Bericht eines jungen Ukrainers in Deutschland

„Die Arbeiterklasse in der Ukraine möchte überhaupt keinen Krieg gegen Russland“

Die WSWS sprach vor kurzem mit Semyon [1], der bei Ausbruch des Kriegs in der Ukraine nach Deutschland geflohen ist und nun hier studiert und arbeitet. Aufgrund der jüngsten Weigerung deutscher Behörden, Geflüchteten ihre Papiere zu verlängern, muss Semyon – wie Tausende ukrainische Geflüchtete – befürchten, zurückgeschickt und im Krieg gegen Russland verheizt zu werden.

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In den ersten drei Monaten, nachdem ich am Hauptbahnhof angekommen bin, wurden wir nur von Freiwilligenorganisationen unterstützt. Einige Freiwilligen haben sogar kurzzeitig einen Teil ihrer Wohnung für uns zur Verfügung gestellt. Der Staat hat uns zunächst kaum unterstützt. Am Anfang hatten weder die Behörden, noch die Hilfsorganisationen oder wir Ukrainer eine Ahnung davon, was uns eigentlich hier erwartet, oder was wir tun sollen.

Nach einigen Wochen hat sich der Bürokratie-Mechanismus gedreht, und uns die Beantragung von Paragraph 24 fast lautlos erlaubt [2] – die Verwirrung darüber ist erst nach etwa zwei Monaten verschwunden. Die meisten von uns mussten schon viel über die deutsche Bürokratie und das Sozialsystem hier lernen: Es ist verwirrend, langsam und kaum finanziert. Erklärungen, wie die Bürokratie funktioniert, kommen vor allem entweder von den freiwilligen Hilfsorganisationen oder von uns Ukrainern selbst.

Die Flüchtlingsunterkünfte für Ukrainer waren in allen Fällen ungefähr gleich – unabhängig davon, ob sie von Freiwilligen oder vom Staat finanziert und eingerichtet wurden. Wenn ich mich an die Ernährung in diesen Unterkünften erinnere, kommen mir vor allem Äpfel und Hot-Dogs ins Gedächtnis. Die Schlafplätze hatten natürlich Vorhänge statt Türen, und in unserem Fall sogar nur Vorhänge statt Wände.

Die deutsche herrschende Klasse spricht oft von dem „Kampf der Ukrainer“, aber die Arbeiterklasse in der Ukraine möchte überhaupt keinen Krieg gegen Russland. In Wirklichkeit gibt die Bundesregierung einen Dreck auf ukrainische Flüchtlinge, sie kümmert sich nur um ihre imperialistischen Interessen und die ihrer Partner – zum Beispiel, der USA, die diesen Krieg seit 2014 provoziert haben. Wer sich wirklich um die Ukrainer kümmerte, waren die Arbeiter.

Ich bin deshalb nicht sehr überrascht darüber, dass jetzt immer mehr Politiker fordern, ukrainische Flüchtlinge zurück an die Front zu schicken. Die Medien, die Bundesregierung und die ganze herrschende Klasse haben die vorzeitige Rückkehr in die Ukraine nie für gefährlich gehalten. Sie behaupten, es sei Flüchtlingen zumutbar, in die Ukraine zu reisen und der Wehrpflicht nachzukommen.

Die ukrainische Regierung hat im Moment nicht genug Menschenmaterial zum Schlachten. Auch in den „sicheren“ Zonen ist ein Leben nicht wirklich möglich; es gibt oft keinen Strom und die Wirtschaft ist zerstört. Ich frage mich immer wieder, wie die Ukrainern, die dort bleiben, dies wohl schaffen.

Wer jedoch als männlicher Ukrainer ukrainischen Boden betritt, darf nicht wieder ausreisen – außer man ist minderjährig. Selbst in diesem Fall wird es immer gefährlicher: Inzwischen werden sogar 16- und 17-Jährige eingezogen. Selbst wenn man nur für einen Tag in die Ukraine zurückkehrt, ist es in 90 Prozent der Fälle nicht möglich, wieder auszureisen.

Es ist nur möglich, wenn man ein Millionär ist, aber nicht für einfache Arbeiter. Die Menschen werden unterschiedlich behandelt. Wer dazu in der Lage ist, kann einfach ein Bestechungsgeld abgeben, um aus der Ukraine auszureisen. Von meinen Bekannten habe ich gehört, dass es anders nicht mehr möglich ist, die Ukraine ohne Lebensgefahr zu verlassen.

Tatsächlich ist die Ukraine, wie alle Staaten der ehemaligen Sowjetunion, dafür bekannt, wie korrupt sie ist. Jedes Gesetz kann umgangen werden, wenn genügend Geld fließt. Die meisten Arbeiter haben aber wegen der Hungerlöhne dafür nicht genügend Geld.

Wie in jedem anderen Land gibt es auch in der Ukraine eine herrschende Klasse, die vom Krieg profitiert. Millionäre und Oligarchen sind tief in den Staatsapparat integriert. Natürlich nutzen sie verschiedene Rhetorik, um der Arbeiterklasse vorzumachen, sie seien „Diener des Volkes“. Dass es sich um eine kapitalistische Oligarchie – und keine Demokratie – handelt, ist aber unter den ukrainischen Arbeitern allgemein bekannt.

Protest von Freunden und Familien ukrainischer Soldaten gegen deren zwangsweise Einberufung und ihre Behandlung durch das ukrainische Militär

Natürlich entwickelt sich dagegen Opposition, aber es ist eine Opposition unter Bedingungen der Diktatur. Zum Beispiel wurde Bogdan Syrotjuk wegen seines politischen Verständnisses und seines sozialistischen Bewusstseins inhaftiert. Die kriminellen Methoden, die der SBU (Inlandsgeheimdienst der Ukraine) und andere Kräfte anwenden, werden nicht mehr verhehlt. Es ist für Menschen im Westen vielleicht ungewöhnlich, dass solche polizeistaatlichen Maßnahmen unternommen werden, aber für Ukrainer und Russen ist das Alltag.

Alle Staatsorgane sind korrupt. Das ist seit der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Regierung bekannt. Die Oligarchie und der Staat kontrollieren heute auf die eine oder andere Weise alle Unternehmen, die noch in der Ukraine sind.

Die Verhältnisse werden immer faschistischer. Der ukrainische Nationalismus wird zur staatlichen Ideologie. Stephan Bandera wurde zum Helden ernannt und man hat nationale Monumente für ihn errichtet. Ukrainisch-nationalistische paramilitärische Divisionen werden in den Staat integriert. Man kann sagen, dass die Ukraine dabei ist, sich in eine vollständige nazistische Diktatur zu verwandeln.

Für Arbeiter gibt es jedoch schon seit Jahren wenige Beschäftigungsmöglichkeiten; die Arbeiterklasse war schon immer in einer sehr schwierigen Lage. Schon vor dem Krieg waren die Bedingungen nicht menschengerecht und die Löhne sehr niedrig.

Der Krieg und der Faschismus haben das noch weiter verschlimmert, auch wenn ich mir kaum vorstellen kann, wie es noch schlimmer werden konnte. Öffentliche Einrichtungen werden kaum noch finanziert. Die demokratischen Rechte und das Recht auf Streik werden vollständig abgeschafft. Schon vor dem Krieg waren Streiks nicht gut angesehen, da die Polizei und der Staat immer auf Seiten der Arbeitgeber standen. Als der Krieg begann und der ukrainische Nationalismus aufstieg, hat sich das noch so sehr verschlimmert, dass es jetzt unmöglich ist, demokratische Rechte auszuüben.

Im Jahr 2014 fand ein Putsch ukrainischer nationalistischer Kräfte statt, und der ukrainische Nationalismus hat sich von Anfang an zum Feind der Russen erklärt. Schon 2014 war das zu einem großen Teil staatliche Ideologie. Das hat sich mit dem Krieg potenziert. Russisch wird als Sprache des Feindes denunziert. Auch alles, was mit der Sowjetunion zu tun hat, wird kriminalisiert: Denkmäler werden zerstört und Straßen umbenannt. Die Einheit der Völker, die es in der Sowjetunion noch gab, wird sowohl durch den ukrainischen als auch den russischen Nationalismus zerstört.

Bogdan Syrotiuk mit einem Bild von Leo Trotzki in einer alten sowjetischen Ausgabe von John Reeds 10 Tage, die die Welt erschütterten, April 2023

Die Verhaftung von Bogdan Syrotjuk ist zutiefst ungerecht und traurig. Wir müssen dagegen kämpfen. Der Trotzkismus hat dem Krieg, dem Polizeistaat und der sozialen Ungleichheit den Kampf angesagt. Bogdan wurde verhaftet, weil er politisch gegen all dies kämpfte. Diese polizeistaatlichen Tendenzen werden sich mit der Entwicklung des Krieges noch verschärfen, bis nichts mehr von demokratischen Rechten übrigbleibt.

Aber das muss natürlich nicht so sein. Mit der Hilfe der internationalen Arbeiterklasse kann die ukrainische Arbeiterklasse den Kampf dagegen aufnehmen. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass sozialistische Denker und politisch Aktive wegen ihrer Überzeugung und konsequenter politischer Arbeit verhaftet werden. Diese polizeistaatlichen Maßnahmen finden auch in den anderen Ländern statt, z.B. gegen Gaza-Protestierende. Man wird auch gegen Streiks vorgehen, und gegen jedes demokratische Recht.

Wir müssen auch gegen den Aufstieg der AfD kämpfen. Sie wird von der Bundesregierung mit ihrem Hass auf Arbeiter und Migranten gefördert. Wenn wir eine internationale Arbeiterbewegung aufbauen, können wir nicht nur Bogdan Syrotjuk befreien, sondern auch unsere eigenen demokratischen Rechte verteidigen.

Das Ziel der Bewegung muss sein, dass die Arbeiterklasse die Macht übernimmt. Die herrschende Klasse will und wird den Krieg nicht beenden. Sie will und wird den Polizeistaat nicht wieder abschaffen.

Wir müssen die sofortige Beendigung des Krieges in der Ukraine, in Gaza und auf der ganzen Welt fordern. Wir brauchen Lohnsteigerungen für alle. Aber um das zu verwirklichen, wird die Arbeiterklasse unweigerlich dazu getrieben, die Macht zu übernehmen. Sie ist die einzige progressive Kraft in der Gesellschaft. Sie muss alle diese Inhaftierungen rückgängig machen und nur sie kann die Probleme der Welt lösen.

Die Sozialistische Gleichheitspartei und das Internationale Komitee der Vierten Internationale werden diese Bewegung leiten. Sie stellen ein marxistisches, trotzkistisches Verständnis der Ereignisse vor, und sie werden nach meiner Meinung diese internationale Arbeiterbewegung aufbauen und leiten.


[1]

Semyon ist nicht sein wirklicher Name. Um seine Sicherheit zu gewährleisten, veröffentlichen wir keine weiteren personenbezogenen Informationen über ihn.

[2]

Paragraph 24 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG), der einen vorübergehenden Schutz vorsieht, erfolgte auf der Grundlage eines EU-Beschlusses und wurde zuletzt bis zum 4. März 2025 verlängert

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