Weißbuch 2016: Bundesregierung entwickelt neue Militärdoktrin

Am Dienstag gab Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) den Startschuss für die Erarbeitung einer neuen Sicherheits- und Militärstrategie für Deutschland. Ihre Rede anlässlich der „Auftaktveranstaltung Weißbuch 2016“ in Berlin unterstrich, dass die herrschende Klasse Deutschlands 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg wieder einen aggressiven außenpolitischen Kurs einschlägt, bei dem Militäreinsätze eine wachsende Rolle spielen.

Fast zehn Jahre nach der Veröffentlichung des letzten Weißbuchs im Jahr 2006 sei „ein neues Weißbuch überfällig“, erklärte von der Leyen zu Beginn ihrer Ausführungen. Als Begründung nannte sie das veränderte „sicherheitspolitische Umfeld“. Konkret sprach sie „die alarmierende Entwicklung des transnationalen Terrorismus“ und „das Vorgehen Russlands in der Ukraine“ an, das „weitreichende Konsequenzen“ habe.

Sie hoffe zwar, dass der Waffenstillstand von Minsk umgesetzt werde, aber man solle sich „auch keiner Illusion hingeben“. „Die neue Politik des Kremls hat schon vor der Ukrainekrise begonnen und wird uns noch lange beschäftigen,“ sagte von der Leyen. Es gehe nun darum, „die angemessene Reaktion des Westens auf den Versuch“ zu finden, „geostrategische Machtpolitik als Form der Interessendurchsetzung zu etablieren“ und „international vereinbartes Recht und Regeln zu ersetzen durch Dominanz und Einflusszonen“.

Die Verteidigungsministerin verschwieg natürlich, dass die Krise in der Ukraine ein Ergebnis des von Berlin unterstützten und von faschistischen Kräften angeführten Putschs in Kiew vor einem Jahr ist. Sie gab aber implizit zu, dass der eigentliche Grund für das neue Weißbuch nicht die angebliche „russische Aggression“ in der Ukraine sei, sondern das Ende der außenpolitischen Zurückhaltung Deutschlands, das Bundespräsident Gauck, Außenminister Steinmeier und sie selbst Anfang 2014 auf der Münchner Sicherheitskonferenz verkündet hatten.

Die Notwendigkeit es neuen Weißbuchs allein auf das „gewandelte Umfeld“ zurückzuführen, wäre „sicher zu reaktiv“, erklärte von der Leyen. Es solle „vielmehr auch der Selbstanalyse und Selbstvergewisserung dienen. Es soll unsere Haltung und unseren Handlungsanspruch klar aufzeigen – es soll ein Narrativ bieten.“

Dieses „neue Narrativ“ ist im vergangenen Jahr bereits intensiv entwickelt worden. In zahlreichen Reden, Kommentaren, Interviews und Strategiepapieren haben deutsche Politiker, Journalisten, Akademiker, Thinktanks und Parteistiftungen immer wieder gefordert, dass Deutschland „mehr Führung“ und „Verantwortung“ in Europa und in der Welt übernehmen müsse. Dazu brauche es eine außenpolitische Strategie, die deutsche Interessen klar formuliere, und die notwendigen Instrumente, um diese auch militärisch zu verteidigen.

Von der Leyen knüpfte daran an. Sie betonte, dass „sich unsere Handlungsanspruch an die deutsche Sicherheitspolitik ganz wesentlich geändert“ habe. Es gehe um das „Führen aus der Mitte“ und die „Bereitschaft zum Engagement“. Sie lies keinen Zweifel daran, dass damit die Entwicklung einer global orientierten Außenpolitik zur Verteidigung „sicherheitspolitischer Interessen“ gemeint ist.

Irgendwelche geografische, politische oder sonstige Grenzen schloss die Ministerin ausdrücklich aus. Sie erklärte praktisch die ganze Welt zum zukünftigen Gebiet deutscher Militäreinsätze, die unter jedem beliebigen Vorwand stattfinden können. Es dürfe kein „starres Handlungsmuster“ geben, „das unseren Interessen unverrückbare geographische oder qualitative Grenzen setzt“, sagte sie. Es gebe „keine Checkliste für Auslandseinsätze“, „keinen Zugzwang“, aber auch „kein Tabu“.

„Mehr Verantwortung“ könne auch bedeuten, „gemeinsam zu kämpfen, Frieden zu erzwingen oder zu bewahren“. Es könne heißen, „in fragilen Regionen gemeinsam zu ertüchtigen, auszubilden und aufzubauen“.

Konkret lobte von der Leyen das deutsche Eingreifen im Nordirak, in Afghanistan, im Kosovo, vor der Küste des Libanon und in Mali. In Osteuropa leiste Deutschland „starkes Engagement“ bei der Aufrüstung der Nato. Zusammen „mit Partnern“ stelle es „den Beginn der neuen schnellen Speerspitze“ und baue das Nato-Hauptquartier in Stettin aus.

Gegen Ende ihres Vortrags lies die Verteidigungsministerin die Katze aus dem Sack: Deutschland müsse in der Zukunft massiv aufrüsten! Es sei notwendig „die eigenen Streitkräfte ... auf Dauer partnerfähig zu halten und mit den nötigen Mitteln auszustatten“. Weitere Themen des Weißbuchs seien deshalb „Bemühungen um eine moderne Rüstungsbeschaffung“, eine „zeitgemäße Personalpolitik“ und ein „angemessener Haushalt“.

Wie um ein Signal zu senden gab von der Leyen am gleichen Tag ihren ersten eigenen Rüstungsauftrag bekannt. Das Verteidigungsministerium plane die Anschaffung von 138 Hubschraubern für die Bundeswehr, darunter 80 Mehrzweckhubschrauber des Typs NH90 und 40 Kampfhubschrauber „Tiger“. Die Kosten: rund 8,7 Milliarden Euro.

Bisher hatte die Bundesregierung die Aufrüstungsfrage aufgrund des weit verbreiteten Widerstands gegen Militarismus und Krieg nur zurückhaltend thematisiert. Das soll sich mit dem Weißbuchprozess nun ändern.

Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, der ebenfalls sprach, erklärte, es sei „jetzt höchste Zeit für neue strategische Leitlinien“. Die Verteidigungsministerin müsse „zum Befreiungsschlag ausholen“ und es könne „nur im Sinne der ganzen Bundesregierung sein, die Bundeswehr gerade vor dem Hintergrund aktueller Krisen und Konflikte wieder in die Vollausstattung zu führen“. Wüstner hatte bereits auf der Münchner Sicherheitskonferenz vor zwei Wochen gefordert, Deutschland müsse aufrüsten und „auf den Krieg vorbereitet“ sein.

Ins gleiche Horn stieß ein Gastbeitrag in der Süddeutschen Zeitung von Christian Mölling, einem Mitarbeiter der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Von der Leyen müsse mit dem Weißbuch die Frage beantworten, „welche Rolle deutsche Soldaten, Hubschrauber und Panzer für die Außenpolitik und in Krisen spielen sollen“. In „der Realität“ entschieden „sich die Möglichkeiten der Verteidigungspolitik an den tatsächlich vorhandenen Fähigkeiten der Bundeswehr und nicht an den äußeren Gefahren. Nicht die steigende Unsicherheit der Seewege, sondern die Zahl der jetzt und in Zukunft vorhandenen Fregatten bestimmt den deutschen Beitrag zu deren Sicherung,“ so Möllering.

Die SWP hatte bereits im Herbst 2013 das Strategiepapier „Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch“ veröffentlicht, das die Vorlage für die Rückkehr des deutschen Militarismus im vergangenen Jahr lieferte. Während damals noch hinter verschlossenen Türen über eine neue deutsche Außenpolitik beraten wurde, soll die Diskussion über das Weißbuch nun in aller Öffentlichkeit stattfinden.

Von der Leyen erklärte zum Schluss ihrer Ausführungen, dass sie sich „auf die Zusammenarbeit mit den Experten aus den Ressorts, aus dem Bundestag, aus den Stiftungen und der Wissenschaft“ freue.

Dazu sind bereits vier Arbeitsgruppen zu den Themen „Sicherheits- und Verteidigungspolitik“, „Partnerschaften und Bündnisse“, „Bundeswehr“ und „Nationaler Handlungsrahmen“ ins Leben gerufen worden. Unter den Teilnehmern befinden sich führende Sicherheitspolitiker, Journalisten, Akademiker, Militärs, und Vertreter deutscher und amerikanischer Thinktanks.

Unter ihnen sind, um nur einige Namen zu nennen: Sylke Tempel, die Chefredakteurin der Zeitschrift Internationale Politik; Thomas Bagger, der Chef des Planungsstabs im Auswärtigen Amt; Generalmajor Hans-Werner Wiermann, Kommandeur des Kommandos Territoriale Aufgaben der Bundeswehr in Berlin; Winfried Nachtwei, der ehemalige sicherheitspolitische Sprecher der Grünen; Henning Otte, der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; Constanze Stelzenmüller, frühere sicherheitspolitische Redakteurin der Zeit und Fellow beim amerikanischen Thinktank Brookings Institution; Generalleutnant Heinrich Brauß, beigeordneter Generalsekretär der NATO für Verteidigungspolitik und Streitkräfteplanung; und der Humboldt-Professor Herfried Münkler.

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