Die Sendung „Zeitzeichen“ des Westdeutschen Rundfunks, die täglich an ein historisches Ereignis erinnert, befasste sich am 24. Juli mit der Ankunft Leo Trotzkis in Frankreich vor 90 Jahren. Der russische Revolutionär und sozialistische Gegner Stalins war 1929 von Stalin aus der Sowjetunion ausgewiesen worden und hatte vier Jahre auf der türkischen Insel Prinkipo verbracht, bevor es ihm gelang, ein Visum für Frankreich zu erhalten. Zwei Jahre später musste er Frankreich wieder verlassen, erst nach Norwegen und dann nach Mexiko.
Der WDR-Beitrag ist ein gehässiger Angriff auf Trotzki – ein Amalgam aus Beschimpfungen, Lügen, Halbwahrheiten und Auslassungen. Die Verleumdungen sind derart plump, dass sie nicht Trotzki, sondern die Autoren der Sendung diskreditieren. Soweit Trotzki selbst zu Wort kommt oder die Sendung historische Tatsachen erwähnt, tritt er als positive und anziehende Person hervor – im Gegensatz zu den bösartigen Kommentaren.
So wird eine Rede Trotzkis im englischen Originalton (hier die Youtube-Version) eingespielt, in der er sich beim mexikanischen Volk dafür bedankt, dass ihm das Land Asyl gewährte und – im Gegensatz zu den europäischen Regierungen – die Möglichkeit bot, sich gegen die Verleumdungen der Moskauer Schauprozesse zu verteidigen:
Werte Zuhörer, sie werden verstehen, dass ich meine kurze Ansprache in meinem sehr unvollkommenen Englisch mit einem Dank an das mexikanische Volk beginne. Als Unholde auf absurde Weise meine Familie bedrohten, als meine Frau und ich uns nicht mehr selbst verteidigen konnten, hat die mexikanische Regierung die Türen zu diesem wundervollen Land geöffnet und uns gesagt, hier können sie ihre Rechte und ihre Ehre frei verteidigen.
Auch ein Originalzitat aus der berühmten Kopenhagener Rede von 1932 ist zu hören, in dem Trotzki in deutscher Sprache die Rechtmäßigkeit der Oktoberrevolution von 1917 begründet, die er gemeinsam mit Lenin anführte:
Die Tatsache, dass das Proletariat in einem der zurückgebliebensten Ländern Europas zuerst zur Macht gekommen ist, scheint auf den ersten Blick ganz rätselhaft. Dies ist aber nichtsdestoweniger vollständig gesetzmäßig. Diese Erklärung hat Lenin in einer prägnanten Formel gegeben: „Die Kette ist an ihrem schwächsten Glied zerrissen.“
Zwei andere Stellen lassen erahnen, welch gewaltige Unterstützung Trotzki, die von ihm geführte Linke Opposition und die 1938 gegründete Vierte Internationale in der Sowjetunion und international besaßen.
Ein Zitat von Trotzkis Frau Natalja Sedowa (es stammt aus Trotzkis Autobiografie „Mein Leben“) schildert die Szenen an einem Moskauer Bahnhof, als Trotzki im Januar 1928 aus Moskau abgeschoben und in die Verbannung nach Alma Ata geschickt wurde:
Die Demonstranten liefen vor die Lokomotive, klammerten sich an die Waggons, hielten den Zug an und riefen nach Trotzki. … Auf dem Bahnhof herrschte eine unbeschreibliche Aufregung. Es kam zu Zusammenstößen mit der Miliz und den Agenten der [stalinistischen Geheimpolizei] GPU, auf beiden Seiten gab es Verletzte; Verhaftungen wurden vorgenommen. Der Zug konnte anderthalb Stunden nicht abfahren.
Und gegen Ende der Sendung wird erwähnt, dass 300.000 Menschen sich zur Trotzkis Beerdigung in Mexiko-Stadt versammelten, nachdem dieser am 21. August 1940 dem Anschlag eines stalinistischen Agenten erlegen war.
Baberowski
Der Rest der Sendung steht in unvereinbarem Gegensatz zu diesen Szenen. Als Experten für die Beschimpfung Trotzkis haben der Autor Heiner Wember und die Redakteurin Gesa Rünker, die die stellvertretende Vorsitzende von Verdi/WDR ist, Jörg Baberowski angeheuert. Er kommt in dem 15-minütigen Beitrag ausführlich zu Wort. Baberowski leitet den Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas an der Berliner Humboldt-Universität und darf laut Gerichtsbeschluss als „Rechtsradikaler“ und als „Geschichtsfälscher“ bezeichnet werden.
Baberowski hatte schon als Schüler Trotzki verleumdet. Als Mitglied des maoistischen KBW rechtfertigte er die Moskauer Schauprozesse und Stalins Großen Terror, denen Ende der 1930er Jahre Hunderttausende Trotzkisten, Sozialisten, Intellektuelle, Ingenieure und Arbeiter zum Opfer gefallen waren, und sammelte Geld für den kambodschanischen Massenmörder Pol Pot. Seither hat er die politischen Vorzeichen geändert: aus dem Stalinisten ist ein glühender Antikommunist und Hitler-Apologet geworden. Aber Baberowskis Haltung zu Trotzki ist dieselbe geblieben.
2014 lud er den britischen Historiker Robert Service an die Humboldt-Universität ein, um für dessen Trotzki-Biografie zu werben, die von internationalen Experten als „zusammengeschustertes Machwerk“ verurteilt worden war. Der Chefredakteur der World Socialist Web Site, David North, hatte Service dutzende Fälschungen nachgewiesen und gefolgert, sein Buch sei nicht Geschichtsschreibung, sondern Rufmord. Die renommierte Fachzeitschrift The American Historical Review hatte diese Einschätzung in vollem Umfang bestätigt; das Buch missachte „die elementarsten Regeln der Geschichtswissenschaft“, befand Bertrand M. Patenaude.
14 Historiker, Politikwissenschaftler und Publizisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz hatten sich in einem Offenen Brief gegen die Veröffentlichung von Services Machwerk im Suhrkamp Verlag gewandt. Prof. Dr. Hermann Weber, Doyen der Kommunismus- und Stalinismusforschung, bezeichnete es als „eine Schmähschrift und keine wissenschaftlich-kritische Streitschrift“. Es sei „insgesamt völlig tendenziös geschrieben“ und strotze „von gezielten Falschdarstellungen und Verdrehungen“.
Darauf lud Baberowski Service nach Berlin ein. Um zu verhindern, dass ihm kritische Fragen gestellt wurden, verlegte er die Veranstaltung an einen geheimen Ort und verwehrte Kritikern, darunter David North und Studierenden der eigenen Fakultät, mit einem Wachschutz den Zugang.
Dass sich der WDR nun entschieden hat, diesen professionellen Trotzki-Hasser und Rechtsradikalen als „Experten“ einzuladen, ist kein Zufall. Baberowski wurde ausgewählt, um den Rufmord an Trotzki fortsetzen. Er bemühte sich nach Kräften, diesen Auftrag zu erfüllen – und das auf dem primitivsten intellektuellen Niveau.
„Trotzki war ein rücksichtsloser Gewalttäter, der vor keiner Gewalt zurückschreckte,“ hetzt Baberowski. Er war „kalt und ohne eine Spur von Menschlichkeit“. Er war im Bürgerkrieg „erfolgreich, weil er skrupellos war“.
Das behauptet ein Mann, der Adolf Hitler öffentlich bescheinigte, er sei „nicht grausam“ gewesen und habe als „Schreibtischtäter von den blutigen Folgen seiner Taten nichts wissen“ wollen; der öffentlich erklärte, man solle die Finger vom Kampf gegen Terroristen lassen, wenn man nicht bereit sei, „Geiseln zu nehmen, Dörfer niederzubrennen und Menschen aufzuhängen und Furcht und Schrecken zu verbreiten, wie es die Terroristen tun“; der an der Humboldt-Universität einen trotzkistischen Abgeordneten des Studierendenparlaments tätlich angriff, eigenhändig Wahlplakate abriss und deshalb gerichtlich zur Zahlung von 4000 Euro für die Einstellung eines Verfahrens wegen Körperverletzung und Sachbeschädigung verpflichtet wurde; der in rechtsradikalen Kreisen verkehrt und die Verbrechen der Nazis verharmlost.
Baberowski ist ein Gegner von Gewalt, wenn sie der Revolution und – wie im russischen Bürgerkrieg – dem Kampf gegen die Konterrevolution dient. Geht es dagegen um faschistische Gewalt oder um staatlichen Terror, ist Baberowski ganz anderer Meinung. Dann ist es gerechtfertigt, „Geiseln zu nehmen, Dörfer niederzubrennen und Menschen aufzuhängen“.
Unter dem Kommando Trotzkis hatte die Rote Armee mehrere imperialistische Invasionsarmeen und die Truppen der Weißen besiegt, die von berüchtigten Schlächtern und Antisemiten geführt wurden. Sie verhinderte damit den Rückfall Russlands in die vorrevolutionäre Despotie und Barbarei.
Trotzki selbst hat nie ein Hehl daraus gemacht, dass der Bürgerkrieg Härte verlangte. „Man kann eine Armee nicht ohne Repressalien aufbauen. Man kann nicht Menschenmassen in den Tod führen, ohne im Arsenal des Kommandos die Todesstrafe zu haben,“ schrieb er in „Mein Leben“. Dass er die Erschießung von Geiseln befahl und ihrer Hinrichtung persönlich beiwohnte, wie Baberowski im WDR-Beitrag behauptet, ist allerdings eine üble Verleumdung.
Für die „moralisierenden Philister“, die das Verhalten der Revolution nach denselben abstrakten moralischen Maßstäben maßen wie das der Reaktion, hatte Trotzki nur Verachtung übrig: „Mögen verächtliche Eunuchen nicht erzählen, der Sklavenbesitzer, der durch List und Gewalt den Sklaven in Ketten hält, und der Sklave, der durch List oder Gewalt die Ketten zerbricht, seien vor dem Gericht der Moral gleich,“ schrieb er 1938 in „Ihre Moral und unsere“.
Baberowskis Gegeifer gegen Trotzki nimmt teilweise bizarre Züge an. So behauptet er, der Panzerzug, den Trotzki in dem riesigen Land als mobile Kommandozentrale zwischen den Fronten nutzte, habe in Wirklichkeit der „Inszenierung der Macht“ gedient und „Gewalt und Macht“ ausgestrahlt: „Das war wichtig, dass der Oberbefehlshaber so auftrat und nicht anders.“ Oder er erklärt, Lew Dawidowitsch Bronstein habe den Parteinamen Trotzki angenommen, „um abhauen zu können, um verschwinden zu können“ – als wäre die Flucht aus der zaristischen Gefangenschaft ein verwerflicher Akt.
Den Konflikt zwischen Stalinismus und Trotzkismus stellt Baberowski als Kampf zweier Individuen dar, „die alle Macht für sich wollten“. Das ist ein Hohn auf jede wissenschaftliche Geschichtsbetrachtung. Als könnte man eine politische Auseinandersetzung, die Jahrzehnte dauerte, Hunderttausende involvierte, unzählige Menschenleben kostete und das Schicksal der Arbeiterklasse in Ländern wie China, Deutschland, Frankreich und Spanien entschied, aus den persönlichen Ambitionen zweier Individuen erklären!
Trotzki und die Linke Opposition verkörperten die historischen Interessen der internationalen Arbeiterklasse; sie verteidigten das Programm der sozialistischen Weltrevolution, das der Oktoberrevolution zum Sieg verholfen hatte und der Kommunistischen Internationale zugrunde lag. Stalin vertrat die Interessen der parasitären Bürokratie, die in der Sowjetunion die Macht an sich gerissen hatte, den Druck des Imperialismus auf den isolierten Arbeiterstaat verkörperte und auch international eine konterrevolutionäre Rolle spielte. Stalins nationalistisches Programm des „Sozialismus in einem Land“ stand in diametralem Gegensatz zu Trotzkis Programm der „permanenten Revolution“.
Baberowski Sympathien in diesem Kampf liegen uneingeschränkt auf der Seite Stalins, des Diktators und Massenmörders, den er immer wieder positiv gegen Trotzki hervorhebt:
Stalin war der Pragmatiker unter den Bolschewiki, weil er verstand, dass er das Imperium auf eine Grundlage stellen musste. Es war im völlig klar, dass er da nicht mit utopischen Vorstellungen operieren konnte. Deshalb der Sozialismus in einem Land und Aufgabe der Weltrevolution.
Trotzki habe zwar Leute begeistern können, behauptet Baberowski, sei aber „nicht teamfähig“ gewesen. „Stalin war teamfähig. Der konnte Leute manipulieren, benutzen und ihnen das Gefühl geben, dass er sie respektiert und auf Augenhöhe behandelt. Trotzki konnte das nicht, weil er sich stets für den Größten hielt.“
Welch ein Hohn auf die Wirklichkeit! Stalin, der seine Herrschaft mittels Intrigen, Geheimdienst und Terror sicherte, war für seine einsamen Beschlüsse berüchtigt, was gegen Ende seines Lebens paranoide Züge annahm. Trotzki, der nach seinem Ausschluss aus der Partei über keine staatlichen Machtmittel mehr verfügte, sammelte dagegen weltweit tausende loyale Gesinnungsgenossen um sich.
Auch antisemitische Motive bringt Baberowski ins Spiel. Er unterstellt Trotzki den zynischen Satz: „Die Trotzkis machen die Revolution und die Bronsteins werden sie ausbaden.“ In Wirklichkeit hat Trotzki nie etwas Derartiges gesagt. Der Satz, der die revolutionäre Tätigkeit nichtreligiöser Juden (Trotzki) für die konterrevolutionären Pogrome an der jüdischen Bevölkerung (Bronstein) verantwortlich macht, zirkulierte damals in religiösen jüdischen Kreisen, obwohl die Bolschewiki den Antisemitismus mit allen verfügbaren Mitteln bekämpften.
Die WDR-Sendung endet mit einer Szene aus Boris Pasternaks Roman „Doktor Schiwago“, in welcher der Kriegsherr Strelnikow (den der WDR mit Trotzki gleichsetzt) dem Poeten Schiwago erklärt, er könne seine Gedichte nicht mehr bewundern, weil sie „absurd persönlich“ seien und die Geschichte das Privatleben in Russland getötet habe. „Getötet auch von ihm, dem Revolutionär Leo Trotzki,“ ergänzt der WDR.
Welch abgrundtiefe Geschichtsfälschung! Trotzki war nicht nur ein herausragender marxistischer Theoretiker, revolutionärer Führer und Schriftsteller, er verfasste mit „Literatur und Revolution“ auch einen bedeutenden Beitrag zum marxistischen Kunstverständnis. Unter anderem unterzieht er die Doktrin der „proletarischen Kunst“, die später in den „sozialistischen Realismus“ der Stalin-Ära einfloss, einer beißenden Kritik. 1938 veröffentlichte er gemeinsam mit dem surrealistischen Schriftsteller André Breton und dem mexikanischen Maler Diego Rivera ein Manifest „Für eine unabhängige revolutionäre Kunst“.
Trotzkis Kampf gegen Hitler
Die WDR-Sendung denunziert Trotzkis Rolle in der Revolution und im Bürgerkrieg, verschweigt aber die politischen Umstände seines Eintreffens in Frankreich. Keine sechs Monate vorher hatte Hitler in Deutschland die Macht ergriffen; als Trotzki in Frankreich ankam, füllten sich die Konzentrationslager mit Kommunisten, Gewerkschaftern, Sozialdemokraten und bald auch mit Juden.
Trotzki hatte aus seinem türkischen Exil wie kein anderer vor der drohenden Katastrophe gewarnt und unermüdlich gegen die verhängnisvolle Politik der KPD und der SPD angekämpft, die die Arbeiterklasse spalteten und Hitler die kampflose Übernahme der Macht ermöglichte. Seine Schriften über Deutschland aus dieser Zeit, die zwei dicke Bände füllen, wurden von Zehntausenden gelesen und erweckten die Bewunderung so unterschiedlicher Personen wie Kurt Tucholsky und Bertold Brecht.
Trotzkis Ankunft in Frankreich ließ in Nazi-Deutschland die Alarmglocken schrillen. Hitler wusste so gut wie Goebbels, dass Trotzki und nicht Stalin die sozialistische Weltrevolution verkörperte, gegen die sich der Terror der Nazis richtete. Als der französische Botschafter Coulondre Hitler sechs Jahre später, kurz vor Kriegsbeginn, warnte, im Kriegsfall werde der wirkliche Sieger Trotzki sein, antwortete der Führer: „Ich weiß.“ „Diese Herren geben dem Gespenst der Revolution gern einen persönlichen Namen,“ kommentierte Trotzki diesen Dialog.
Baberowskis Hetze gegen Trotzki hätte in dieser Form 1933 auch im Völkischen Beobachter oder einem anderen Propagandaorgan Goebbels‘ erscheinen können. Das ist kein Zufall. Seit Baberowski vor neun Jahren im Spiegel erklärte, Hitler sei „nicht grausam“ gewesen, ist die Rehabilitierung der Nazi-Verbrechen weit vorangeschritten.
Schon damals fielen die Medien nicht über Baberowski, sondern über die Sozialistische Gleichheitspartei und ihre Jugendorganisation IYSSE her, die Baberowski kritisierten. Während zahlreiche Studierende und ihre Organisationen die IYSSE unterstützten, stellten sich die Professoren fast geschlossen hinter Baberowski. Mittlerweile sitzt die AfD im Bundestag und den Länderparlamenten, die Bundesregierung arbeitet in der Ukraine und im Baltikum mit Regierungen zusammen, die Nazi-Kollaborateuren Denkmäler errichten, und in Italien, Finnland, Schweden und Ungarn sitzen Rechtsextreme in der Regierung.
Die Rehabilitierung der Nazis und die Verleumdung Trotzkis sind zwei Seiten derselben Medaille. Jahrzehnte des Sozialabbaus und der wachsenden sozialen Ungleichheit setzen heftige Klassenkämpfe auf die Tagesordnung. Die Herrschenden reagieren darauf wie vor 90 Jahren mit Faschismus und Krieg. Sie fürchten, dass die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution, die Trotzki wie kein anderer im zwanzigsten Jahrhundert verkörperte, wieder Anklang unter Arbeitern und Jugendlichen findet. Auch diese Herren geben dem Gespenst der Revolution gern einen persönlichen Namen.