Zwischen Großbritannien und der Europäischen Union sind wegen des Nordirland-Protokolls erneut politische Feindseligkeiten ausgebrochen.
Das Protokoll, das im Rahmen des Brexit-Deals von Anfang 2020 ausgehandelt wurde, regelt den Warenverkehr zwischen Großbritannien und den EU-Wirtschaftsgebieten. Eine feste Grenze oder eine umfangreiche Grenzinfrastruktur zwischen Nordirland und der Republik Irland, einem EU-Mitgliedsstaat, würde das Karfreitagsabkommen gefährden, mit dem 1998 der jahrzehntelange bewaffnete Konflikt im Norden beendet wurde.
Gemäß dem Abkommen bleibt Nordirland im Europäischen Binnenmarkt, aus dem sich der Rest Großbritanniens zurückgezogen hat. Die EU führt ihre Produktinspektionen und Zollkontrollen bei Gütern aus Großbritannien in nordirischen Häfen durch, nachdem sie die Irische See durchquert haben, danach können sie frei durch ganz Irland befördert werden. Große Teile der Tories und der nordirischen Democratic Unionist Party (DUP) reagierten darauf mit Ablehnung und der Klage, damit würde faktisch eine Grenze durch die Irische See errichtet.
Premierminister Boris Johnson hatte das Abkommen 2019 während der Parlamentswahlen als Mittel dargestellt, „den Brexit über die Bühne zu bringen“. Seither gehen jedoch die feindseligen Auseinandersetzungen weiter. Anfang 2021 drohten beide Seiten, das Abkommen scheitern zu lassen. Die EU hatte kurzzeitig Artikel 16 in Kraft gesetzt, was es einer der beiden Parteien erlaubt, Teile des Abkommens einseitig auszusetzen.
Darauffolgende Gespräche, die die Situation entschärfen sollten, haben die nationalen Spannungen zwischen Großbritannien und der EU nur noch weiter zutage treten lassen. Gleichzeitig haben auch die Spannungen innerhalb der Europäischen Union zugenommen.
Der britische Brexit-Minister Lord Frost forderte die Annullierung des Protokolls und die Abschaffung aller Zollkontrollen zwischen Großbritannien und Nordirland, sodass ein uneingeschränkter Warenverkehr möglich ist, sofern die Güter britischen oder EU-Vorschriften entsprechen. Er will außerdem, dass der Europäische Gerichtshof (EuGH) bei künftigen Schiedsverfahren über das Abkommen nicht mehr beteiligt ist, und forderte „internationale Schiedsverfahren statt eines Systems auf der Grundlage europäischer Gesetze, die letzten Endes vor dem Europäischen Gerichtshof, d.h. dem Gericht einer der Parteien, durchgesetzt werden“.
Am Mittwoch bot der Brexit-Chefunterhändler der EU, Maroš Šefčovič, eine Reihe von Zugeständnissen an die Position Großbritanniens an, darunter Maßnahmen zur Reduzierung von Kontrollen britischer Einzelhandelsgüter um 80 Prozent, die Halbierung der Zollformalitäten, die Aussetzung der Vorgabe für Medikamentenhersteller, aus Nordirland nach Großbritannien umsiedeln zu müssen und die Bereinigung des Zertifizierungsprozesses für Frachtverkehr auf der Straße. Er erklärte, die EU habe „die Regeln völlig auf den Kopf gestellt und ins Gegenteil verkehrt“, um zu einer Einigung zu kommen. Er betonte: „Es ist eindeutig, dass wir ohne die Kontrolle des EuGH keinen Zugang zum Binnenmarkt haben können.“
Die Gespräche über die Vorschläge der EU werden höchstens drei Wochen dauern. Einige Kommentatoren schlugen vor, einen Vertrag wie den mit der Schweiz als möglichen endgültigen Kompromiss anzunehmen. Streitigkeiten zwischen der Schweiz und der EU werden von einem unabhängigen Schlichtungsgremium geregelt, das jedoch die Positionen des EuGH in Fragen des EU-Rechts berücksichtigen muss. Doch die Kommentare deuten darauf hin, dass Großbritannien „den Mond“ fordern wird, wie es ein EU-Diplomat gegenüber der Financial Times (FT) formulierte.
Am Mittwoch, dem gleichen Tag, an dem Šefčovič seine Vorschläge ankündigte, twitterte Johnsons ehemaliger Chefberater und derzeitiger politischer Gegner, Dominic Cummings, die Regierung habe den Brexit-Deal unterzeichnet und geplant „die Teile zu streichen, die wir nicht mögen, nachdem wir [den damaligen Labour-Parteichef Jeremy] Corbyn [in der Wahl 2019] geschlagen haben. ... Unsere Prioritäten bedeuteten: den Brexit durchzuziehen ist 10000-mal wichtiger als das Gequatsche von Anwälten über das Völkerrecht in Verhandlungen mit Leuten, die [das Völkerrecht] andauernd brechen.“
Cummings' Schilderung wurde später von dem führenden DUP-Abgeordneten Ian Paisley bestätigt, der in der BBC-Sendung Newsnight erklärte: „Boris Johnson hat mir persönlich erklärt, er werde dem Protokoll zustimmen und dann Änderungen fordern und es zerstückeln. Es gehe nur um die Semantik.“
Frost gab kryptisch zu, dass Großbritannien der Aufsicht des EuGH über das Protokoll nur wegen der „sehr spezifischen Umstände bei diesen Verhandlungen“ zugestimmt hat.
Die europäischen Staaten bereiten sich bereits auf einen Handelskrieg mit Großbritannien vor, falls das Land die Vorschläge der EU ablehnt und Artikel 16 in Kraft setzt. Laut der FT trafen sich Abgesandte von Frankreich, Deutschland, den Niederlanden, Italien und Spanien am Montag mit Šefčovič, um Notfallpläne zu fordern. Im Gespräch sind u.a. Zölle auf britische Exporte, Einschränkungen des Zugangs Großbritanniens zu den europäischen Energiereserven und die Beendigung des Handelsabkommens zwischen den beiden Parteien.
Ein EU-Diplomat erklärte gegenüber der FT: „Frost weiß, dass er mit dem Feuer spielt. Aber wenn man mit dem Feuer spielt, verbrennt man sich. Die EU hat eine breite Palette von Möglichkeiten, wie sie es Großbritannien heimzahlen kann.“
Der Kolumnist Nick Timothy sprach im Daily Telegraph am offensten aus, warum Großbritannien einen Konflikt mit der EU heraufprovoziert. Er warf der EU vor, „in der Frage des Nordirland-Protokolls mit dem Feuer zu spielen... Das Thema ist... Souveränität. Die Regierung darf nicht zulassen, dass der Europäische Gerichtshof für das Nordirland-Protokoll zuständig ist.“
Die britische Regierung hält „Souveränität“ für das Druckmittel, mit dem sie die EU erfolgreich bekämpfen kann, weil das polnische Verfassungsgericht letzte Woche entschieden hat, dass Teile des EU-Rechts „unvereinbar“ mit der polnischen Verfassung sind und damit das grundlegende Primat des EU-Rechts innerhalb der Union ausgehebelt hat. Polen wurde unterstützt von Ungarn, das ebenfalls seit langem mit der EU um Gesetze streitet, die die Beachtung des Rechtsstaats zur Grundlage für europäische Subventionen machen.
Die britische Brexit-Presse hat außerdem die jüngsten Äußerungen des ehemaligen Brexit-Chefunterhändlers der EU, Michel Barnier, groß aufgemacht. Barnier tritt jetzt mit einem extrem flüchtlingsfeindlichen Programm zur französischen Präsidentschaftswahl an und fordert, Frankreich müsse seine „gesetzliche Souveränität“ zurückgewinnen. Dazu müsse es die Gefahr einer „Entscheidung oder Verurteilung auf der Ebene des Europäischen Gerichtshofs oder der Europäischen Menschenrechtskonvention“ loswerden.
Beim Parteitag der Tories letzte Woche höhnte Johnson: „Das passiert, wenn man ein Jahr lang versucht, mit Lord Frost zu streiten.“
Diese Ereignisse bestätigen die Analyse der Socialist Equality Party, dass im Brexit „am klarsten zum Ausdruck kommt, dass Europa von zentrifugalen Kräften zerrissen wird. Nicht nur seine Konflikte mit den USA nehmen zu, sondern auch die Gegensätze zwischen den europäischen Staaten selbst.“
Die Johnson-Regierung identifiziert sich mit dieser Entwicklung. Sie hofft, den Brexit nutzen zu können, um eine Spitzenposition unter den europäischen Staaten einzunehmen, die in zunehmendem Maße unabhängige Wege einschlagen – entweder innerhalb oder außerhalb einer paralysierten EU. Der führende Brexit-Abgeordnete Sir Ian Duncan Smith zitierte am Donnerstag im Telegraph Lord Palmerston mit den Worten: „Wir haben keine ewigen Verbündeten, und wir haben keine dauerhaften Feinde. Unsere Interessen sind ewig und dauerhaft, und es ist unsere Pflicht, diese Interessen zu verfolgen.“
Von zentraler Bedeutung dabei ist die Inszenierung Großbritanniens als sklavisch verlässlicher Verbündeter der USA. Doch dieser Kurs birgt viele Unsicherheiten. Die Brexit-Politik der herrschenden Klasse wurde durch die Präsidentschaft Donald Trumps angefacht, der kein Geheimnis aus seiner Feindseligkeit gegenüber den europäischen Großmächten machte, vor allem gegenüber Deutschland und Frankreich. Unter Präsident Joe Biden sind die USA zu einer subtileren Herangehensweise übergegangen.
Das Militärbündnis AUKUS, das die USA, Großbritannien und Australien im September abgeschlossen haben und in dessen Rahmen Canberra von einem Kaufvertrag über französische U-Boote zurückgetreten ist, hat Johnsons Stellung in Washington gestärkt. Doch Biden hat immer wieder erklärt, dass seine Regierung entschlossen auf jeden Schritt Großbritanniens reagieren wird, der das Karfreitagsabkommen gefährden könnte. Biden ist außerdem entschlossener als Trump, im eskalierenden Konflikt mit China die Unterstützung Europas zu gewinnen.
Das Ergebnis der Auseinandersetzung um das Nordirland-Protokoll hängt deshalb von Kalkulationen ab, die im Zusammenhang mit den zunehmend fieberhaft geführten Kriegsvorbereitungen im asiatischen Pazifik stehen. Zusammen drohen diese geopolitischen Spannungen eine Explosion von Handels- und militärischen Konflikten auszulösen. Im Rahmen der imperialistischen Politik gibt es dafür jedoch keine Lösung. Sie können nur durch die Entwicklung einer vereinten sozialistischen Bewegung der europäischen und internationalen Arbeiterklasse gegen Nationalismus, Krieg und den Vorrang von Profitstreben über Menschenleben bekämpft werden.
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