl im Kampf gegen die Nato-Regierungen und ihre Verbündeten als auch gegen Putins postsowjetisches kapitalistisches Regime vereinen.

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