Tom Henehan, ein Mitglied des Politischen Komitees der Workers League, wurde am 16. Oktober 1977 ermordet. Er überwachte an diesem Tag eine Freizeitveranstaltung der Young Socialists im Ponce Social Club in New York. Zwei bewaffnete Männer, Angelo Torres und Edwin Sequinot, betraten das Gebäude und provozierten in Zusammenarbeit mit einem Dritten, Angelo Rodriguez, eine Auseinandersetzung am Eingang zum Disco-Saal. Tom Henehan bemerkte die Unruhe und lief schnell zur Tür. Dort gab Torres fünf Schüsse auf ihn ab. Jacques Vielot, ein weiteres führendes Mitglied der Workers League, wurde von Sequinot angeschossen, als er versuchte Torres zu packen.
Trotz seiner eigenen schweren Bauchverletzungen gelang es Vielot, Tom, der an der Brust und im Genick schwer verwundet war, auf dem schnellsten Wege zum Wyckoff Heights Hospital zu fahren. Henehan war noch bei Bewusstsein, als er in die Notaufnahme des Krankenhauses eingeliefert wurde. Aber aus bis heute nicht geklärten Gründen versuchte der diensthabende Chirurg entgegen der üblichen Praxis nicht, Toms innere Blutungen durch eine Operation aufzuhalten. Stattdessen ließ man ihn in der Notaufnahme liegen, bis er etwa 90 Minuten nach der Einlieferung in das Krankenhaus an Schock starb.
Mehrere Stunden nach Toms Tod, der kurz vor drei Uhr morgens eingetreten war, ließ der Chirurg Vielot in den Operationssaal bringen, um die lebensbedrohlichen Kugeln aus seinem Körper zu entfernen. Vielot überlebte und trug keine Folgeschäden davon.
Ein politischer Mord
Der Anschlag auf Tom Henehan war politisch motiviert. Zum Zeitpunkt seiner Ermordung führte das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) eine Untersuchung über den Mord an Leo Trotzki durch. Es war bei der Klärung der Umstände, die den Anschlag in Mexiko im August 1940 umgaben, einen entscheidenden Schritt vorangekommen. Das IKVI hatte soeben aufgedeckt, dass Joseph Hansen, der Führer der revisionistischen Socialist Workers Party, in den ersten Wochen nach Trotzkis Ermordung versucht hatte, über das US-Außenministeriums geheime Verbindungen zum Geheimdienst Federal Bureau of Investigation (FBI) anzuknüpfen. Nur wenige Monate vor dem Mord an Tom hatte Hansen geschrieben, dass das Internationale Komitee »tödliche Konsequenzen« zu erwarten hätte, wenn es die Untersuchung nicht einstelle.
Nun war Tom Henehan tot. Im Alter von 26 Jahren und 7 Monaten starb er als Märtyrer der trotzkistischen Bewegung. Er hatte sein Leben gegeben, um die Arbeiterklasse von der kapitalistischen Unterdrückung zu befreien. Die kapitalistische Presse berichtete mit keinem Wort über den Mordanschlag. Weder die Socialist Workers Party (SWP) noch die stalinistische Kommunistische Partei widmeten dem Mord an Genossen Tom Henehan auch nur eine einzige Zeile. Die SWP wollte nicht einmal eine Erklärung veröffentlichen, um den Anschlag zu verurteilen. Stattdessen wiederholte sie die offizielle Polizeilüge und erzählte ihren Mitgliedern, die Schüsse auf Tom seien eine »sinnlose Mordtat« gewesen.
Die Polizei in Brooklyn, dem Stadtteil von New York, wo das Verbrechens stattgefunden hatte, behauptete, es habe nur einen bewaffneten Einzeltäter gegeben, Torres, und dieser sei trotz »Großalarm« nicht aufzufinden. Was Sequinot anging, so entließ ihn die Polizei wenige Minuten, nachdem Augenzeugen ihn als Torres’ bewaffneten Komplizen identifiziert hatten, aus der Untersuchungshaft.
In den folgenden drei Jahren führten die Workers League und die Young Socialists eine unermüdliche Kampagne in der Arbeiterbewegung, um den zuständigen Staatsanwalt in Brooklyn zu zwingen, Haftbefehl gegen Torres und Sequinot zu erlassen. Gewerkschaftsführer, die mehrere Millionen Mitglieder vertraten, und Zehntausende Arbeiter und Jugendliche schickten Briefe und Unterschriftensammlungen, in denen die Verhaftung von Torres und Sequinot gefordert wurde – sehr zur Überraschung des zuständigen Polizeikommissars, der der Workers League nur zehn Tage nach dem Mord erklärt hatte: »Henehan war nur ein Commie (Kommunist), für seinen Tod werden sich höchstens noch ein paar Commies interessieren.«
Am 15. Oktober 1980 wurde Torres verhaftet und angeklagt, Tom Henehan ermordet und Jacques Vielot angeschossen zu haben. Aus behördlichen Akten, die sich die Workers League aushändigen ließ, ging hervor, dass Torres schon einmal von der Polizei festgenommen und kurz darauf wieder auf freien Fuß gesetzt worden war, obwohl schlagende Beweise für seinen Mord an Tom vorlagen. Zwei Monate später verhaftete die Polizei nach langem Zögern auch Edwin Sequinot. Beide hatten die ganze Zeit seit dem Mord zu Hause in Brooklyn gelebt und nicht einmal die Wohnung gewechselt.
Im Juli 1981 begann der Prozess gegen Torres und Sequinot. Die Anklage lautete auf Mord an Tom Henehan und Schüsse auf Vielot. Torres wurde des Mordes für schuldig befunden und im August zu lebenslänglicher Haft verurteilt, aus der er bei guter Führung frühestens nach 25 Jahren entlassen werden konnte. Sequinot wurde des Totschlags und des versuchten Mordes für schuldig befunden und wie Torres zu mindestens 25 Jahren Haft verurteilt.
Aber für die Workers League ist die Erforschung der Umstände von Toms Ermordung damit nicht abgeschlossen. Die Mörder sind im Gefängnis, aber diejenigen, die diesen Mord planten und anordneten, müssen noch zur Rechenschaft gezogen werden. Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir die Verschwörung zu Toms Ermordung in allen Einzelheiten aufdecken werden, wenn wir uns auf die revolutionäre Stärke der Arbeiterklasse stützen.
Fünf Jahre nach seinem Tod ist die Erinnerung an Tom Henehan in der Workers League und in jeder anderen Sektion des Internationalen Komitees so lebendig wie am ersten Tag. Hunderttausende Arbeiter, Jugendliche und anti-imperialistische Freiheitskämpfer wissen von Tom Henehans Kampf und schöpfen Kraft aus seinem Leben.
Tom war erst 26, als er starb, und seine Arbeit in der Workers League umfasste nur viereinhalb Jahre. Aber kein Mitglied unserer Bewegung, das Tom kannte, wird je seine Entschlossenheit, seine Begeisterung und seine völlige Hingabe für die Sache vergessen. Er besaß ein außerordentlich feines Gespür für die Kämpfe der Arbeiterbewegung, und das versetzte ihn in die Lage, sehr enge Beziehungen zu breiten Schichten aus allen Teilen der Arbeiterklasse aufzubauen, von arbeitslosen Jugendlichen und Werftarbeitern in Brooklyn bis hin zu Bergleuten in West Virginia.
Die Ausbildung eines Revolutionärs
Aber wenn wir es dabei bewenden lassen, Toms persönliche Qualitäten zu nennen, können wir sein Leben und seine Rolle in der Workers League nicht verstehen. Auf einer Gedenkveranstaltung, die schon sechs Tage nach Toms Tod in New York stattfand, erklärte Mike Banda, Generalsekretär der britischen Workers Revolutionary Party zurecht: »Niemand wird als Revolutionär geboren. Revolutionäre werden geschmiedet. Sie werden ausgebildet aufgrund der Erfahrungen unserer Bewegung, durch das Eingreifen ihrer Führung, und aufgrund des gesamten Kampfs der vorangegangenen Generationen.«
Das galt natürlich auch für Tom. Seine politische Entwicklung war verbunden mit den historischen Kämpfen, in denen sich die trotzkistische Bewegung fast sechs Jahrzehnte lang gestählt hatte, und aus denen auch die Workers League hervorgegangen war. Der eigentliche Kern der Kaderausbildung besteht darin, dass sich alle, die der Partei beitreten, bewusst den revolutionären Grundsätzen unterordnen, die die historische Kontinuität des Marxismus beinhalten. Mit »historischer Kontinuität« meinen wir die ununterbrochene Kette der politischen und ideologischen Kämpfe, die unsere internationale Bewegung gegen den Stalinismus, die Sozialdemokratie, den Revisionismus und alle anderen Feinde der Arbeiterklasse geführt hat.
Die individuellen Fähigkeiten der einzelnen Kader können kein Ersatz für unsere kollektive Verantwortung sein, die politischen und theoretischen Errungenschaften unserer Bewegung geschichtlich zu erarbeiten und zu begreifen. Lenin, Trotzki, die bolschewistische Partei und die Linke Opposition sind nicht einfach große Führer und Organisationen der Vergangenheit, über die wir gelegentlich ein Buch lesen und die wir bei besonderen Gelegenheiten ehren. In all seiner theoretischen und praktischen Arbeit, in der Entwicklung der dialektisch-materialistischen Methode, die uns die Erarbeitung wissenschaftlicher revolutionären Perspektiven ermöglicht, setzt das Internationale Komitee die Arbeit seiner großen Vorläufer fort und bereichert sie.
1916 charakterisierte Lenin unsere Epoche als das Zeitalter des Imperialismus, der das höchste und letzte Stadium des Kapitalismus bildet. 1938 bestätigte Trotzki diese wissenschaftliche Analyse und definierte unsere historische Periode als den Todeskampf des Kapitalismus. All die großen politischen und ökonomischen Veränderungen, die seit Trotzkis Tod auf der ganzen Welt stattgefunden haben, bestätigten immer wieder aufs Neue die historische Gültigkeit dieser Analyse und damit auch die Wissenschaftlichkeit der dialektisch-materialistischen Methode, durch die sie gewonnen wurde.
Die Linke Opposition
Der politische Kampf, der den Trotzkismus als die Bewegung hervorbringen sollte, die die historische Kontinuität des Marxismus verkörpert, begann vor fast genau sechzig Jahren im Politbüro der Russischen Kommunistischen Partei. Ende 1922 erfuhr Lenin zu seinem Entsetzen, dass Stalin und andere bolschewistische Führer während seiner Abwesenheit dafür eingetreten waren, das Außenhandelsmonopol zu lockern, obwohl dieses unverzichtbar war, um die Sowjetunion gegen den Weltimperialismus zu verteidigen. Lenin sah in dieser opportunistischen Entscheidung ein schwerwiegendes Symptom für die politische Degeneration innerhalb der alten bolschewistischen Führung, eine Widerspiegelung der zunehmenden Bürokratisierung des Staatsapparats und der Partei insgesamt. Lenin war bereits schwer krank und hatte sich nur teilweise von einem Schlaganfall erholt, der ihn im Frühjahr 1922 der Sprache beraubt hatte. Er wandte sich an Trotzki, um politische Unterstützung für den Kampf zu erhalten, die Fehlentscheidung zum Außenhandelsmonopol rückgängig zu machen.
Am 15. Dezember 1922, kurz vor seiner Abreise nach Gorki (zu einer nochmaligen Kur), schrieb Lenin an Stalin:
Ich habe jetzt meine Angelegenheiten endgültig erledigt und kann ruhig wegfahren. Ich habe mich außerdem mit Trotzki darauf geeinigt, dass er meinen Standpunkt zum Außenhandelsmonopol vertritt. Es ist nur ein Umstand geblieben, der mich außerordentlich beunruhigt – die Unmöglichkeit, auf dem Sowjetkongress zu sprechen … Ich bin vollkommen dagegen, die Frage des Außenhandelsmonopols zu vertagen. Sollte dieser Vorschlag aus irgendwelchen Gründen aufkommen, und sei es mit der Begründung, dass meine Anwesenheit bei dieser Frage wünschenswert wäre, so würde ich mich ganz entschieden dagegen wenden, diese Frage bis zum nächsten Plenum zu verschieben, weil ich sicher bin, dass Trotzki meinen Standpunkt ebenso gut vertreten kann, wie ich selbst …[1]
Als Stalin und diejenigen, die mit ihm gegen das Außenhandelsmonopol gestimmt hatten, mit der gemeinsamen Opposition von Lenin und Trotzki konfrontiert waren, traten sie den Rückzug an.
Am 21. Dezember schrieb Lenin an Trotzki:
Genosse Trotzki! Es scheint, wir haben die Festung eingenommen, ohne einen Schuss abzufeuern, einfach durch Manövrieren. Ich schlage vor, jetzt nicht haltzumachen, sondern den Angriff fortzusetzen und zu dem Zwecke in einer Resolution für den Parteikongress einen Antrag auf Verstärkung und bessere Durchführung des Monopols des auswärtigen Handels zu stellen. Künden Sie das der Fraktion des Sowjetkongresses an. Ich hoffe, dass Sie keine Einwendungen haben und eine Rede auf der Fraktionssitzung halten werden.[2]
Es stellte sich heraus, dass die Auseinandersetzung über das Außenhandelsmonopol nur das Vorspiel zu einem härteren Kampf war, der fast im unmittelbaren Anschluss über die Art und Weise ausbrach, wie Stalin und der Leiter der Tscheka (Geheimpolizei), F. Dserschinski, mit den Fragen der georgischen Nation umsprangen.
Am 5. März 1923 schickte Lenin folgende dringliche Notiz an Trotzki:
Werter Genosse Trotzki: Ich bitte Sie dringend, die Verteidigung der georgischen Angelegenheit im Zentralausschuss zu übernehmen. Diese Angelegenheit befindet sich in den Händen Stalins und Dserschinskis zur Aburteilung, und ich kann mich nicht auf ihre Unparteilichkeit verlassen. Ganz im Gegenteil. Wenn Sie also die Verteidigung übernehmen würden, könnte ich beruhigt sein. Sollten Sie aus irgendeinem Grunde dazu nicht in der Lage sein, dann schicken Sie mir die gesamten Papiere zurück. Ich werde das als ein Zeichen Ihrer Ablehnung ansehen.[3]
Am selben Tag verfasste Lenin einen weiteren Brief an Stalin, in dem er ihm drohte, alle Beziehungen zu ihm abzubrechen, weil Stalin sich gegenüber Lenins Frau so unverschämt verhalten hatte.
Der letzte Brief, den Lenin an diesem Tag schrieb, ging an die Genossen in Georgien, die unter Stalins bürokratischem Machtmissbrauch gelitten hatten: »Werte Genossen: Ich bemühe mich Ihrethalben aus vollem Herzen und bin entrüstet über die Rücksichtslosigkeit Ordschonikidses und die Zustimmung Stalins und Dserschinskis. Ich bereite Briefe und eine Rede für Sie vor.«[4]
Doch bevor dieses Material fertiggestellt war, erlitt Lenin noch am selben Tag einen schweren Schlaganfall, der ihn zum Ausscheiden aus dem politischen Leben zwang. Zehn Monate später, am 21. Januar 1924, verstarb Lenin.
Diese Auseinandersetzung war kein persönlicher Zwist zwischen Lenin und Stalin. Stalin verkörperte einen politischen Degenerationsprozess innerhalb der bolschewistischen Partei. Diese Degeneration war ein Ergebnis des objektiven materiellen Drucks, den der Weltimperialismus auf den ersten Arbeiterstaat ausübte. Die ökonomische Rückständigkeit der Sowjetunion, die aus dem zaristischen Russland ererbt und durch zehn Jahre imperialistischen Krieg, revolutionäre Aufstände und dann den Kampf gegen konterrevolutionäre Kräfte verschlimmert worden war, die Verzögerung der sozialistischen Revolution in Westeuropa und die imperialistische Umzingelung der UdSSR – das waren die Bedingungen, die innerhalb der Sowjetunion zur Entstehung einer Bürokratie und zur Degeneration der Bolschewistischen Partei führten.
Stalin war keineswegs ein teuflisches Genie, das sich vermittels seiner Intelligenz die absolute Macht verschaffte, sondern gerade seine politischen Schwächen machten ihn zum Instrument der bürokratischen Reaktion innerhalb der UdSSR.
Die Gründung der Linken Opposition im Herbst 1923 war die Antwort der politisch weitsichtigsten Bolschewiki, angeführt von Trotzki, auf die wachsende Gefahr einer Degeneration der Bolschewistischen Partei. Trotzkis erste Analyse dieser Gefahr, die er unter dem Titel »Der Neue Kurs« veröffentlichte, rief eine blindwütige Reaktion bei all denjenigen im Parteiapparat und in der Staatsbürokratie hervor, die spürten, dass seine Artikel ihren Konservativismus scharf angriffen und eine Bedrohung für ihre wachsenden materiellen Privilegien mit sich brachten.
»Sozialismus in einem Land«
Die politische Bedeutung der zunehmenden Polarisierung in der Bolschewistischen Partei wurde klar, als Bucharin und Stalin Ende 1924 eine völlig neue Position entwickelten. Sie bezogen den Standpunkt, dass es auch ohne den Sieg der proletarischen Revolution in den fortgeschrittenen Ländern Europas und den Vereinigten Staaten möglich sei, den Sozialismus in der UdSSR aufzubauen. Diese grundlegende Revision des Marxismus, die das Schicksal der Sowjetunion von der Gesamtentwicklung der Weltrevolution trennte, widerspiegelte das zunehmende Bestreben einer wachsenden bürokratischen Elite, ihre eigenen Privilegien zu verteidigen. Nachdem die stalinistische Fraktion den Standpunkt eingenommen hatte, der Sozialismus könne in der Sowjetunion auch ohne den Sturz des Imperialismus aufgebaut werden, zielte ihre Politik zwangsläufig – obwohl zunächst unbewusst – immer mehr darauf ab, sich mit dem Weltkapitalismus zu arrangieren und sich ihm anzupassen.
Wie Trotzki erklärte: Könnte der Sozialismus wirklich in einem Land aufgebaut werden, dann würden sich die internationalen Ziele des Sowjetstaates nicht mehr auf die Weltrevolution konzentrieren – da diese nicht länger als wesentliche Voraussetzung für das Überleben der UdSSR betrachtet würde –, sondern lediglich darauf, eine direkte militärische Intervention dieses oder jenes kapitalistischen Staates gegen die Sowjetunion zu verhindern. Diese Haltung sollte in letzter Konsequenz dazu führen, dass die Dritte Internationale als revolutionäre Kraft zerstört und in ein willfähriges Instrument der Außenpolitik der sowjetischen Bürokratie verwandelt wurde. Hierin bestand der wesentliche politische Inhalt der Angriffe, die die stalinistische Bürokratie gegen die Theorie der permanenten Revolution richtete. Diese Theorie wurde seit 1925 immer wieder als die »Erbsünde« des Trotzkismus angeprangert.
Aber der Begriff der »permanenten Revolution« war keine subjektive Erfindung von Trotzki. Er war ursprünglich im Jahr 1850 von Marx aus den Klassenbeziehungen in Europa abgeleitet worden, wie sie sich im Verlauf der revolutionären Kämpfe im Jahr 1848 darstellten. Trotzkis Leistung bestand darin, dass er die objektive Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft genau untersuchte und im Einzelnen den Übergang von der Epoche der demokratischen Revolutionen zur Epoche der sozialistischen Revolutionen nachwies. So erweiterte und bereicherte er den Begriff der permanenten Revolution.
Aber Trotzki machte nicht den Begriff zum Ausgangspunkt seiner Untersuchung der äußeren Welt. Vielmehr wies er nach, wie der Begriff der permanenten Revolution während bestimmter Entwicklungsstufen der marxistischen Bewegung die objektiven Veränderungen des Klassenkampfes als gesetzmäßigen Prozess widerspiegelte.
Dialektik oder Metaphysik
Durch diese objektive Darstellung der realen historischen Entwicklung entlarvte Trotzki zugleich die Untauglichkeit der metaphysischen Denkweise, die ausgehend von der formalen Logik einen starren Gegensatz zwischen demokratischer und sozialistischer Revolution konstruierte.
Charakteristisch für alle Verleumdungsfeldzüge gegen die Theorie der permanenten Revolution, insbesondere 1925–1927 im Verlauf der Auseinandersetzung über die Politik der Dritten Internationale in China, war die theoretische dumme und politisch katastrophale Metaphysik der stalinistischen Führer – allen voran Stalins selbst. Diese »Epigonen« argumentierten folgendermaßen: China führt einen nationalen Kampf gegen den Imperialismus; Chiang Kai-shek führt einen fortschrittlichen Kampf gegen feudale Kriegsherren. Deswegen müssen die Kommunistische Internationale und die Chinesische Kommunistische Partei Chiang Kai-shek unterstützen und sich ihm und der bürgerlichen Kuomintang unterordnen.
Und als ob sie diesen völligen Verrat an den unabhängigen Interessen der chinesischen Arbeiterklasse, der die Revolution zu einer katastrophalen Niederlage verurteilte, auch noch unter Vorbehalt stellen wollten, erklärten die Stalinisten dieses Bündnis für nur vorübergehend.
Trotzki verfertigte eine konkrete Analyse des Charakters der Epoche, der Beziehungen zwischen den Klassen weltweit, der besonderen Merkmale der chinesischen Gesellschaft und der Entwicklung ihrer Revolution. Auf dieser Grundlage wies er nach, wie in Übereinstimmung mit objektiven gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten die »Gegensätze« der demokratisch-nationalen und der sozialen Revolution »zusammenfielen« und »sich ineinander verwandelten«.[5]
So erklärte Trotzki:
In Bezug auf die Länder mit einer verspäteten bürgerlichen Entwicklung, insbesondere auf die kolonialen und halbkolonialen Länder, bedeutet die Theorie der permanenten Revolution, dass die volle und wirkliche Lösung ihrer demokratischen Aufgabe und des Problems ihrer nationalen Befreiung nur denkbar ist mittels der Diktatur des Proletariats als des Führers der unterdrückten Nation und vor allem ihrer Bauernmassen.[6]
Trotzki warnte:
Die Theorie von Stalin und Bucharin bringt nicht nur der ganzen Erfahrung der russischen Revolution zuwider die demokratische Revolution mechanisch in Gegensatz zu der sozialistischen Revolution, sondern sie trennt auch die nationale Revolution von der internationalen.
Diese Theorie stellt den Revolutionen in den zurückgebliebenen Ländern die Aufgabe, ein nicht zu verwirklichendes Regime einer demokratischen Diktatur zu errichten, das sie zu der Diktatur des Proletariats in Gegensatz bringt: Damit trägt sie Illusionen und Fiktionen in die Politik hinein, lähmt den Kampf des Proletariats des Ostens um die Macht und hält den Sieg der kolonialen Revolutionen auf.[7]
Trotzki fasste die Theorie der permanenten Revolution folgendermaßen zusammen:
Die Machteroberung durch das Proletariat schließt die Revolutionen nicht ab, sondern eröffnet sie nur. Der sozialistische Aufbau ist nur auf der Basis des Klassenkampfes im nationalen und internationalen Maßstabe denkbar. Unter den Bedingungen des entscheidenden Übergewichts kapitalistischer Beziehungen in der Weltarena wird dieser Kampf unvermeidlich zu Explosionen führen, d. h. im Inneren zum Bürgerkrieg und außerhalb der nationalen Grenzen zum revolutionären Krieg. Darin besteht der permanente Charakter der sozialistischen Revolution, ganz unabhängig davon, ob es sich um ein zurückgebliebenes Land handelt, das erst gestern seine demokratische Umwälzung vollzogen hat, oder um ein altes kapitalistisches Land, das eine lange Epoche der Demokratie und des Parlamentarismus durchgemacht hat.
Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, dass die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: Sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Sieg der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.[8]
Von 1925 bis 1927 führte die Linke Opposition (die nach dem Beitritt von Sinowjew und Kamenew zur Vereinigten Linken Opposition wurde) einen Kampf auf Leben und Tod, um die Bolschewistische Partei und schließlich auch die Kommunistische Internationale vor einer bürokratischen Degeneration zu bewahren. Es ging um das historische Schicksal der Sowjetunion und des gesamten internationalen Proletariats. In einer von immer niederträchtigeren Verleumdungen und immer schlimmerer Unterdrückung vergifteten Atmosphäre fasste Trotzki in dem Begriff der »permanenten Revolution« mit der Klarheit eines Genies die Analyse aller grundlegenden Merkmale und allgemeinen Gesetze der sozialistischen Weltrevolution zusammen. In seinen »Grundsätzen« der Theorie der permanenten Revolution, die er in vierzehn Punkten zusammenfasst, lieferte Trotzki kein Schema ewiger und über der Geschichte stehender Formeln, die mechanisch anzuwenden wären, sondern eine dialektisch erarbeitete Theorie, die Revolutionären dazu dient, ihre konkreten politischen Aufgaben im Klassenkampf wissenschaftlich zu erkennen – und zwar ausgehend von dem Ziel der unabhängigen revolutionären Mobilisierung der Arbeiterklasse unter der Führung einer internationalen marxistischen Partei.
Der sechste Kongress der Komintern
Leo Trotzkis Ausschluss aus der Russischen Kommunistischen Partei im November 1927 zeigte, wie weit die bürokratische Degeneration bereits fortgeschritten war. Der Ausschluss der Linken Opposition im Inland ging Hand in Hand mit der bürokratischen Säuberung der Kommunistischen Internationale von allen Führern, die trotzkistischer Sympathien verdächtigt wurden oder irgendeine Spur unabhängigen politischen Denkens vermuten ließen. Der gesamte sechste Kongress der Kommunistischen Internationale stand unter dem Zeichen des Kampfes gegen den Trotzkismus. Trotzki, der in ein malariaverseuchtes Grenzgebiet im asiatischen Teil der Sowjetunion verbannt worden war, verfasste eine Kritik am Programmentwurf des sechsten Kongresses. Dieses Dokument zog Bilanz über all die politischen Katastrophen, die die stalinistische Führung seit dem Ausscheiden Lenins aus der Politik herbeigeführt hatte.
Zufällig wurde dieses Dokument in das Englische übersetzt und geriet in die Hände eines Mitglieds der Delegation der amerikanischen Kommunistischen Partei, James P. Cannon. Er studierte den Text heimlich, stimmte mit seiner Analyse und seinen Schlussfolgerungen überein, schmuggelte das Dokument am Ende des Kongresses aus der Sowjetunion hinaus und entschloss sich, innerhalb der Kommunistischen Partei für diese Positionen zu kämpfen. Unterstützt von zwei weiteren Mitgliedern der Kommunistischen Partei, Max Shachtman und Martin Abern, erklärte Cannon seine Unterstützung für Trotzkis Position. Aber in der amerikanischen Kommunistischen Partei waren Diskussionen nicht erlaubt. Cannon, Shachtman und Abern wurden eiligst angeklagt und aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossen.
In der ersten Ausgabe der Zeitung »The Militant«, die Trotzkis aus der Kommunistischen Partei ausgeschlossene Anhänger als ihr Sprachrohr herausgaben, erklärte James P. Cannon in einem Brief:
Der Kampf in den letzten fünf Jahren drehte sich um die lebendigen Fragen unserer Zeit. Wir haben alle Materialien, die wir bekommen konnten, sehr objektiv studiert – und trotz unserer vorherigen Vorurteile sie nicht beiseitegelegt – und sind der absoluten Überzeugung, dass in all diesen grundlegenden Fragen unserer Zeit, den Fragen, um die sich das ganze Leben und die Zukunft der internationalen kommunistischen Bewegung drehen – Trotzki in allen wichtigen Punkten Recht hatte und derjenige ist, der den Leninismus wirklich verteidigt.[9]
Im Oktober 1938, sechs Wochen nach der Gründung der Vierten Internationale, erklärte Trotzki in einer auf Tonband festgehaltenen Rede:
Man muss festhalten, dass die Geburt der amerikanischen Gruppe von Bolschewiki-Leninisten, die der mutigen Initiative der Genossen Cannon, Shachtman und Abern zu verdanken ist, nicht allein dasteht. Sie fiel in etwa mit dem Beginn der systematischen internationalen Arbeit der Linken Opposition zusammen. In Russland entstand die Linke Opoosition zwar schon 1923, aber auf internationaler Ebene begann ihre regelmäßige Arbeit mit dem sechsten Kongress der Komintern.[10]
Vladimir I. Lenin, Collected Works, 2nd English Edition, Moskau 1965, Band 33, S. 460–461. Aus dem Englischen übersetzt, Hervorhebung hinzugefügt. Die deutsche Ausgabe in Band 33 der Werke, veröffentlicht durch die Stalinisten in der DDR, enthält nur den ersten Satz des Briefs.
Leo Trotzki, Die wirkliche Lage in Russland, Dresden 1928, S. 230.
Ebd., S. 238.
Ebd., S. 239.
»Dialektik ist die Lehre, wie die Gegensätze identisch sein können und es sind (wie sie es werden) – unter welchen Bedingungen sie identisch sind, indem sie sich ineinander verwandeln –, warum der menschliche Verstand diese Gegensätze nicht als tote, erstarrte, sondern als lebendige, bedingte, bewegliche, sich ineinander verwandelnde auffassen soll. En lisant Hegel …« Wladimir I. Lenin, Werke, Band 38, Berlin 1973, S. 99.
Leo Trotzki, Die permanente Revolution, Essen 2021, S. 262.
Ebd., S. 266.
Ebd., S. 264–265.
James P. Cannon, The Left Opposition in the US 1928-31, New York 1981, S. 43.
Writings of Leon Trotsky 1938-39, New York 1974, S. 85.