Der französische Präsident Emmanuel Macron, der im Europawahlkampf die Entsendung von Truppen in den Krieg gegen Russland in der Ukraine gefordert hatte, löste am Sonntagabend das Parlament auf. Rechtsextreme Parteien hatten in ganz Europa große Stimmengewinne erzielen können.
Macrons Entscheidung hat eine schwere Krise ausgelöst. Das politische Establishment diskutiert fieberhaft über Bündnisse mit Rechtsextremen. Fraktionen, die historisch mit dem Stalinismus verknüpft sind, reden wieder über eine „Volksfront“, um die Rechtsextremen in Schach zu halten.
Unter Arbeitern und Jugendlichen herrscht dagegen große und wachsende Wut. Am Dienstag kam es neben dem Wiederaufleben der Proteste gegen den Völkermord im Gazastreifen auch zu Protesten an mehreren Gymnasien gegen Macrons Vorgehen, weil er damit der extremen Rechten die politische Initiative überlässt. Jetzt ist die entscheidende Aufgabe, diesen wachsenden Widerstand auf eine internationale Bewegung der Arbeiterklasse zu lenken, um gegen imperialistischen Krieg, Völkermord und Faschismus zu kämpfen.
Macron kündigte die Auflösung des Parlaments in einer oberflächlichen, fünfminütigen Videoansprache an. Nachdem er die rechtsextremen Parteien als Gefahr für die Militärhilfe an die Ukraine und die EU-Bankenrettungen dargestellt hatte, erklärte er sein „Vertrauen in unsere Demokratie. Das souveräne Volk muss sprechen, noch demokratischer geht es nicht.“ Er behauptete, ein Wahlergebnis sei besser als „all die Flickschusterei und die prekären Lösungen. Es ist Zeit für eine unverzichtbare Klarstellung.“
Macrons Beschwörungen der Demokratie sind eine Lüge: Er regiert nicht für, sondern gegen die Bevölkerung.
Letztes Jahr hatte er eine Rentenkürzung durchgesetzt, um eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben zu finanzieren, obwohl die große Mehrheit der Bevölkerung dies ablehnte und mit Streiks und Massenprotesten reagierte, die von der Polizei brutal unterdrückt wurden. Jetzt plant Macron, die aktuelle Legislative, in der er keine stabile Mehrheit mehr hat, durch eine funktionierende Parlamentsmehrheit zu ersetzen, um eine ungeheuer leichtsinnige Eskalation im Krieg gegen Russland durchzusetzen und den Widerstand der großen Mehrheit der französischen und europäischen Bevölkerung zu unterdrücken.
Die vorgezogene Neuwahl, die Macron angesetzt hat, endet am 7. Juli, kurz nach der vorgezogenen Neuwahl in Großbritannien am 4. Juli. Kurz danach wird am 9. Juli der Nato-Kriegsgipfel in Washington stattfinden, der die Pläne der Biden-Regierung für eine Nato-Militärintervention gegen Russland absegnen soll. Macron will eine stabilere Regierung mit angeblich „demokratischer“ Legitimierung, um den undemokratischen Kriegskurs der Nato gegen Russland umzusetzen.
Beträchtliche Teile der herrschenden Klasse gehen davon aus, dass dies bedeutet, die Neofaschisten – vor allem Marine Le Pens Rassemblement National (RN) an die Schalthebel der Macht zu bringen. Angesichts einer massiven Medienkampagne über die Frage, ob der RN wirklich bereit sei, eine verantwortungsvolle Rolle zu spielen, stellen sich Le Pen und ihr Stellvertreter Jordan Bardella in Interviews hinter die Nato und die Banken. Nachdem Bardella im Wahlkampf betont hatte, dass die Sympathiebekundungen für Russland vor Jahren ein Fehler waren, gab er am Dienstag auch die Forderung nach einer Rücknahme von Macrons Rentenkürzungen auf.
Teile der herrschenden Klasse lassen ihre demokratischen Fassaden fallen und übernehmen eine offen pro-faschistische Orientierung. Der Vorsitzende der gaullistischen Partei Les Repulicains (LR) Eric Ciotti forderte am Dienstag in einem Interview mit dem Fernsehsender TF1 ein nationales Bündnis zwischen LR und RN. Er bezeichnete den Parteichef von La France insoumise (Unbeugsames Frankreich, LFI), Jean-Luc Mélenchon, als linke Bedrohung, und forderte einen rechten Aufstand:
Wir brauchen ein Bündnis... mit dem RN und seinen Kandidaten... bei dem wir uns aber selbst treu bleiben. Ich hoffe, dass meine politische Familie in diese Richtung gehen wird; viele folgen mir. ... Heute gibt es eine Kraft, die aufstehen wird und aufstehen muss, gegen die Machtlosigkeit von Macron und die Gefahr, die von Mélenchon ausgeht.
Da andere Funktionäre der LR öffentlich geschworen haben, niemals ein Bündnis mit den Neofaschisten einzugehen, ist in der Partei ein erbitterter Fraktionskampf ausgebrochen. Mélenchon wiederum hat sich in die Krise der LR eingeschaltet, um seine Hoffnung zu äußern, dass „noch immer ein rechter Widerstand“ gegen den Faschismus existiere. Am Mittwochmorgen erklärte Bardella, der RN sei in Dutzenden von Wahlkreisen bereit zu Wahlbündnissen mit LR-Kandidaten.
Die herrschende Klasse Frankreichs ist heute noch weniger fähig, demokratischen Widerstand gegen rechtsextreme Politik zu leisten, als sie es zu Beginn des Zweiten Weltkriegs war. Damals kollaborierte sie letztlich mit den Nazis, und auch heute ist sie zu allerletzt bereit, den Widerstand der Arbeiterklasse gegen das Erbe des europäischen Faschismus, gegen Militarismus, Völkermord und Polizeistaatsherrschaft, zu mobilisieren. Sie bereitet im Gegenteil europa- und weltweite Kriege gegen Russland und letztlich gegen China vor. Sie unterstützt Israels Völkermord im Gazastreifen und regiert im Inland mit nackter Polizeigewalt.
Die Eskalation des Kriegs und die Angriffe auf soziale und demokratische Rechte können nicht auf nationaler Ebene durch Manöver innerhalb des Parlamentssystems aufgehalten werden. Genau wie im Ersten Weltkrieg, der erst durch die bolschewistische Oktoberrevolution 1917 und die deutsche Revolution gegen den Kaiser 1918 beendet wurde, kann auch diesmal nur der internationale Kampf der Arbeiterklasse für die sozialistische Revolution zum Erfolg führen.
Das verdeutlicht, wie bankrott und im Grunde reaktionär die Forderung nach einer „Volksfront“ mit stalinistischen und sozialdemokratischen Parteien ist, die der LFI-Funktionär und Macron-Verbündete François Ruffin jetzt erhebt. Ruffin hatte zu einem Wahlbündnis zwischen der Sozialistischen Partei (PS), der stalinistischen Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF), den Grünen und LFI aufgerufen. Während LFI dieses Parteienbündnis zuvor als Neue ökologische und soziale Volksunion (NUPES) bezeichnet hatte, schlug Ruffin den Namen „Volksfront“ vor. In einem Video auf Twitter/X erklärte er:
Wir müssen etwas versuchen. Präsident Roosevelt hat das auch schon während des New Deal erklärt. Er sagte, das Land werde nicht zürnen, wenn es scheitert, aber es werde zürnen, wenn man es nicht versucht. Also haben wir letzte Nacht etwas versucht, wie eine Flaschenpost im Meer in BFM-TV: die Volksfront. ... Die Parteien werden es schaffen, aber je schneller sie es schaffen, desto besser. Und wir werden nicht warten, bis der weiße Rauch aufsteigt.
Derzeit führt LFI erbitterte Auseinandersetzungen mit Sozialdemokraten und ihren Verbündeten, zum Beispiel mit dem ehemaligen europäischen Spitzenkandidaten Raphaël Glucksmann oder dem ehemaligen Premierminister Bernard Cazeneuve, der unter der Parole „Einheit der Linken“ einen Kurs vertritt, der direkter mit der Beteiligung an einer Macron-Regierung vereinbar ist. Mélenchon unterstützt jedoch Ruffins Vorschlag. Er hat auf Twitter sein Angebot aus der Präsidentschaftswahl 2022 wiederholt, als Premierminister unter Macron zu dienen:
[Die LFI-Mitglieder] begraben einmal mehr allen Groll, um eine Einheit der Bevölkerung aufzubauen. Frankreich ist nicht zu der Strafe durch ein Bardella-Regime verurteilt. Eine Neue Volksfront wird wissen, wie sie regieren muss.
Das entscheidende Merkmal dieser „Volksfront“ ist ihr Versuch, ein Bündnis mit Kräften wie Glucksmann zu zimmern, die hysterisch den Krieg gegen Russland in der Ukraine und anderswo unterstützen. Ihre Befürworter haben auch die Entscheidung der Gewerkschaftsbürokratie unterstützt, letztes Jahr jeden Widerstand gegen Macrons Rentenkürzungen einzustellen.
Eine dringende Warnung muss ausgesprochen werden: Wer die Volksfront propagiert, um seine eigenen Ambitionen, Macron als Minister zu dienen, zu rechtfertigen – der zeigt damit nur seine erbitterte Feindschaft gegen die Arbeiterklasse, den Trotzkismus und die sozialistische Revolution.
Die Volksfront zwischen Stalinisten, Sozialdemokraten und Liberalen von 1934–1938 schuf die Grundlagen für den Weltkrieg. Nachdem sie einen Kampf der Arbeiterklasse um die Macht und den Sturz des Kapitalismus während des französischen Generalstreiks blockiert hatte, brach sie zusammen und spielte zu Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 eine völlig konterrevolutionäre Rolle. Die PCF unterstützte den Hitler-Stalin-Pakt, der es Hitler ermöglichte, Polen zu überfallen. Die Sozialdemokraten und die Liberalen wiederum stimmten mehrheitlich dafür, dem Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain 1940 Notstandsvollmachten zu erteilen.
Die Volksfront verbreitete die Lügen der Moskauer Prozesse, mit denen Stalin die Ermordung der alten Bolschewiki rechtfertigte, als er die sowjetischen Marxisten in den „Säuberungen“ liquidierte und den Mord an Leo Trotzkis 1940 vorbereitete.
Die Parti de l’égalité socialiste, französische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, ruft zu größtmöglichen Protesten und Streiks gegen Macrons Politik, Völkermord und imperialistischen Krieg auf. Krieg und Autoritarismus können nicht durch moralische Appelle an die Kapitalistenklasse beendet werden.
Die großen politischen Lehren des 20. Jahrhunderts müssen gezogen werden: Die tödliche Krise des Kapitalismus kann nicht gelöst werden ohne den Aufbau einer unabhängigen und vor allem internationalen Bewegung der Arbeiterklasse in den Betrieben und Fabriken. Es gilt, in dieser Bewegung in der Arbeiterklasse eine trotzkistische Avantgarde aufzubauen, um Unterstützung für die sozialistische Revolution zu gewinnen.
Mehr lesen
- Warum stieg die Zahl der rechtsextremen Wähler bei den Europawahlen?
- Internationale Nahost-Konferenz in Istanbul: Unterstützung der imperialistischen Propaganda durch Gilbert Achcar und die Pseudo-Linke
- Stoppt die US-Nato-Eskalation zum Atomkrieg! Vereinigt die internationale Arbeiterklasse gegen imperialistischen Krieg und Völkermord!