Die jüngsten Aussagen zweier Polizeibeamter im NSU-Prozess legen nahe, dass der Geheimdienstmitarbeiter Andreas Temme möglicherweise in den Mord an Halit Yozgat verwickelt war. Der hessische Verfassungsschutz leugnet das, sperrt Informationen und verhindert Zeugenaussagen.
Die beiden Polizeibeamten Helmut W. und Jörg T. sagten am vergangenen Mittwoch im Münchener NSU-Prozess zum neunten der mutmaßlich zehn NSU-Morde aus. Das Opfer war der 21-jährige Halit Yozgat, der am 6. April 2006 in dem Internet-Café in Kassel erschossen worden war, das er gemeinsam mit seinem Vater betrieb.
Andreas Temme, V-Mann-Führer des hessischen Verfassungsschutzes, hielt sich zum Tatzeitpunkt höchstwahrscheinlich im Internet-Café auf. Der Polizei war er aufgefallen, weil er sich trotz Zeugenaufrufen nicht meldete, sondern erst mühsam ermittelt werden musste. Schon damals geriet Temme in den Verdacht, etwas mit der Tat zu tun zu haben. Obwohl der Mord an Yozgat während seiner Anwesenheit begangen worden sein musste und Temme die Leiche kaum übersehen konnte, leugnet er bis heute, von der Tat irgendetwas mitbekommen zu haben.
Temme besteht darauf, er sei aus privaten Gründen und nur zufällig im Internet-Café gewesen. Angeblich chattete er dort auf Kontakt- und Datingbörsen mit Frauen. Dies wollte er vor seiner Ehefrau geheim halten. Doch die Untersuchung seines Laptops, den er mutmaßlich zuhause in der gemeinsamen Wohnung nutzte, ergab, dass er auch damit regelmäßig in verschiedenen einschlägigen Börsen chattete, auch nach dem Mord in Kassel.
Dies berichten Stefan Aust und Dirk Laabs in ihrem Buch Heimatschutz – Der Staat und die Mordserie des NSU, das sich vor allem auf die Auswertung der unterschiedlichen parlamentarischen Untersuchungsausschüsse stützt. „Dass er Angst gehabt habe, von seiner Frau entdeckt zu werden, und deswegen im Internetcafé saß, kann einfach nicht sein.“
Aust und Laabs berichten, dass Temme einem der V-Männer die er leitete, namens Benjamin Gärtner, auch einmal vorschlug, sich in diesem Internet-Café zu treffen. Er selbst war dort Stammgast. Gärtner, der aus der rechtsextremen Szene stammte, lehnte aber ab, weil der „Besitzer ein Türke war“. Der Kontakt Temmes mit seinem Spitzel ist nur unvollständig öffentlich geworden. Doch hatte er noch rund 50 Minuten vor dem Mord an Halit Yozgat länger mit Gärtner telefoniert, der in der Stadt war. Worüber die beiden sich elf Minuten unterhalten haben, wollen beide nicht mehr wissen.
Im Verlauf seiner Vernehmungen zum Mord an Halt Yozgat wechselte Temme häufig seine Linie. Inzwischen beharrt er auf folgender Version: Nach dem Ausloggen seines PCs ging er zum Empfangsraum des Cafés. Er will Yozgat dort nicht gesehen haben und ging daher kurz hinaus auf die Straße, um sich umzuschauen. Dann betrat er wieder das Internet-Café und legte ein 50-Cent-Stück auf den Schreibtisch, auf dem die Ermittler später Blutspuren fanden,.
Der 1,86 Meter große Temme will auch jetzt das Opfer, das direkt hinter dem Tisch gefunden wurde, nicht gesehen haben. Eine Rekonstruktion des Mordes durch die ermittelnde Polizei ergab, dass er vom Zeitpunkt der Beendigung des Surfens bis zum Einsteigen in sein Auto 65 Sekunden benötigt hätte. Danach verblieben 41 Sekunden bis ein Zeuge sein Telefonat in einer der Telefonboxen beendete und Sekunden später den Toten fand.
Wenn es so war wie Temme beschreibt, muss in diesen 41 Sekunden Halit Yozgat wieder den Empfangsraum betreten und sich auf seinen Stuhl gesetzt haben. Die Täter, mutmaßlich Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt, müssen anschließend ins Internet-Café gekommen sein, den jungen Mann kaltblütig erschossen und den Tatort wieder verlassen haben.
Im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht München äußerte sich der damalige Chef der Mordkommission Helmut W. in Kassel in der letzten Woche skeptisch über die Aussagen von Temme. So wie dieser den Ablauf geschildert habe, „halte ich das für unwahrscheinlich“, erklärte der Ermittler vor Gericht. Er und seine Kollegen hatten 2006 zwei Varianten für denkbar gehalten. Entweder hatte Temme etwas von der Tat mitbekommen, verschweige dies aber. Oder Temme hatte etwas mit der Tat zu tun.
So brachten die beiden Polizisten nun auch ein weiteres Detail auf. Am Montag nach der Tat habe er in einem Gespräch mit einer Kollegin beim Verfassungsschutz das Modell der Pistole beschrieben, die bei dem Mord verwendet wurde. Es habe sich um eine Ceska 83 gehandelt, wie auch schon bei den (damals noch so genannten) „Döner-Morden“.
Temme hatte bislang stets behauptet, die Information irgendwo gelesen zu haben. Tatsächlich aber berichteten die Medien erst am Nachmittag desselben Tages über die Tatwaffe. Wie die beiden Polizeibeamten jetzt übereinstimmend im Prozess aussagten, konnte Temme die Information auch nicht von Seiten der Polizei erhalten haben. Zwar sei er an dem besagten Montag bei der Polizei vorstellig geworden, doch das Gespräch mit seiner Geheimdienstkollegin habe bereits kurz zuvor stattgefunden. Diese Aussage wiederum deckt sich mit einem Vermerk über Temmes Besuche aus dem Jahr 2006.
Temme selbst beharrt inzwischen darauf, zunächst bei der Polizei gewesen, dort die Information über die Tatwaffe erhalten zu haben und dann seiner Kollegin darüber berichtet zu haben. Er ist der einzige, der diese Version des Geschehens verteidigt.
Die offensichtlichen Widersprüche und wiederholten Änderungen in den Aussagen des Verfassungsschutzmitarbeiters Temme, beschäftigen seit 2006 die ermittelnden Polizeibehörden. Es könne dafür nur zwei Gründe geben, sagte der Nebenklage-Anwalt Thomas Bliwier gegenüber dem Hessischen Rundfunk. Temme müsse nicht nur die Leiche von Yozgat gesehen haben. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass Temme Täter- oder Tatwissen habe. „Er ist als Täter verstrickt oder hat Beobachtungen gemacht, die er nicht kundtut“, erklärte der Anwalt.
Inwieweit der Verfassungsschützer Temme direkt an der Tat beteiligt war, ob Mundlos und Böhnhardt überhaupt am Tatort waren, all das ist unklar – nicht zuletzt, weil seine Vorgesetzten und die gesamte Geheimdienstbehörde Temme schützen.
Schon die Einstellung Temmes vor mehr als 20 Jahren beim Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) in Hessen erscheint seltsam. In seinem Heimatdorf soll er laut Aussage eines Polizisten früher „Klein Adolf“ genannt worden sein. Als er zum Geheimdienst stieß, war er Mitglied im Schützenverein, aus dem er erst kurz nach dem Kasseler NSU-Mord austrat, sowie in einem Motorradclub. Über seine dortige Mitgliedschaft lernte er den Chef der „Hells Angels“ in Kassel kennen. Dennoch stieg er beim LfV Hessen vom Observierer zum V-Mann-Führer auf.
Nach dem Kasseler NSU-Mord fand die Polizei bei Hausdurchsuchungen bei Temme eine Reihe von Nazi-Literatur und Abschriften von Hitlers „Mein Kampf“; die inzwischen vernichtet worden sind. Auch drei Pistolen und einen Revolver besaß Temme, dazu einen Baseballschläger, Schlagstöcke und beidseitig geschliffene Messer.
Von seiner Behörde genoss er dennoch volle Unterstützung. Die Ermittlungen der Polizei gegen Temme stießen auf vielfältige Schwierigkeiten. Akten wurden geschwärzt (z.B. die von seinem V-Mann Gärtner), Aussagen verweigert usw.
Die Polizei forderte, die V-Männer Temmes verhören zu können. Neben Gärtner hatte er noch fünf V-Männer im Bereich „Islamismus“ geführt. Der damalige Geheimschutzbeauftragte des Hessischen Verfassungsschutzes, ein Mann namens Hess, lehnte dies genauso ab, wie die Einsicht in die Sicherheitsakte Temmes selbst sowie seine dienstlichen Erklärungen zu seinem Besuch im Internetcafé.
Als sich die Polizei an das hessische Innenministerium wandte, um die V-Männer Temmes direkt zu befragen, lehnt der damalige Innenminister und heutige Ministerpräsident des Landes Volker Bouffier (CDU) dies ab.
Disziplinarrechtlich wird Temme erst zwei Tage bevor ein erster Bericht über ihn in der Zeitung steht, belangt – über vier Monate nach dem Mord an Halit Yozgat. Inzwischen ist das Verfahren eingestellt, Temme sitzt im Innendienst und bezieht weiter seinen Beamtensold.
Obwohl der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages und auch der NSU-Prozess in München bestrebt sind, die Verwicklung der Geheimdienste in die Morde des NSU nicht zu thematisieren, wird mit zunehmender Prozessdauer genau dies immer deutlicher.
Die Vernichtung hunderter Akten, Aussageverweigerung, Gedächtnislücken, mysteriöse Todesfälle, und anderes mehr, sollen die direkte Beteiligung des Staates an den NSU-Morden vertuschen. Die Verfassungsschutzämter agieren wie ein Staat im Staate, der sich jeglicher demokratischer Kontrolle und juristischer Verfolgung entzieht.