Ukraine setzt Offensive innerhalb Russlands fort

Die Offensive des ukrainischen Militärs in den beiden russischen Grenzregionen Kursk und Belgorod geht in die zweite Woche. Kiew hat nach eigenen Angaben ein Gebiet von 1.000 Quadratkilometern und mindestens 74 Ortschaften erobert sowie hunderte Kriegsgefangene genommen. Die Soldaten, die am ersten Einmarsch in russisches Gebiet seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs beteiligt sind, wurden im Vereinigten Königreich ausgebildet und benutzen amerikanische und deutsche Kampfpanzer sowie von den USA gelieferte HIMARS-Raketen.

Ein zerstörter russischer Panzer am Straßenrand nahe Sudscha in der russischen Region Kursk, aufgenommen am 16. August 2024 [AP Photo]

Bisher haben die ukrainischen Kräfte zwei Brücken in der Region zerstört und eine wichtige Bahnlinie unterbrochen, mit der die russische Armee Güter und Truppen an die Front in der Ukraine befördert.

Die Zerstörung der Brücken hat zudem die Evakuierungen von Einwohnern aus den Kampfgebebieten in Kursk und Belgorod behindert. Dass diese Evakuierungen noch andauern, deutet darauf hin, dass der Kreml nicht mit einem schnellen Ende der Kämpfe rechnet. Bisher wurden bereits mehr als 180.000 Menschen evakuiert.

Laut den russischen Medien sind jedoch nach wie vor zahlreiche Zivilisten in den mittlerweile von ukrainischen Truppen besetzten Gebieten. Die russische Zeitung Nesawisimaja Gaseta zitierte den kremlfreundlichen russischen Journalisten Aleksandr Chartschenko mit den Worten: „Eine große Anzahl unserer Bürger leben unter der Kontrolle ukrainischer Truppen.“ Die russischen Behörden behaupten außerdem, Kiew plane einen Angriff auf das Atomkraftwerk in Kursk oder dasjenige in Saporischschja. Die Kämpfe um das Atomkraftwerk Saporischschja, das größte seiner Art in Europa, dauern noch immer an.

Am Sonntag erklärte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, das Ziel des Vorstoßes sei die Schaffung einer „Pufferzone“: „Es ist jetzt unsere primäre Aufgabe in Defensivoperationen insgesamt, so viel russisches Kriegspotential wie möglich zu zerstören und eine größtmögliche Gegenoffensive zu führen.“

Dass der ehemalige US-General und spätere CIA-Chef David Petraeus, einer der größten Kriegsverbrecher des US-Überfalls auf den Irak, die ukrainische Invasion im BBC Global News Podcast gelobt hat, verdeutlicht die Beteiligung der USA an der Operation und ihren räuberischen Charakter. Er erklärte: „Es erinnert an unseren Einmarsch in den Irak: Eine große Panzerbrigade ist bis Bagdad vorgestürmt, kam am Flugfeld an und sagte: ,Hey, lasst uns einfach hier bleiben.‘ Lasst uns die Lage entwickeln und abwarten, was weiter passiert, wie der Feind reagiert. Ich glaube, das ist ihr Stand der Dinge.“

Unabhängig von den unmittelbaren militärischen und politischen Kalkulationen hinter dem Vorstoß offenbaren seine zugrundeliegende Strategie und die Ziele den imperialistischen Charakter des Kriegs, den die imperialistischen Mächte gegen Russland führen. Die Nato hat das Putin-Regime bewusst zum Überfall auf die Ukraine provoziert, um das Land als Sprungbrett für einen viel größeren Krieg zu nutzen, dessen Endziel die Aufteilung der gesamten Region ist.

Die ukrainische Militärführung spricht diese Ziele so offen aus wie niemand sonst. Sowohl der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschnyj, als auch der Leiter des Militärgeheimdienstes, Kirill Budanow, wurden wiederholt mit einer Karte fotografiert, auf der Russland zwischen verschiedenen Mächten aufgeteilt ist. Laut dieser Karte soll ein beträchtlicher Teil des heutigen Südosten Russlands, darunter die Regionen Kursk, Belgorod und Rostow, der Ukraine zufallen. Dies wäre eine modernisierte Version des lange gehegten Ziels der Faschisten der Organisation Ukrainischer Nationalisten, eine „Großukraine“ zu schaffen.

Eine Karte des aufgeteilten Russlands. Sowohl der ehemalige Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Waleri Saluschnyj, als auch der Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes, Kirill Budanow, wurden seit 2022 mit dieser Karte in ihrem Büro fotografiert.

Diese Strategie umfasst nicht nur Militäroffensiven auf russisches Staatsgebiet, sondern auch Terroranschläge im Inneren Russlands wie den Anschlag auf die Moskauer Crocus City Hall im März, bei dem mehr als 140 Menschen getötet wurden, und politische Morde. Vom Standpunkt der imperialistischen Mächte ist das Endziel, das Putin-Regime militärisch und politisch zu schwächen, um die Bedingungen für seinen Sturz durch Nato-unterstützte Teile der russischen Oligarchie und des Staatsapparats zu schaffen, als Teil der Bestrebungen, die gesamte Region unter ihre direkte Kontrolle zu bringen.

Das Putin-Regime, das als bonapartistisches Regime aus der Wiedereinführung des Kapitalismus durch die stalinistische Bürokratie hervorging, ist aufgrund seines Klassen- und politischen Charakters äußerst anfällig für solchen Druck. Wie die WSWS erklärt hat, besteht seine Hauptaufgabe darin, die immensen sozialen Privilegien der Oligarchie zu schützen. Zu diesem Zweck hat sie versucht, erstens zwischen verschiedenen Teilen der Oligarchie, zweitens zwischen der Oligarchie und dem Imperialismus und drittens zwischen der Oligarchie und der Arbeiterklasse zu balancieren. Doch die gesamte Strategie des Imperialismus und seines Stellvertreters in der Ukraine, die aus immer aggressiveren Militäroffensiven und dem systematischen Schüren von Spannungen innerhalb der Oligarchie besteht, untergräbt die Politik des Kremls.

Bisher hat das Putin-Regime auf die erste von den imperialistischen Mächten unterstützte Invasion des Landes seit der Niederlage der Nazis durch die Rote Armee im Zweiten Weltkrieg ausgesprochen verhalten reagiert, was eines von vielen Anzeichen für Konflikte hinter den Kulissen ist. Kurz vor dem Vorstoß hatte das Putin-Regime eine umfassende Säuberung seiner Militärführung begonnen. Und nur wenige Tage vor Beginn der Offensive hatte der Kreml einen Gefangenenaustausch mit Washington ausgehandelt, bei dem es mehrere der bekanntesten Vertreter der Nato-freundlichen Opposition freiließ, darunter Wladimir Kara-Mursa und mehrere Mitglieder des Teams des verstorbenen Alexei Nawalny, der lange Zeit der wichtigste Handlanger des Imperialismus in der Oligarchie war.

Ein ausführliches Interview, das der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko, einer der wichtigsten Verbündeten Putins, dem russischen Staatssender Rossiia gab, gewährt einen gewissen Einblick in die Erwägungen und hitzigen Diskussionen innerhalb der Oligarchie. Lukaschenko bekräftigte die Warnungen des Putin-Regimes, die Nato bereite einen direkten Eintritt in den Krieg vor, was „den Dritten Weltkrieg“ bedeuten würde. Er erklärte, mit dem Überfall auf Kursk wolle die Ukraine Russland zu einer Generalmobilmachung provozieren, die „die Gesellschaft von innen destabilisieren soll. Wir sind nicht bereit, das zu tun, und wollen es auch nicht.“ Lukaschenko behauptete außerdem, die Ukraine habe 120.000 Soldaten an der Grenze zu Belarus zusammengezogen, woraufhin Minsk ein Drittel seines Militärs – etwa 65.000 Mann – an der bereits stark verminten Grenze mobilisiert habe. Danach sprach er ausführlich über Belarus‘ Vorbereitungen auf einen potenziellen Krieg mit dem Nato-Mitgliedsstaat Polen und drohte der Ukraine, der Überfall auf Kursk könnte mit ihrer eigenen „Zerstörung“ enden.

Er betonte wiederholt: „Wir wollen keine Eskalation. Wir wollen diesen Krieg gegen die gesamte Nato nicht. Wir wollen ihn nicht. Aber wenn sie es darauf anlegen, werden wir keine Wahl haben.“ Anschließend sprach Lukaschenko über die Stationierung taktischer Atomwaffen durch Russland auf belarussischem Gebiet. Auf die Frage, ob er bereit sei, „den roten Knopf zu drücken“, erklärte er mit Nachdruck, dass er das sei, sobald die Grenzen von Belarus verletzt würden. „Wenn Sie das nicht wollen, dann sollten wir uns an den Verhandlungstisch setzen und diese kleine Auseinandersetzung [d.h. den Krieg in der Ukraine] beenden.“ Er behauptete weiter, es gäbe „keine Nazis“ mehr in der Ukraine, da der Kreml sein angebliches Ziel der „Entnazifizierung der Ukraine“ erreicht habe.

Natürlich wollte und konnte das Putin-Regime, das selbst von großrussischem Chauvinismus durchdrungen ist und umfangreiche Beziehungen zu rechtsextremen Kräften unterhält, niemals einen ernsthaften Kampf gegen den Faschismus führen. Dennoch deuten diese Äußerungen Lukaschenkos im russischen Staatsfernsehen, während ukrainische Truppen mit Nazisymbolen auf ihren Uniformen auf russischem Boden kämpfen, darauf hin, dass bedeutende Teile des Staats und der Oligarchie auf die Invasion reagieren, indem sie intensiv darüber diskutieren, wie eine schnellstmögliche Verhandlungslösung mit dem Imperialismus erreicht werden könnte.

Gleichzeitig warnen andere Teile der Oligarchie, das Land müsse sich auf einen langen Krieg und eine potenzielle zweite Mobilmachung vorbereiten. Ein charakteristischer Kommentar auf der rechten, kremlfreundlichen Website Vzglyad.ru erinnert an den Überfall Hitler-Deutschlands im Jahr 1941, der 27 Millionen Sowjetbürger das Leben kostete, und warnt: „Der Sieg wird einen langen Krieg erfordern.“

Der von den imperialistischen Mächten unterstützte Vorstoß auf Russland – der erste seiner Art seit 1941 – und das politische Chaos, das er in der Oligarchie angerichtet hat, verdeutlichen vor allem das katastrophale Ergebnis des stalinistischen Verrats an der Oktoberrevolution von 1917, dessen Höhepunkt die Zerstörung der Sowjetunion 1991 war. Unabhängig von ihren erbitterten und heftigen Fraktionskämpfen befasst sich die russische Oligarchie, die aus dieser Konterrevolution hervorgegangen ist, eher damit, eine Bewegung der Arbeiterklasse zu verhindern, als mit der Gefahr, die der Imperialismus darstellt.

Die unmittelbare Gefahr einer imperialistischen Aufteilung der Region und eines Atomkriegs kann nur durch die Intervention der Arbeiterklasse abgewehrt werden. Diese muss ihren Kampf unabhängig von allen Teilen der Oligarchie und der imperialistischen Mächte auf der Grundlage der sozialistischen und internationalistischen Traditionen führen, die die Oktoberrevolution inspirierten.

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