Wir veröffentlichen hier das Vorwort zum neuen Buch von David North, »Leo Trotzki und der Kampf für Sozialismus im 21. Jahrhundert«. David North leitet die internationale Redaktion der World Socialist Web Site und ist Vorsitzender der Socialist Equality Party in den USA.
Die deutsche Übersetzung ist im Februar 2024 im Mehring Verlag erschienen und hier erhältlich. Am 23. März 2024 um 12:00 Uhr wird das Buch auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt (Forum Sachbuch, Halle 5).
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Die in diesem Band zusammengestellten Texte entstanden über einen Zeitraum von 40 Jahren. Der erste Essay, »Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus«, wurde erstmals im Spätherbst 1982 veröffentlicht. Die Texte in den letzten beiden Kapiteln – ein Brief an eine neu gegründete Organisation junger Trotzkisten in Russland, der Ukraine und anderen Ländern der ehemaligen UdSSR und ein Aufruf zum 1. Mai – entstanden in den ersten Monaten des Jahres 2023.
Obwohl zwischen dem ersten und dem letzten Dokument viele Jahre liegen, sind sie durch einen zentralen Gedanken miteinander verbunden: dass Leo Trotzki in den ersten vier Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts die bedeutendste Figur in der Geschichte des Sozialismus war und sein Vermächtnis bis heute die unverzichtbare theoretische und politische Grundlage des fortdauernden Kampfs für den Sieg des Weltsozialismus bildet. Diese Einschätzung von Trotzkis Platz in der Geschichte und seiner bleibenden politischen Bedeutung wurde durch die Ereignisse der letzten 40 Jahre eindrucksvoll bestätigt.
Beginnen wir mit der Tatsache, dass Trotzkis Verurteilung des Stalinismus als konterrevolutionäre Kraft von der Geschichte bestätigt worden ist. Als der erste Essay in diesem Band geschrieben wurde, gab es noch die Sowjetunion und die mit ihr verbundenen stalinistischen Regime in Osteuropa. Die stalinistischen Parteien, die mit der Kremlbürokratie verbunden waren, brüsteten sich mit ihren Millionen Mitgliedern. Trotzkis Vorhersage, dass die stalinistische Bürokratie den Kapitalismus wiederherstellen und das verrottete Gebälk des Regimes unter dem Druck der nationalen wirtschaftlichen Autarkie, der Inkompetenz und der Lügen zusammenbrechen werde, wurde von den kleinbürgerlich-akademischen Apologeten des »real existierenden Sozialismus« als »trotzkistisches Sektierertum« oder gar als »antisowjetische Propaganda« abgetan.
»Leo Trotzki und die Entwicklung des Marxismus« entstand in den Monaten, in denen der langjährige und zunehmend senile Sowjetführer Leonid Breschnew von seinem Krankenbett in die Nekropole an der Kremlmauer auf dem Roten Platz wechselte. Die stalinistische Bürokratie übertrug ihre Loyalität zunächst auf Juri Andropow, dann auf Konstantin Tschernenko – die innerhalb von etwas mehr als zwei Jahren beide ihrem Vorgänger unter die Erde an der Kremlmauer folgten – und erkor schließlich im März 1985 Michail Gorbatschow zu ihrem Anführer.
Dieser versprach zwar eine neue Offenheit (»Glasnost«) für die sowjetische Geschichtsforschung, doch der Kampf Trotzkis gegen das stalinistische Regime wurde vom Kreml weiterhin als Verrat an der Oktoberrevolution angeprangert.
Noch im November 1987, als das stalinistische Regime auf seinen Zusammenbruch zusteuerte, verteidigte Gorbatschow in seiner Rede zum 70. Jahrestag der Oktoberrevolution Stalin und ritt eine giftige Attacke auf Trotzki. Doch die Gesetze der Geschichte waren, ganz wie Trotzki einst bemerkt hatte, stärker als selbst der mächtigste Generalsekretär.
Die einzige politische Tendenz, die voraussah und davor warnte, dass die Politik Gorbatschows auf die Auflösung der Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus abzielte, war das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI). Bereits im März 1987, inmitten der »Gorbimanie«, der weltweiten Huldigung des neuen sowjetischen Staatschefs, warnte das Internationale Komitee:
Die sogenannte »Reform«-Politik Gorbatschows stellt sowohl für die Arbeiterklasse in der Sowjetunion wie auch für die Arbeiter und unterdrückten Massen international eine unheilvolle Bedrohung dar. Sie gefährdet die historischen Errungenschaften der Oktoberrevolution und ist mit einer Vertiefung der konterrevolutionären Zusammenarbeit der Bürokratie mit dem Imperialismus im Weltmaßstab verbunden.[1]
Zwei Jahre später, 1989, schrieb ich in einer Analyse der Politik Gorbatschows mit dem Titel »Perestroika gegen Sozialismus«:
In den vergangenen drei Jahren hat Gorbatschow entscheidende Schritte zur Förderung des Privateigentums an den Produktionsmitteln unternommen. Die Bürokratie identifiziert ihre Interessen immer unverhüllter mit der Entwicklung sowjetischer Kooperativen, die völlig nach kapitalistischem Muster aufgebaut werden. In dem Maße, wie die Privilegien der Bürokratie nicht länger an das staatliche Eigentum gebunden sind, sondern in Gegensatz zu ihm geraten, muss sich auch ihr Verhältnis zum Imperialismus ändern. Das Hauptziel der sowjetischen Außenpolitik ist immer weniger die Verteidigung der UdSSR gegen imperialistische Angriffe, eher die Mobilisierung von imperialistischer – politischer und wirtschaftlicher – Unterstützung für die innenpolitischen Ziele der Perestroika, d. h. für die Entwicklung kapitalistischer Verhältnisse innerhalb der Sowjetunion. Die konterrevolutionäre Logik der stalinistischen Theorie vom Sozialismus in einem Land findet ihren letzten Ausdruck in der Entwicklung einer Außenpolitik, die darauf abzielt, das staatliche sowjetische Eigentum zu untergraben und den Kapitalismus in der UdSSR selbst wieder einzuführen.[2]
Diese Einschätzung der Politik Gorbatschows, die durch die weitere Entwicklung bestätigt wurde, kann ich mir allerdings nicht als eigenen Verdienst anrechnen. Die Perspektive des Internationalen Komitees basierte auf der Analyse der Widersprüche der sowjetischen Gesellschaft und des konterrevolutionären Kurses des stalinistischen Regimes, die Trotzki ein halbes Jahrhundert zuvor in seinem Werk »Verratene Revolution« dargelegt hatte. Das IKVI konnte den postsowjetischen Prozess der kapitalistischen Restauration besonders gut durchschauen, weil er genau den von Trotzki vorhergesagten Verlauf nahm.
Die Auflösung der Sowjetunion führte nicht zum »Ende der Geschichte«, das Francis Fukuyama von der Rand Corporation als »den Endpunkt der ideologischen Entwicklung der Menschheit und die Universalisierung der westlichen liberalen Demokratie als endgültige Staatsform des Menschen« prophezeite.[3] Mit dem Aufstieg Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten hat Fukuyama ganz offenbar nicht gerechnet.
Weder im postsowjetischen Russland noch in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern verlief die weitere Entwicklung nach dem Schema des Weisen aus der Denkfabrik Rand. In Russland wurden alle strahlenden Prognosen, mit denen die Restauration des Kapitalismus gerechtfertigt worden war, durch die Realität widerlegt. Das Verschleudern des Staatseigentums an ehemalige Sowjetbürokraten und andere Kriminelle brachte nicht Wohlstand, sondern Massenarmut und ein schockierendes Maß an sozialer Ungleichheit. Der neue russische Staat brachte nicht die Demokratie zur Blüte, sondern nahm binnen kurzer Zeit die Form eines oligarchischen Regimes an. Und die Annahme, dass Russland nur seine historischen Bande zur Oktoberrevolution kappen müsse, um von seinen neuen »westlichen Partnern« mit zärtlichen Umarmungen empfangen und friedlich in die Bruderschaft der kapitalistischen Nationen aufgenommen zu werden, erwies sich als besonders abstruse und unrealistische Voraussage.
In den großen imperialistischen Ländern haben die Ereignisse seit dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion – die Abfolge wirtschaftlicher, geopolitischer und sozialer Krisen, die die letzten drei Jahrzehnte geprägt haben – die marxistische Analyse der Widersprüche, die den Kapitalismus als Weltsystem in den Untergang treiben, untermauert. Im Gründungsdokument der Vierten Internationale definierte Trotzki die historische Epoche 1938 als »Todeskampf« des Kapitalismus und beschrieb die Lage am Vorabend des Zweiten Weltkriegs mit den Worten:
Die Produktivkräfte der Menschheit haben aufgehört zu wachsen. Neue Erfindungen und technische Neuerungen vermögen bereits nicht mehr zu einer Hebung des materiellen Wohlstands beizutragen. Unter den Bedingungen der sozialen Krise des gesamten kapitalistischen Systems bürden Konjunkturkrisen den Massen immer größere Entbehrungen und Leiden auf. Die wachsende Arbeitslosigkeit vertieft wiederum die staatliche Finanzkrise und unterhöhlt die zerrütteten Währungen …
Unter dem wachsenden Druck des kapitalistischen Niedergangs haben die imperialistischen Gegensätze die Grenze erreicht, jenseits derer die einzelnen Zusammenstöße und blutigen lokalen Unruhen … unausweichlich in einen Weltbrand umschlagen müssen. Die Bourgeoisie ist sich selbstverständlich der tödlichen Gefahr bewusst, die ein neuer Krieg für ihre Herrschaft bedeutet. Aber diese Klasse ist heute noch unendlich weniger imstande, den Krieg abzuwenden, als am Vorabend von 1914.[4]
Die gegenwärtige Weltlage weist mehr als nur eine beunruhigende Ähnlichkeit mit der Situation auf, die Trotzki vor 85 Jahren so treffend beschrieb. Sein Verständnis der Weltlage ergab sich aus seiner Analyse der Ursachen der Krise des Kapitalismus: 1) dem Gegensatz zwischen gesellschaftlicher Produktion und Privateigentum an den Produktionsmitteln und 2) der Unvereinbarkeit des kapitalistischen Nationalstaatensystems mit der objektiven Entwicklung der Weltwirtschaft. Im Rahmen des Kapitalismus führt die Krise, die sich aus diesen Widersprüchen ergibt, zu den Zwillingskatastrophen der faschistischen Barbarei und des Weltkriegs.
In seiner Analyse der fatalen Dynamik des globalen Kapitalismus hatte Trotzki besonders die Rolle des amerikanischen Imperialismus hervorgehoben. Im Jahr 1928 schrieb er aus dem entlegenen Alma-Ata in Zentralasien (wohin er vom stalinistischen Regime verbannt worden war):
Während der Krise wird sich die Hegemonie der Vereinigten Staaten noch viel vollständiger, offener, schärfer und rücksichtsloser auswirken als während der Aufstiegsperiode. Die Vereinigten Staaten werden versuchen, ihre Schwierigkeiten und Krankheiten auf Kosten Europas zu bekämpfen und zu überwinden, ganz gleich, ob in Asien, Kanada, Südamerika, Australien oder Europa selbst, oder ob auf friedlichem oder kriegerischem Wege. [Hervorhebung im Original][5]
1934 beschrieb Trotzki die Entwicklung des amerikanischen Imperialismus mit noch schärferen Worten:
Der US-Kapitalismus steht vor denselben Aufgaben, die Deutschland 1914 zum Krieg getrieben haben. Die Welt ist bereits aufgeteilt? Dann muss man sie eben neu aufteilen! Deutschland ging es darum, Europa zu »organisieren«. Den Vereinigten Staaten fällt es zu, die ganze Welt zu »organisieren«. Die Geschichte treibt die Menschheit einem Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus entgegen.[6]
Trotzki spottete über die Neigung der Vereinigten Staaten, ihre räuberische Politik mit humanitären Phrasen zu bemänteln. In einer überaus treffenden Charakterisierung beschrieb er Wilson in dessen Rolle nach dem Ersten Weltkrieg: »[E]in fadenscheiniger Scheinheiliger und Heuchler, ein Tartuffe im Quäkergewand, klappert das blutgetränkte Europa ab, gebärdet sich als höchste moralische Instanz und verkündet die Heilsbotschaft des amerikanischen Dollar. Er hält Strafpredigten, verzeiht und entscheidet über das Schicksal von Nationen.«[7] Da Wilsons bösartiger Rassismus mittlerweile bekannt wurde, ist Trotzkis Beschreibung des einst hoch verehrten amerikanischen Präsidenten, der lange als Ikone des demokratischen Liberalismus gepriesen wurde, unter Historikern zum Konsens geworden.
Doch so scharf Trotzki die Heuchelei der USA auch geißelte, er sah in der Politik des amerikanischen Imperialismus oder der seines deutschen Rivalen unter Hitler nicht das Eindringen von Verbrechern in eine ansonsten friedliche Welt. Seine Anklage gegen die Politik dieser und anderer imperialistischen Mächte war historischer und nicht spießerhaft-moralischer Natur. Die Politik der Invasionen, Annexionen und Eroberungen beruht selbst im Falle eines Psychopathen wie Hitler nicht auf dem Wahnsinn eines einzelnen Führers, sondern auf der unumgänglichen Notwendigkeit, die Schranken zu durchbrechen, die dem Zugang zu globalen Ressourcen und zum Weltmarkt durch Staatsgrenzen gesetzt werden. Die unaufhaltsame Zunahme des imperialistischen Militarismus, der unweigerlich zum Weltkrieg führt, kennzeichnet den historischen Bankrott des nationalstaatlichen Systems. Wie Trotzki 1934 in einem ursprünglich in der amerikanischen Zeitschrift »Foreign Affairs« veröffentlichten Artikel voraussah,
wird der Kampf um die auswärtigen Märkte ungeahnte Schärfe annehmen. Die frommen Erwägungen über die Vorteile der Autarkie werden sofort über den Haufen geworfen sein, die klugen Pläne nationaler Harmonie werden unter den Tisch fallen. Das bezieht sich nicht nur auf den deutschen Kapitalismus mit seiner explosiven Dynamik oder auf den verspäteten, ungeduldigen und gierigen Kapitalismus Japans, sondern auch auf den bei all seinen neuen Widersprüchen mächtigen Kapitalismus Amerikas.[8]
Die Widersprüche, die Trotzki in den späten 1920er und in den 1930er Jahren aufzeigte, befinden sich heute in einem weitaus fortgeschritteneren bzw. Endstadium. Nach der Auflösung der Sowjetunion hat der Drang, die Welt im Interesse der Hegemonie der Vereinigten Staaten zu »organisieren«, die Form eines globalen Amoklaufs angenommen. Der »Vulkanausbruch« des amerikanischen Imperialismus, den Trotzki vor fast 90 Jahren vorausgesagt hat, ist in vollem Gange.
Doch der amerikanische Vulkan ist nicht der einzige Ort militaristischer Eruptionen. Die Militärausgaben sind auf internationaler Ebene massiv gestiegen. Die Götter des Krieges dürsten wieder. Die beiden Hauptverlierer des Zweiten Weltkriegs lassen ihre scheinheilige Pose des Pazifismus fallen. Der Deutsche Bundestag hat die Gelegenheit des Ukrainekriegs genutzt, um eine Verdreifachung des Militärhaushalts zu beschließen. Japan, die zweitgrößte Militärmacht in Asien, hat eine Erhöhung der »Verteidigungs«ausgaben um 26,3 Prozent angekündigt. Diese beiden Mächte sind entschlossen, nach dem dritten Weltkrieg an der Verteilung der Beute teilzuhaben – sofern es dann noch eine Welt gibt, die sich aufteilen lässt.
Dass die Welt auf den Abgrund einer globalen militärischen Katastrophe zusteuert, wird in den kapitalistischen Medien inzwischen weithin konstatiert. Nachdem die russische Invasion in der Ukraine von der Propaganda ein Jahr lang als »unprovozierter Krieg« dargestellt wurde, beginnen bürgerliche Kommentatoren nun, den Krieg in einen realistischeren internationalen Kontext zu stellen. Der Außenpolitikexperte der »Financial Times«, Gideon Rachman, wies kürzlich auf die »historische Parallele« zwischen der gegenwärtigen Situation und »der Zunahme der internationalen Spannungen in den 1930er und 1940er Jahren« hin:
Der Umstand, dass der Präsident Chinas und der Premierminister Japans gleichzeitig und konkurrierend die Hauptstädte Russlands und der Ukraine besuchten, unterstreicht die globale Bedeutung des Ukrainekriegs. Japan und China sind in Ostasien erbitterte Rivalen. Beide Länder sind sich darüber im Klaren, dass ihr Kampf vom Ausgang des Konflikts in Europa tiefgreifend beeinflusst werden wird.
Dieses Schattenboxen zwischen China und Japan wegen der Ukraine ist Teil eines größeren Trends. Die strategischen Rivalitäten in der euroatlantischen und der indopazifischen Region überschneiden sich zusehends. Was sich hier abzeichnet, nimmt mehr und mehr die Gestalt eines einzigen geopolitischen Konflikts an.[9]
Natürlich ist jede historische Persönlichkeit auch ein Produkt ihrer Zeit. Doch Trotzki ist eine historische Figur, deren aktiver Einfluss auf das Zeitgeschehen weit über seine Lebenszeit hinausreicht. Seine Schriften werden nicht nur wegen ihres Einblicks in die Ereignisse der ersten vier Jahrzehnte des letzten Jahrhunderts studiert, sondern auch als Analysen, die für das Verständnis der heutigen Ereignisse und das Eingreifen darin unerlässlich sind.
In einer gewaltigen, 1124 Seiten umfassenden Studie über den internationalen Trotzkismus, die 1991 kurz vor der Auflösung der UdSSR veröffentlicht wurde, äußerte der mittlerweile verstorbene Robert J. Alexander, antimarxistischer Akademiker und langjähriges Mitglied des US Council on Foreign Relations, die Sorge, dass die Auflösung der UdSSR zu einem Wiederaufleben des Trotzkismus als Massenbewegung führen könnte. Er schrieb:
Stand Ende der 1980er Jahre haben die Trotzkisten in keinem Land je die Macht übernommen. Obwohl der internationale Trotzkismus nicht die Unterstützung eines etablierten Regimes genießt, wie einst die Erben des Stalinismus, ist es in Anbetracht des Fortbestehens dieser Bewegung in einer Vielzahl von Ländern bei gleichzeitiger Instabilität des politischen Lebens der meisten Nationen der Welt nicht völlig ausgeschlossen, dass eine trotzkistische Partei in absehbarer Zeit an die Macht kommen könnte.[10]
Die herrschenden Eliten nahmen die Warnung von Professor Alexander ernst. Sie reagierten auf die politische Gefahr von links, die der Zusammenbruch der stalinistischen Regime mit sich brachte, indem sie eine Reihe von verleumderischen Pseudobiografien über Trotzki in Auftrag gaben. Die Professoren Ian Thatcher, Geoffrey Swain und Robert Service ernteten für ihre entsprechenden Bücher zwar zunächst begeisterte Kritiken in der kapitalistischen Presse, scheiterten aber dennoch kläglich. Ihre Lügen wurden vom Internationalen Komitee umfassend entlarvt. Die Biografie, die der hochgelobte Professor Service von der Universität Oxford verfasste, geriet für den Verlag Harvard University Press zu einer äußersten Peinlichkeit, nachdem in der Fachzeitschrift »American Historical Review« meine Kritik, es handele sich bei Services Biografie um ein »zusammengeschustertes Machwerk« als zutreffend anerkannt worden war: »Starke Worte, aber völlig berechtigt.«[11]
Es gibt eine historisch-materialistische Erklärung dafür, dass die internationale trotzkistische Bewegung die gnadenlose Verfolgung durch zahllose Feinde jahrzehntelang überdauert hat und gewachsen ist. Die grundlegenden objektiven ökonomischen und gesellschaftlichen Kräfte, die zu Trotzkis Lebzeiten den Verlauf der politischen Ereignisse grundlegend bestimmten, insbesondere der globale Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat, sind von der Geschichte nicht überholt worden. Trotzkis Theorie der permanenten Revolution ist bis heute die wesentliche historisch-strategische Grundlage für den Kampf der internationalen Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus. Er schrieb 1930:
Der Abschluss einer sozialistischen Revolution ist im nationalen Rahmen undenkbar. Eine grundlegende Ursache für die Krisis der bürgerlichen Gesellschaft besteht darin, dass die von dieser Gesellschaft geschaffenen Produktivkräfte sich mit dem Rahmen des nationalen Staates nicht vertragen. Daraus ergeben sich einerseits die imperialistischen Kriege, andererseits die Utopie der bürgerlichen Vereinigten Staaten von Europa. Die sozialistische Revolution beginnt auf nationalem Boden, entwickelt sich international und wird vollendet in der Weltarena. Folglich wird die sozialistische Revolution in einem neuen, breiteren Sinne des Wortes zu einer permanenten Revolution: Sie findet ihren Abschluss nicht vor dem endgültigen Siege der neuen Gesellschaft auf unserem ganzen Planeten.[12]
Weit davon entfernt, von den Ereignissen überholt zu werden, ist Trotzkis Auffassung der sozialistischen Revolution als verwobener Prozess des internationalen Klassenkampfs durch die gewaltige, weltweit integrierte Entwicklung der Produktivkräfte und das enorme Wachstum der Arbeiterklasse noch stärker untermauert worden. Heute überschneidet sich der Verlauf der Geschichte auf entscheidende Weise mit der strategischen Vision des großen marxistischen Theoretikers und Revolutionärs.
Die gegenwärtige Weltlage ist so beschaffen, dass sie von Trotzki problemlos durchschaut und analysiert werden könnte. Wir leben in der Endphase derselben historischen Epoche des imperialistischen Kriegs und der sozialistischen Revolution. Die historischen Probleme, mit denen sich Trotzki beschäftigte – vor allem in den 16 Jahren zwischen dem Schlaganfall Lenins und dessen Ausscheiden aus der Politik 1923 und Trotzkis Ermordung 1940 –, sind die bis heute ungelösten, existenziellen politischen Fragen, vor denen die Arbeiterklasse steht: der imperialistische Krieg, der Zusammenbruch der Demokratie und das Wiederaufkommen des Faschismus, die steigende Inflation, die Massenarbeitslosigkeit, die Armut, der Verrat der bestehenden Arbeitermassenorganisationen und deren Verschmelzung mit den Strukturen des kapitalistischen Staats.
Dieses Jahr begehen wir den einhundertsten Jahrestag der Gründung der Linken Opposition in der Sowjetunion. Trotzkis erste öffentliche Kritik an der Ausbreitung des Bürokratismus sowohl im Sowjetstaat als auch in der Kommunistischen Partei, die er im Herbst 1923 formulierte, markierte den Beginn der folgenreichsten politischen Auseinandersetzung im 20. Jahrhundert. Die Usurpation der politischen Macht durch die sowjetische Bürokratie unter der Führung Stalins sollte katastrophale Folgen für das Schicksal der internationalen Arbeiterklasse und den Kampf für den Sozialismus nach sich ziehen. Als politische Rechtfertigung für diese Usurpation – die zur Unterordnung der Arbeiterklasse unter die Bürokratie, zur Zerstörung aller Formen der Arbeiterdemokratie und schließlich zur Liquidierung der Marxisten innerhalb der UdSSR führte – diente das stalinistische Dogma des »Sozialismus in einem Land«. Diese Pseudotheorie, die in erster Linie gegen Trotzkis Theorie der permanenten Revolution gerichtet war, sanktionierte die Abkehr von der Perspektive des internationalen Sozialismus, auf die sich die Oktoberrevolution gestützt hatte.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie über Trotzkis Kampf gegen den Stalinismus beginnt mit der Behauptung: »In seinen letzten zwanzig Lebensjahren war die politische und theoretische Frage, die Leo Trotzki mehr als jede andere beschäftigte, das Problem der Sowjetbürokratie.«[13]
Diese Aussage ist grundfalsch. Das Problem der Sowjetbürokratie war für Trotzki völlig zweitrangig gegenüber der Frage des revolutionären Internationalismus. In Wirklichkeit erschloss sich der wahre Charakter der stalinistischen Bürokratie nur aus dem Verhältnis der Sowjetunion zum internationalen Klassenkampf und zum Schicksal des Weltsozialismus. Der Stalinismus entstand als Tendenz innerhalb der Bolschewistischen Partei unter den Bedingungen der Niederlagen, die die Arbeiterklasse in Mittel- und Westeuropa nach der Oktoberrevolution erlitten hatte, und stellte eine nationalistische Reaktion gegen den marxschen Internationalismus dar. Trotzki schrieb dazu nur ein Jahr vor seiner Ermordung: »Man kann sagen, dass der ganze ›Stalinismus‹ in ›theoretischer‹ Hinsicht aus der Kritik der Theorie der permanenten Revolution, so wie sie im Jahre 1905 formuliert worden war, hervorgegangen ist.«[14]
Der Kampf gegen die bürokratische Diktatur war untrennbar mit dem Programm des sozialistischen Internationalismus verbunden. Für alle politischen Aufgaben in der gegenwärtigen Weltlage gilt dasselbe strategische Prinzip. Es gibt keine nationalen Lösungen für die großen Probleme der heutigen Zeit.
Trotzkis Theorie der permanenten Revolution lieferte eine Analyse der objektiven Dynamik des internationalen Klassenkampfs, auf die sich die Strategie der sozialistischen Weltrevolution stützen muss. Gleichzeitig erklärte Trotzki, dass die Entfaltung der kapitalistischen Widersprüche nicht automatisch zum Sieg des Sozialismus führt. Diese Widersprüche schaffen nur die objektiven Voraussetzungen und Möglichkeiten für die Machteroberung der Arbeiterklasse. Die Realisierung dieses Potenzials hängt von den bewussten Entscheidungen und dem Handeln der revolutionären Partei ab.
Trotzkis Aussage im Gründungsdokument der Vierten Internationale von 1938: »Die geschichtliche Krise der Menschheit läuft auf die Krise der revolutionären Führung hinaus«, war eine Zusammenfassung der zentralen Lehren aus den Niederlagen, die die Arbeiterklasse in den vorangegangenen 15 Jahren infolge des Opportunismus und Verrats der stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften erlitten hatte.
Die Niederlage des Generalstreiks in Großbritannien 1926, die Zerschlagung der Arbeiterklasse in Shanghai durch Chiang Kai-shek 1927, der Sieg der Nazis in Deutschland 1933, die Demoralisierung der französischen Arbeiterklasse nach den Massenstreiks von 1936 durch die Politik der Volksfront, die Niederlage der Spanischen Revolution 1939 und schließlich der Pakt Stalins mit Hitler und der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lösten in weiten Teilen der linken Intelligenz Pessimismus und Desillusionierung über die Aussichten auf den Sozialismus aus. Hatten diese Niederlagen nicht bewiesen, so fragten sie, dass die Arbeiterklasse nicht in der Lage ist, die Macht zu erobern und zu halten?
Trotzki wies die Demoralisierung, die dieser Fragestellung zugrunde lag, mit Nachdruck zurück. Was dem Sozialismus im Wege stand, war nicht der »nichtrevolutionäre« Charakter der Arbeiterklasse, sondern der verrottete Zustand der bestehenden Massenparteien. Damit stellte sich allerdings eine weitere Frage: War es möglich, eine Partei aufzubauen, deren Führung den Anforderungen der Revolution gewachsen sein würde? Diejenigen, die diese Möglichkeit leugneten, gelangten zu äußerst pessimistischen Schlussfolgerungen: dass das Programm der sozialistischen Revolution eine unrealistische Utopie darstelle und die Lage der Menschheit im Grunde hoffnungslos sei. »Nicht alle unsere Gegner drücken diesen Gedanken klar aus«, schrieb Trotzki im Herbst 1939, »aber allesamt – Ultralinke, Zentristen, Anarchisten, ganz zu schweigen von den Stalinisten und Sozialdemokraten – wälzen die Verantwortung für die Niederlagen von sich selbst auf die Schultern des Proletariats ab. Keiner von ihnen äußert sich dazu, was genau die Bedingungen sind, unter denen das Proletariat in der Lage sein wird, den sozialistischen Umsturz durchzuführen.«[15]
Trotzki hatte die Ursache für die politische Demoralisierung der linken Intellektuellen aufgedeckt. Die Ablehnung des revolutionären Potenzials der Arbeiterklasse war die wesentliche Prämisse des Antimarxismus der kleinbürgerlichen linken Akademiker nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frankfurter Schule richtete ihre Argumente gegen die historische Perspektive Trotzkis (auch wenn sie dies nicht offen zugab) und versuchte so, den Marxismus von der Arbeiterklasse zu trennen. Die Postmodernisten erklärten die Zeit der »großen Narrative« für beendet, in denen die Geschichte als objektiver, gesetzmäßiger Prozess aufgefasst und die Arbeiterklasse als die zentrale revolutionäre Kraft in der Gesellschaft ausgemacht wurde. Die unvermeidliche Folge dieses gesellschaftstheoretischen Rückschritts war die völlige Ablehnung des Marxismus und der sozialen Revolution auf der Grundlage der Arbeiterklasse. Zwei führende Vertreter dieser Regression, Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, erklärten 1985 unverblümt:
An diesem Punkt sollten wir ganz einfach festhalten, dass wir uns jetzt auf einem post-marxistischen Terrain befinden. Es ist nicht länger möglich, die Subjektivitäts- und Klassenkonzeption, wie sie durch den Marxismus ausgearbeitet worden ist, seine Vorstellung vom historischen Verlauf der kapitalistischen Entwicklung … beizubehalten.[16]
Die antimarxistischen Theoretiker sind durch die Ereignisse widerlegt worden. Nur die trotzkistische Bewegung hat den weltweiten Aufschwung des Klassenkampfs, der jetzt im Gange ist, vorausgesehen und sich darauf vorbereitet. Gestützt auf die Perspektive der permanenten Revolution erklärte das Internationale Komitee 1988:
Wir gehen davon aus, dass sich das nächste Stadium der proletarischen Kämpfe unter dem gemeinsamen Druck der objektiven ökonomischen Tendenzen und des subjektiven Einflusses der Marxisten unvermeidlich in einer internationalistischen Richtung entwickeln wird. Das Proletariat wird mehr und mehr dahin tendieren, sich selbst in der Praxis als internationale Klasse zu definieren, und die marxistischen Internationalisten, deren Politik der Ausdruck dieser organischen Tendenz ist, werden diesen Prozess fördern und ihm eine bewusste Form geben.[17]
Die sich beschleunigende kapitalistische Weltkrise und der globale Klassenkampf werden die objektiven Bedingungen für die sozialistische Revolution und den Sturz des Kapitalismus schaffen. »Aber«, wie Trotzkis warnte, »die große historische Aufgabe wird nicht gelöst werden, ehe eine revolutionäre Partei an der Spitze des Proletariats steht.«
Die Frage der Tempi und Zeitabschnitte ist von ungeheurer Bedeutung, aber sie ändert weder die allgemeine historische Perspektive noch die Richtung unserer Politik. Die Schlussfolgerung ist einfach: Die Arbeit der Erziehung und Organisierung der proletarischen Vorhut muss mit verzehnfachter Energie fortgeführt werden. Gerade darin besteht die Aufgabe der Vierten Internationale.[18]
Die historischen Erfahrungen des vergangenen Jahrhunderts haben alle politischen Bewegungen, Parteien und Tendenzen, die den Anspruch erhoben, den Kampf gegen den Kapitalismus anzuführen, auf die Probe gestellt. Die konterrevolutionäre Rolle der Stalinisten, Sozialdemokraten, Maoisten, bürgerlichen Nationalisten, Anarchisten und Pablisten wurde durch die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts offengelegt. Nur die Vierte Internationale unter der Führung des Internationalen Komitees hat der Prüfung durch die Geschichte standgehalten. Die internationale revolutionäre sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse auf allen Kontinenten wird sich auf den theoretischen und politischen Fundamenten des Trotzkismus entwickeln, der den Marxismus des 21. Jahrhunderts darstellt.
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Dieser Band ist dem Gedenken an Wije Dias (27. August 1941–27. Juli 2022) gewidmet. Genosse Wije war ein führendes Mitglied des Internationalen Komitees der Vierten Internationale und 35 Jahre lang Vorsitzender der Sektion in Sri Lanka. Er starb mitten im Kampf und trat im hohen Alter mit unverminderter Leidenschaft für die Ideale seiner Jugend ein. Sein Vermächtnis – sein Mut, sein Einsatz für trotzkistische Prinzipien und seine Treue zum Sozialismus – wird der Arbeiterklasse in den großen Klassenkämpfen, die über das Schicksal der Menschheit entscheiden werden, als inspirierendes Vorbild dienen.
David North
Detroit
4. April 2023
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Mehr lesen
Internationales Komitee der Vierten Internationale, »Was geht in der Sowjetunion vor sich? Gorbatschow und die Krise des Stalinismus«, in: Die Vierte Internationale und die Perspektive der sozialistischen Weltrevolution 1986–1995, Essen 2022, S. 288.
David North, Perestroika gegen Sozialismus. Der Stalinismus und die Restauration des Kapitalismus in der UdSSR, Essen 1989, S. 67.
The National Interest, Nr. 16 (Sommer 1989), S. 3.
Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 83, 84.
Leo Trotzki, Die Dritte Internationale nach Lenin, Essen 1993, S. 29.
Leo Trotzki, »Der Krieg und die IV. Internationale«, in: Schriften, Linke Opposition und IV. Internationale 1928–1934, Bd. 3.3, Köln 2001, S. 553.
Leo Trotzki, »Ordnung aus dem Chaos«, in: Die Internationale vor Stalin. Die ersten fünf Jahre der Kommunistischen
Leo Trotzki, »Nation und Weltwirtschaft«, in: Porträt des Nationalsozialismus, Essen 2023, S. 380.
Gideon Rachman, »China, Japan and the Ukraine War«, in: Financial Times, 27. März 2023.
Robert J. Alexander, International Trotskyism 1929–1985: A Documented Analysis of the Movement, Durham und London 1991, S. 32.
Besprechung von Bertrand M. Patenaude, in: The American Historical Review, Jg. 116, Nr. 3, Juni 2011, S. 902; auch dokumentiert im Anhang von: David North, Verteidigung Leo Trotzkis, zweite, erweiterte Auflage, Essen 2012, S. 332.
Leo Trotzki, Die permanente Revolution, Essen 2021, S. 264–265.
Thomas M. Twiss, Trotsky and the Problem of Soviet Bureaucracy, Chicago 2014, S. 1.
Leo Trotzki, »Drei Konzeptionen der russischen Revolution« (1939), in: Stalin. Eine Biographie, Essen 2006, S. 471.
Leo Trotzki, »Die UdSSR im Krieg«, in: Verteidigung des Marxismus, Essen 2006, S. 14.
Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 2000, S. 34.
»Dreizehnter Kongress der Workers League«, Bericht von David North, in: Vierte Internationale, Jg. 15 Nr. 3–4, Juli–Dezember 1988, S. 42.
Leo Trotzki, »Manifest der Vierten Internationale zum imperialistischen Krieg und zur proletarischen Weltrevolution, 1940«, in: Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 254.