Trotzkisten in der ehemaligen Sowjetunion gedenken des 100. Todestages von Lenin

Am vergangenen Sonntag hielt die Junge Garde der Bolschewiki-Leninisten (YGBL), eine trotzkistische Jugendorganisation in der ehemaligen Sowjetunion, eine Gedenkveranstaltung zum 100. Todestag Lenins ab. Der Revolutionsführer verstarb am 21. Januar 1924 im Alter von 53 Jahren.

Nach einer Schweigeminute wurde die Versammlung von Peter Schwarz eröffnet. Schwarz ist der Sekretär des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI) und ein führendes Mitglied seiner deutschen Sektion, der Sozialistischen Gleichheitspartei. Eingangs betonte er:

Allein die Tatsache, dass dieses Treffen in der früheren Sowjetunion stattfindet, beweist, dass 100 Jahre Bemühungen der Stalinisten, Lenin in eine harmlose Ikone zu verwandeln, ihn zu mumifizieren und zu verfälschen, ebenso wie die der Antikommunisten (einschließlich Putins), ihn zu verteufeln, gescheitert sind. Lenin ist heute hochaktuell. Selbst seine vehementesten Verteidiger können nicht mehr leugnen, dass sich der Kapitalismus weltweit in einer tiefen Krise befindet.

In einem Überblick über die aktuelle politische Lage stellte Schwarz fest, dass der „dritte Weltkrieg bereits begonnen“ hat, und betonte vor diesem Hintergrund die Bedeutung von Lenins Analyse des Imperialismus. Lenin beharrte auf der Notwendigkeit, eine unabhängige revolutionäre Partei der Arbeiterklasse aufzubauen. Schwarz erklärte:

Lenins Buch über den Imperialismus gehört heute zu den aktuellsten Schriften überhaupt. Lenin hat nachgewiesen, dass der Imperialismus nicht einfach eine bestimmte Politik der Kapitalisten, sondern ein neues, das höchste Stadium des Kapitalismus ist … Der Kapitalismus, so Lenins Fazit, konnte nicht reformiert werden, er musste gestürzt werden. Alle Bemühungen, die Imperialisten durch Druck und moralische Appelle zu einer friedlicheren Politik zu bewegen, konnten nur Illusionen schüren und die revolutionäre Energie der Massen bremsen. Lenin verstand, dass dieselben objektiven Prozesse, die zum Weltkrieg geführt hatten, auch die Voraussetzungen für die proletarische Revolution schufen. Seine gesamte Perspektive beruhte darauf, dass der Krieg und die Widersprüche des Imperialismus die Massen in die Revolution treiben würden.

Aber während die Zuspitzung des Klassenkampfs ein objektiver, spontaner Prozess war, hing sein Ausgang – d.h. die Frage von Sieg oder Niederlage der Revolution – vom Vorhandensein einer bewussten, proletarischen Führung ab. Niemand verstand diese Frage so scharf wie Lenin; hierin liegen seine einzigartige historische Rolle und sein Genie als Marxist.

Nach Peter Schwarz ergriff Clara Weiss, die nationale Sekretärin der International Youth and Students for Social Equality (IYSSE) in den USA, das Wort. Die Verteidigung der Leninschen Konzeption einer revolutionären Avantgardepartei und der Kampf für den Marxismus in der Arbeiterklasse, betonte sie, hat im Kampf der trotzkistischen Bewegung gegen revisionistische und opportunistische Tendenzen eine zentrale Rolle gespielt. Sie zitierte James P. Cannon, den Verfasser des Offenen Briefes, der 1954, in der Anfangsphase des Kampfs gegen den Pablismus, feststellte:

Wir allein richten uns uneingeschränkt nach Lenins und Trotzkis Theorie der Partei als der bewussten Avantgarde und ihrer Rolle als Führung im revolutionären Kampf. Diese Frage wird brennend aktuell und ist in der gegenwärtigen Epoche wichtiger als alle anderen. Das Problem der Führung nun beschränkt sich nicht auf die spontanen Erscheinungen des Klassenkampfs in einem lang hingezogenen Prozess, ja nicht einmal auf die Eroberung der Macht in diesem oder jenem Land, wo der Kapitalismus besonders schwach ist. Es ist vielmehr eine Frage der Entwicklung der internationalen Revolution und der sozialistischen Umwandlung der Gesellschaft. Wer die Annahme zulässt, dass dies automatisch geschehen könnte, gibt in Wirklichkeit den ganzen Marxismus auf. Nein, es erfordert bewusstes Handeln, und dazu ist die Führung der marxistischen Partei, die das bewusste Element im historischen Prozess darstellt, unerlässlich. Keine andere Partei taugt dafür.

Als Nächstes sprachen vier führende Vertreter der Jungen Garde der Bolschewiki-Leninisten. Ostap Rerich, der Leiter der Organisation, betonte die historische und internationale Rolle Wladimir Lenins und wies darauf hin, dass die Kontinuität seines Erbes nur vom IKVI und seinen Anhängern in der ehemaligen Sowjetunion vertreten wird.

„Unsere Organisation“, sagte er, „ist die einzige Kraft im gesamten postsowjetischen Raum, die 100 Jahre nach Lenins Tod den Anspruch erheben kann, die wahre Nachfolgerin und Vertreterin des Leninismus und Bolschewismus zu sein.“

Wladimir Lenin in seinem Büro im Kreml (Moskau) um 1919 [AP Photo]

Rerich prangerte den Opportunismus der russischen Pablisten und an und nannte in diesem Zusammenhang Boris Kagarlitzki, der enge Verbindungen zu Vertretern der pablistischen Bewegung pflegt und seit Jahrzehnten als Berater der russischen Oligarchie fungiert, während er sich nach außen als „Sozialist“ darstellt.

Rerich verwies auch auf die Rolle von Gennadi Sjuganow, dem Vorsitzenden der stalinistischen Kommunistischen Partei der Russischen Föderation (KPRF). Die KPRF propagiert einen extremen russischen Chauvinismus und Rassismus und verteidigt sämtliche Verbrechen Josef Stalins, beruft sich aber dennoch häufig auf Lenin, und Sjuganow besuchte Lenins Grab. Rerich dazu:

Die Befreiung des Proletariats vom Joch des Kapitals ist nicht die Sache von Kagarlitzki oder Sjuganow und ihren Handlangern, sondern Sache des Proletariats selbst. Das Proletariat muss die historischen Aufgaben erfüllen, die ihm heute gestellt sind, es muss die Erfahrungen aus seinen vergangenen Kämpfen kennen, den Siegen ebenso wie den Niederlagen … Die leninistische Perspektive besteht im Kampf für eine unabhängige proletarische Partei, die gegen alle Erscheinungsformen des Opportunismus und Revisionismus kämpft, in dessen Augen die Arbeiter der Bourgeoisie unterworfen und gefesselt bleiben. Die Junge Garde der Bolschewiki-Leninisten verteidigt die leninistische Perspektive, indem sie danach strebt, in der ehemaligen UdSSR eine Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufzubauen und den Trotzkismus und damit den Leninismus zu neuem Leben zu erwecken. Unser großes Anliegen ist es, die Arbeiterklasse Europas und Amerikas mit der postsowjetischen Arbeiterklasse zu verbinden, damit sie es gemeinsam mit dem Weltkapital aufnehmen können, indem sie die Lehren aus der Geschichte ziehen. Dies ist der Kern der World Socialist Web Site, die das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterklasse fördern und sie mit den Arbeitern aller Länder vereinigen soll.

Ein von der YGBL entworfenes Poster zu Ehren der Gründer der Roten Armee, Wladimir Lenin und Leo Trotzki. Die YGBL wurde am 23. Februar 2018, dem 100. Jahrestag der Roten Armee, gegründet. Auf dem Poster steht: „Ruhm den Gründern der Roten Armee der Arbeiter und Bauern“.

Andrej Ritzki, ein weiterer führender Vertreter der YGBL, zeigte auf, dass Lenins Kampf gegen den nationalen Opportunismus und sein Studium des Imperialismus während des Ersten Weltkriegs dazu führten, dass er 1917 Trotzkis Theorie der permanenten Revolution übernahm:

Lenins Verständnis des Imperialismus war der Ausgangspunkt für das Bündnis, das er im Jahr 1917 mit Trotzki einging und für den Rest seines Lebens beibehielt. Trotzki, der zu diesem Zeitpunkt die Notwendigkeit einer vollständigen organisatorischen Trennung von den Opportunisten klarer begriffen hatte als zuvor, wurde nun zum „besten Bolschewiken“ (Lenin).

Viele frühere und heutige Kritiker Lenins haben ihm vorgeworfen, „elitär“ und „rücksichtslos“ zu sein. Der Kern dieser Anschuldigungen bestand stets darin, ihren eigenen Opportunismus vor den Massen zu verbergen. Diese Kritiker verstecken sich hinter demokratischen Phrasen im Stil der kleinbürgerlichen Radikalen. Im Gegensatz zu ihnen war Lenin eine echte Autorität unter den Massen. Diese Autorität hatte er sich durch seinen unermüdlichen Kampf gegen die bürgerliche Ideologie und ihre Apologeten erworben. Er fürchtete die Massen nicht und versteckte sich nicht vor ihnen, denn er hatte nichts zu verbergen und zu verheimlichen. Lenins Stil ist vor allem Ehrlichkeit und Klarheit. Lenin kämpfte für das sozialistische Bewusstsein nicht, um später darauf zu verzichten, sondern um die Arbeiterklasse auf das Niveau der historischen Aufgabe zu heben, die sich aus ihrer sozioökonomischen Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft ergibt.

Ritzki schloss seinen Beitrag mit den Worten:

Heute steht die YGBL vor großen Herausforderungen, um den Trotzkismus in der ehemaligen Sowjetunion zu neuem Leben zu erwecken. Dies kann nicht gelingen, ohne die Politik Lenins zu verinnerlichen und sie mit der heutigen politischen Realität zu verbinden. Lenins Unnachgiebigkeit und Klarheit sind für unser Vorhaben unverzichtbarer als je zuvor.

Möge der 100. Todestag Lenins ein Tag sein, an dem seine Prinzipien in der ganzen Welt und in der ehemaligen Sowjetunion wieder zum Tragen kommen. Die aufstrebende internationale Arbeiterklasse braucht sie, um ihren Kampf gegen Imperialismus und Krieg, gegen Pandemie und Ungleichheit auszuweiten und zu festigen.

Nach der Rede Ritzkis gab Lew Ustinow einen Überblick über die politische Entwicklung Lenins, beginnend mit seiner Hinwendung zum Marxismus auf der Grundlage der Schriften von Georgi W. Plechanow, dem „Vater des russischen Marxismus“, in den 1880er und frühen 1890er Jahren. Wie Ritzki diskutierte auch Ustinow die bahnbrechende Bedeutung von Lenins Kampf gegen den Verrat der Zweiten Internationale, die in ihrer Mehrheit das imperialistische Gemetzel des Ersten Weltkriegs gutgeheißen hatte. Er stellte fest: „Die Grundlagen für die künftige Kommunistische Internationale wurden 1915 auf einer Antikriegskonferenz der Sozialisten in Zimmerwald gelegt, an der nur 31 Personen (!) teilnahmen, und sie erwiesen sich später als stärker als die gesamte abtrünnige Zweite Internationale.“

Ustinow fuhr fort:

Wladimir Lenin … behielt seinen revolutionären Optimismus während seines gesamten Kampfes bei, sowohl in Zeiten brutalster Reaktion als auch in jenen Perioden, in denen die revolutionäre Situation buchstäblich zum Greifen nahe war, auch wenn dies nicht alle verstanden. Heute ist es für uns besonders wichtig, diese Lektion von Lenin zu lernen: dass wir uns unseren revolutionären Optimismus bewahren müssen, während das kapitalistische Weltsystem durch innere Widersprüche zerrissen wird, die sich in den Kriegen ausdrücken, die jetzt rund um die Welt begonnen haben oder gerade beginnen und sich noch nicht zu einer einzigen weltweiten Konfliktkette verbunden haben. Eine Situation, in der die internationale Arbeiterklasse überall gegen das System von Ausbeutung, Unterdrückung und ständigen Kriegen aufbegehrt. Eine Situation, in der sich in den imperialistischen Zentren Europas und Amerikas die Arbeiter gegen all diese Dinge erheben. Nach Ansicht der diversen Apologeten der Bourgeoisie hätte dies niemals geschehen dürfen, denn dort sei die Arbeiterklasse mit allem versorgt, was sie brauche, um nicht auf die Barrikaden und in die Revolution zu gehen. Jetzt sehen wir mit eigenen Augen, wie trügerisch solche Aussagen sind.

Die letzte Rednerin, Carla, machte auf ein Manuskript Trotzkis mit dem Titel „Wahrheit und Lüge über Lenin“ aufmerksam, in dem Trotzki ein Werk des sowjetischen Schriftstellers Maxim Gorki über Lenin kommentierte. (Gorki hatte sich damals bereits an die stalinistische Bürokratie angepasst.) In diesem Text betont Trotzki, dass Lenins starke Konzentration auf ein einziges Ziel – die sozialistische Revolution – das hervorstechendste Merkmal seiner Persönlichkeit war.

In der anschließenden Diskussion stellte Rerich fest, dass in Russland Kräfte wie die Stalinisten unter Gennadi Sjuganow nach wie vor versuchen, ihre rechtsgerichtete Politik mit Lenins Namen zu bemänteln. Er verwies aber auch darauf, dass „trotz des Krieges [in der Ukraine] die Menschen immer noch Lenin lesen und bei ihm Antworten auf grundlegende Fragen suchen. Auch die Werke von Trotzki werden wieder gelesen. Und die falschen Lenin-Anhänger verlieren ihre Glaubwürdigkeit.“ Die zentrale Aufgabe der YGBL bestehe darin, Lenin zu studieren und „seinen Namen von den Fälschungen des Stalinismus und der Kapitalisten zu reinigen“. Die YGBL müsse die Arbeit Wadim Rogowins für die historische Wahrheit über den Kampf der trotzkistischen Opposition gegen den Stalinismus fortsetzen. Dies, so Ritzki, ist eine wesentliche Voraussetzung für den Aufbau der Weltpartei, die allein die Probleme unserer Zeit lösen kann.

Eine Statue von Wladimir Lenin vor dem Gebäude einer Fabrikverwaltung in St. Petersburg. Die Statue wurde 1927 aufgestellt. Die Inschrift lautet: „Dem großen Lehrer der Arbeiterklasse“.

Zum Abschluss der Veranstaltung warf Peter Schwarz die Frage auf, was geschehen wäre, wenn Lenin nicht so früh gestorben wäre. Bezug nehmend auf einen Artikel von Plechanow, Die Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte, stellte Schwarz fest, dass einzelne Persönlichkeiten immer dann eine zentrale und sogar entscheidende Rolle spielen, wenn ihr Handeln von einem hohen Maß an Bewusstsein über den objektiven historischen Prozess und die sozialen Kräfte ausgeht und sich mit diesen in Übereinstimmung befindet. Vieles deutet darauf hin, so Schwarz, dass die Geschichte anders verlaufen wäre, wenn Lenin nicht im Januar 1924 gestorben wäre. Doch obwohl sein Tod ein schwerer Schlag war, hat er den Klassenkampf oder die Krise des Weltkapitalismus nicht aufgehalten.

Das Internationale Komitee der Vierten Internationale hat das Erbe Lenins nicht nur verteidigt, sondern auch weiterentwickelt. Trotzkis Analyse der Sowjetunion und des Phänomens der Bürokratie stellte eine bedeutende Entwicklung des Marxismus dar. Und die Gründung der Vierten Internationale im Jahr 1938 war keine bloße Fortsetzung der Dritten Internationale. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieses Erbe vor allem im Kampf gegen den Pablismus und in der Analyse des IKVI über die Auflösung der Sowjetunion und die Globalisierung der Produktion weiterentwickelt. Auf der Grundlage dieser Analysen nahm das IKVI wesentliche Änderungen seiner Praxis vor. Es gründete die Socialist Equality Parties und die World Socialist Web Site, die heute täglich erscheint und in 150 Ländern gelesen wird.

In seiner Schrift Was tun? [1902] betonte Lenin die Bedeutung einer gesamtrussischen Zeitung, der Iskra. Aber die Entwicklung der Kommunikationsmittel und die internationale Integration der Arbeiterklasse waren längst nicht so weit fortgeschritten wie heute. In dieser Hinsicht befinden wir uns heute in einer völlig anderen Situation als Lenin und Trotzki. Die revolutionäre Krise in den USA, dem Zentrum des Weltimperialismus, ist sehr weit fortgeschritten. Das Auftreten der amerikanischen Arbeiterklasse als revolutionärer Kraft wird enorme Auswirkungen insbesondere auf die Arbeiterklasse in der ehemaligen Sowjetunion haben. Wir müssen das Studium und die Rehabilitierung von Lenin und den Kampf gegen den Missbrauch und die Verfälschungen seines Werks in diesem Kontext sehen. Das IKVI steht heute vor enormen Möglichkeiten und hat eine enorme Stärke erlangt, die wiederum das Ergebnis der jahrzehntelangen Verteidigung und Weiterentwicklung des Erbes von Lenin und Trotzki ist. Es wird als bewusste politische Führung als Weltpartei der sozialistischen Revolution aufgebaut werden.

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