Berlinale: Künstler beziehen trotz rechter Medienhetze mutig Stellung gegen Israels Völkermord

Die Internationalen Filmfestspiele in Berlin (Berlinale) heben sich von ähnlichen Festivals durch die Möglichkeit einer Teilnahme der Öffentlichkeit ab. Ihr jährlicher Publikumspreis ist eine begehrte Auszeichnung und ein Indikator für die Präferenzen des deutschen Publikums, die oft im Gegensatz zur Meinung professioneller Filmkritiker stehen.

Die Tatsache, dass der Dokumentarfilm No Other Land  bei der diesjährigen Berlinale den Panorama Publikums-Preis gewonnen hat, ist ein schwerer Schlag gegen das deutsche politische Establishment und die Medien. Zusätzlich zum Publikums-Preis wurde der Film auch mit dem Dokumentarfilmpreis der Berlinale ausgezeichnet.

Der Palästinenser Basel Adra (left) und der Israeli Yuval Abraham erhalten an der Berlinale 2024 für ihren Film "No other land" den Publikumspreis, Berlin, 24. Februar 2024 [AP Photo/Markus Schreiber]

Die WSWS wies in ihrer Filmbesprechung darauf hin, dass No Other Land bereits bei der Weltpremiere zu Beginn des Festivals mit lang anhaltendem Beifall aufgenommen wurde. Der Film stammt von dem palästinensisch-israelischen Kollektiv von Basel Adra, Hamdan Ballal, Yuval Abraham und Rachel Szor. Er erzählt von der brutalen Vertreibung palästinensischer Bewohner aus Masafer Yatta, einer Siedlung mit 19 Dörfern südlich von Hebron im Westjordanland. Die Jury der Berlinale erklärte in ihrer Begründung für die Preisverleihung, No Other Land gehe „unter die Haut“ und zeige die „unmenschliche, ignorante Politik der israelischen Regierung“.

Der Film stieß offensichtlich auf große Resonanz bei den Schichten der deutschen Bevölkerung, die die völkermörderische Politik der israelischen Regierung in Gaza und dem Westjordanland mit wachsender Abscheu, Wut und Ablehnung betrachten.

Die deutschen Medien haben die Vorführung von No Other Land  zunächst weitgehend ignoriert. Den Publikums-Preis und die vielen Solidaritätsbekundungen mit der Notlage der Palästinenser im belagerten Gaza bei der abschließenden Preisverleihung am Samstagabend konnten sie jedoch nicht ignorieren.

Bei dieser Gelegenheit bedankte sich Co-Regisseur Basel Adra bei der Entgegennahme des Preises für No Other Land  bei der Jury und erklärte: „Ich bin hier, um den Preis zu feiern, aber es fällt mir auch sehr schwer zu feiern, wenn Israel in Gaza zehntausende Angehörige meines Volks abschlachtet und massakriert. ... Ich bitte Deutschland, während ich hier in Berlin bin, nur darum, die Forderungen der UN zu respektieren und Israel keine Waffen mehr zu schicken.“

Auf diese Erklärung reagierte das Publikum in dem riesigen Berlinale-Palast mit lautem Applaus. Der zweite Co-Regisseur des Films, der israelische Journalist Yuval Abraham, erklärte: „Ich bin Israeli, Basel ist Palästinenser. Und in zwei Tagen werden wir in ein Land zurückkehren, in dem wir beide nicht gleich sind ... Diese Situation der Apartheid zwischen uns, diese Ungleichheit muss aufhören.“

Später schrieb er auf X: „In Israel hat Kanal 11 diesen 30-sekündigen Ausschnitt aus meiner Rede übertragen, ihn verrückterweise ,antisemitisch‘ genannt – und seither erhalte ich Morddrohungen. Aber ich stehe hinter jedem Wort.“

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Das Berlinale-Jury-Mitglied, das den beiden Regisseuren den Publikumspreis überreichte, war Véréna Paravel, und sie trug auf dem Rücken die Aufschrift „Cease-Fire Now“ (Waffenstillstand jetzt).

Im Verlauf der Preisverleihung äußerten auch andere Filmemacher ihre Solidarität mit der Notlage der Palästinenser. Einige erschienen auf der Bühne mit dem traditionellen Kaffiyeh, dem Palästinensertuch. Bei der Entgegennahme des Preises für seinen Film Direct Action  erklärte der Regisseur Ben Russell, der einen Palästinenserschal trug: „Und natürlich stehen wir hier, mit allen unseren Genossen, auch für das Leben, gegen den Völkermord und für einen Waffenstillstand.“ Auch seine Äußerungen wurden vom Publikum mit Jubel und Applaus aufgenommen.

Ben Russell (links) und Guillaume Cailleau [AP Photo/Markus Schreiber]

Die französisch-senegalesische Regisseurin Mati Diop, die für ihren Film Dahomey  den Goldenen Bären, den Hauptpreis der Berlinale für den besten Film, gewonnen hat, nutzte ihre Dankesrede ebenfalls, um einen Waffenstillstand in Gaza zu fordern.

Auf dem Instagram-Kanal der Panorama-Sektion der Berlinale tauchten außerdem Posts mit der Parole: „Free Palestine from the River to the Sea“ auf. Dieser Slogan wird von zionistischen Kräften unablässig und wahrheitswidrig für „antisemitisch“ erklärt. Er wurde von dem Hashtag #ceasefirenow begleitet.

In einem anderen Instagram-Post hieß es: „Völkermord ist Völkermord. Wir sind alle mitschuldig.“ Israel wurde beschuldig eine „ethnische Säuberung Palästinas“ vorzunehmen, und im Namen der „Panorama“-Sektion wurde ein Waffenstillstand gefordert. Andere Posts, die behaupteten, sich auf die Berlinale zu beziehen, forderten ein „Ende des staatlichen Terrors, der von Deutschland finanziert wird“. Unter einem Bild von Kindern war zu lesen: „Stoppt den Völkermord in Gaza.“

In einem verzweifelten Versuch der Schadensbegrenzung und scheinbar unter dem Druck einer rechten Medienkampagne distanzierte sich die Festivalleitung von diesen Äußerungen. In einer am Montag veröffentlichten Presseerklärung erklärte die Berlinale-Leitung, der Instagram-Kanal der Panorama-Sektion der Berlinale sei „kurzzeitig gehackt und antisemitische Bild-Text-Beiträge“ seien auf dem Kanal veröffentlicht worden. „Die Berlinale verurteilt diesen kriminellen Akt aufs Schärfste und hat die Posts gelöscht und eine Untersuchung in die Wege geleitet.“

Die Festivalleitung erklärte außerdem: „Die teils einseitigen und aktivistischen Äußerungen von Preisträger*innen waren Ausdruck individueller persönlicher Meinungen. Sie geben in keiner Form die Haltung des Festivals wieder.“ Gleichzeitig wurde in der Erklärung auch betont: „Die Berlinale versteht sich jedoch ... als Plattform für einen offenen kultur- und länderübergreifenden Dialog. Wir müssen daher auch Meinungen und Statements aushalten, die unseren eigenen Meinungen widersprechen ...“

Die vielen ausdrücklichen und korrekten Kritikpunkte an der israelischen und der deutschen Regierung, die bei der Abschlusszeremonie unter begeistertem Applaus des Publikums geäußert wurden, haben in den deutschen Medien und bei führenden Politikern des gesamten politischen Spektrums eine Reaktion hervorgerufen, die man nur als Raserei bezeichnen kann.

Christian Tretbar, der Mitherausgeber des Berliner Tagesspiegels, der sich bedingungslos hinter die Politik Israels (und die Unterstützung der Bundesregierung für den Krieg gegen Russland) gestellt hat, war empört. Tretbar erklärte: „Der Berlinale-Abschluss am Samstagabend in Berlin war vor allem eines: beschämend.“ Tretbar beklagte weiter die Anspielungen auf einen Völkermord an den Palästinensern und die Forderung, Deutschland müsse seine Waffenlieferungen an Israel einstellen. Er bemerkte missbilligend: „Palästinaschals wurden stolz zur Schau getragen. Alle Bekundungen zu einem Ende des Krieges richteten sich einseitig gegen Israel.“

Am meisten störte den Herausgeber des Tagesspiegels, dass „die ganze Sache auf begeisterten Beifall des anwesenden Kulturpublikums stieß: „Das hat nichts mit Dialog zu tun und auch nichts mit einer politischen Veranstaltung. Das ist leider nur peinlich, aktivistisch und propagandistisch.“

Springers Welt, die dem Tagesspiegel  bei der bedingungslosen Unterstützung für Israels völkermörderische Aggression gegen die Palästinenser in nichts nachsteht, ging sogar noch weiter. Chefreporterin Anna Schneider veröffentlichte ihren Kommentar zur Abschlusszeremonie unter dem Titel „Bei der Berlinale saß man im falschen Film“. Sie schrieb: „Es war zum Gruseln, wie bei der Preisverleihung des Filmfestivals ein realitätsblindes Milieu in aparter Selbstbesoffenheit die große Bühne für seinen Antisemitismus suchte. Dass dafür Millionen an Steuergeldern flossen, ist unverantwortlich.“

Sie beendete ihren Kommentar mit der erneuten Drohung, den Filmfestspielen die Mittel zu kürzen. Sie wies darauf hin, dass die Berlinale mehr als zwölf Millionen Euro Fördergelder vom Kulturstaatsministerium (das von der Grünen-Politikerin Claudia Roth geleitet wird) erhält, und erklärte: „Kunst ist frei, die Künstler auch. ... aber die Tatsache, dass dafür Geld der Steuerzahler ausgegeben wird, ist unentschuldbar.“

Führende Politiker der etablierten Parteien äußerten sich ähnlich aggressiv und mit ähnlich drohendem Unterton.

Der stellvertretende Vorsitzende des Kulturausschusses des Bundestags, Marco Wanderwitz (CDU), erklärte auf X: „Auf der Bühne & aus dem Publikum gab es leider mehrfach unwidersprochen antiisraelische Statements, die in Deutschland nicht akzeptabel seien dürfen.“ Er drohte: „Diese @berlinale müssen wir als Bundeskulturpolitik sehr genau auswerten.“

Kai Wegner (ebenfalls CDU), der regierende Bürgermeister Berlins, schloss sich Wanderwitz' Äußerungen an und schrieb auf X: „In Berlin hat Antisemitismus keinen Platz, und das gilt auch für die Kunstszene. Ich erwarte von der neuen Leitung der Berlinale, sicherzustellen, dass sich solche Vorfälle nicht wiederholen.“

Die medienpolitische Sprecherin der SPD, Melanie Kühnemann-Grunow, übte ebenfalls Kritik an der Preisverleihung: „Bei manchen Kulturschaffenden gibt es offenbar eine mangelnde Fähigkeit, zu differenzieren – und auch das Leid Israels zu sehen.“ Die SPD-Politikerin räumte ein, dass Co-Festivalleiterin Mariette Rissenbeek zu Beginn der Preisverleihung die Freilassung israelischer Geiseln gefordert habe, verwies dann aber darauf, dass das Filmfestival zwei Millionen Euro aus dem Berliner Landeshaushalt erhalte und stellte die Frage: „Was hat Berlin von der Berlinale? Wenn da ein Schaden entsteht, müssen wir ja am Ende damit leben.“

Die medienpolitische Sprecherin der Linkspartei, Anne Helm, äußerte zwar Bedenken, dass dem Krieg in Gaza „Tausende Unschuldige zum Opfer fallen“, schloss sich aber den anderen Bundestagsparteien an und kritisierte, dass „die Geiseln und Opfer der terroristischen Offensive keine Erwähnung gefunden“ hätten. Helm fügte hinzu: „Beim unwidersprochenen Vorwurf eines planvollen Genozids ist aber eine Grenze überschritten.“

Auch mehrere Grünen-Politiker konnten ihre Empörung nicht zügeln und ließen sich wütend über den Ablauf der Abschlussveranstaltung am Samstag aus. Der Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Volker Beck, äußerte sich direkt zur Forderung des palästinensischen Filmemachers Basel Adra, Deutschland solle Israel keine Waffen mehr liefern. Er erklärte, Adras Äußerungen und der Beifall des Publikums stellten einen kulturellen, intellektuellen und ethischen Tiefpunkt des Festivals dar.

Die schnelle und wütende Reaktion der deutschen Medien und Regierungspolitiker auf die völlig gerechtfertigte und notwendige Kritik an der israelischen und der deutschen Regierung wegen des Völkermords in Gaza verdeutlicht die Kluft zwischen breiten Schichten der Bevölkerung und dem politischen Establishment. Die Versuche der Bundesregierung, das Land auf Kriegskurs zu bringen und die israelische Aggression in Gaza zu benutzen, um die Bevölkerung an massive zivile Todesopfer zu gewöhnen, stoßen auf immer breitere Ablehnung.

Das Gezeter derjenigen, die den Völkermord seit Beginn des Kriegs rechtfertigen und versuchen, jeden einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen, der dagegen Stellung bezieht, wird daran nichts ändern. Das mutige Auftreten der Künstlern und des Publikums bei der Berlinale hat gezeigt, dass die hysterische Kampagne keinen Erfolg hat, und dass der Widerstand nur wächst. Die Stimmung in der internationalen Arbeiterklasse gegen Militarismus, Völkermord und Krieg wird immer explosiver.

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