Trotzkis letztes Jahr

Teil 6

Dies ist der sechste und letzte Teil einer Serie. Der erste Teil wurde am 24. August, der zweite Teil am 25. August, der dritte Teil am 1. September, der vierte Teil am 5. September und der fünfte Teil am 9. September veröffentlicht.

In seinem letzten Lebensjahr setzte sich Trotzki mit wesentlichen Fragen der historischen Perspektiven auseinander, die durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs aufgeworfen wurden. Warum folgten auf die Revolution von 1917 in Russland – die von den Bolschewiki als Vorbote der sozialistischen Weltrevolution proklamiert worden war – die Niederlagen der Arbeiterklasse in Italien, China, Deutschland und Spanien, um nur die folgenschwersten der politischen Katastrophen zu nennen? Warum hatte die Große Depression – der größte wirtschaftliche Zusammenbruch in der Geschichte des Kapitalismus – nicht zum Sozialismus, sondern zu Faschismus und Krieg geführt? Und schließlich, warum war der auf der Grundlage der Oktoberrevolution gegründete Arbeiterstaat zu einem monströsen totalitären Regime degeneriert?

Die Antwort, die von einem ganzen Heer kleinbürgerlicher Intellektueller und ehemaliger Radikaler gegeben wurde, lautete, dass die Niederlagen den Bankrott des Marxismus und der gesamten Perspektive der sozialistischen Revolution bewiesen. Trotzki hatte in einem Artikel vom März 1939 die politische Psychologie und Perspektive dieser Schichten beschrieben:

Die Gewalt siegt nicht nur, auf ihre Art überzeugt sie auch. Der Druck der Reaktion zerbricht nicht nur die Parteien physisch, sondern zersetzt auch die Menschen moralisch. Vielen der Herren Radikalen sinkt das Herz in die Hosen. Ihre Furcht vor der Reaktion übersetzen sie in gegenstandslose und allgemeine Kritizismen. „Etwas muss an den alten Theorien und Methoden falsch gewesen sein.“ „Marx irrte“ ... „Lenin hat nicht vorausgesehen“ ... Andere gehen sogar noch weiter. „Die revolutionäre Methode hat Bankrott gemacht.“[1]

Der größte Fehler des Marxismus, so folgerten die demoralisierten Intellektuellen, sei, dass er der Arbeiterklasse eine revolutionäre Aufgabe zugeschrieben habe, die sie nicht erfüllen könne. Die wesentliche Ursache aller Katastrophen der 1920er und 1930er Jahre sei daher darin begründet, dass die Arbeiterklasse an sich keine revolutionären Eigenschaften habe.

Das Gründungsdokument der Vierten Internationale begann mit einer deutlichen Absage an die defätistische und ahistorische Perspektive der Antimarxisten. Das grundlegende Problem der Epoche des Todeskampfes des Kapitalismus war nicht das Fehlen einer revolutionären Klasse, sondern vielmehr das Fehlen einer fähigen revolutionären Führung, die der Arbeiterklasse zur Eroberung der Macht verhilft.

„Die politische Weltlage als Ganzes“, schrieb Trotzki, „ist vor allem durch eine historische Krise der proletarischen Führung gekennzeichnet“.[2]

Leo Trotzki 1940

Diese bekannten Zeilen werden oft als bloße Mahnung gelesen, die die Kader der Vierten Internationale mit einer rhetorisch hochfliegenden Erklärung der politischen Mission der Partei inspirieren sollte. Eine solche Interpretation verfehlt die eigentliche Bedeutung der Erklärung, die eine prägnante Zusammenfassung der wesentlichen Lehre aus den Niederlagen der Arbeiterklasse darstellt.

In der zweiten These über Feuerbach schrieb Marx 1845: „Der Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens – das von der Praxis isoliert ist – ist eine rein scholastische Frage“.[3] Trotzki wandte diese grundlegende Auffassung des philosophischen Materialismus auf das Schicksal der sozialistischen Revolution an, und so besagt seine Formulierung zu Beginn des Gründungsdokuments der Vierten Internationale im Wesentlichen: Diskussionen über den revolutionären oder nicht-revolutionären Charakter der Arbeiterklasse, losgelöst von der Untersuchung der Praxis ihrer führenden Parteien und Organisationen, sind abstrakt, ohne politischen Inhalt und falsch.

Der Essay, an dem Trotzki zum Zeitpunkt seines Todes arbeitete, war der Untermauerung seiner Auffassung der Krise der Führung gewidmet. Er trug den Titel „Klasse, Partei und Führung: Warum wurde das spanische Proletariat besiegt? (Fragen der marxistischen Theorie)“. Der Artikel, der mitten im Satz abrupt endet, erschien in der Dezemberausgabe der Vierten Internationale von 1940, vier Monate nach Trotzkis Tod. Obwohl unvollständig, gehört der Aufsatz – sowohl philosophisch-theoretisch als auch politisch betrachtet – zu den tiefgründigsten Darlegungen der dialektischen Beziehung zwischen den objektiven und subjektiven Faktoren des revolutionären Prozesses in der Epoche des Todeskampfes des Kapitalismus.

Trotzkis Essay war eine Reaktion auf eine Rezension in der französischen radikalen Zeitschrift Que Faire, die verächtlich über eine Broschüre mit dem Titel Verratenes Spanien herzog. Der Autor der Broschüre war Mieczyslaw Bortenstein, Mitglied der Vierten Internationale, der unter dem Pseudonym M. Casanova schrieb. Bortenstein hatte in Spanien gekämpft, wo er Zeuge der stalinistischen Sabotage der Revolution geworden war. Die Broschüre wurde grundlegend von Trotzkis Entlarvung der Volksfront und seiner Kritik an der zentristischen Politik der POUM beeinflusst, stützte sich aber vor allem auf die persönlichen Erfahrungen des Autors in Spanien. Abgesehen von dieser einen Broschüre ist relativ wenig über Bortensteins politische Aktivitäten bekannt. Man weiß allerdings, dass sein Leben im Alter von 35 Jahren auf tragische Weise endete. Nach der Machtübernahme der Nazis in Frankreich wurde Bortenstein von der Vichy-Regierung verhaftet und schließlich in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert, wo er 1942 ermordet wurde.

Bortenstein schrieb seinen Text nach der widerstandslosen Preisgabe von Barcelona durch die stalinistisch dominierte Volksfrontregierung an die faschistische Armee unter Franco. Die Aushändigung dieser einstigen Zitadelle der Arbeiterrevolution war der Höhepunkt des Verrats, den die Volksfront darstellte. In der Einleitung der Broschüre schrieb Casanova-Bortenstein:

Ich muss das, was gerade passiert ist, auf der Grundlage meiner eigenen Erfahrungen darlegen. Ich muss die Tatsachen berichten. Ich werde beschreiben, wie strategische Positionen von entscheidender Bedeutung kampflos aufgegeben wurden, wie Verteidigungspläne von einem verräterischen Generalstab an den Feind übergeben wurden, wie die Kriegsindustrie sabotiert und die Wirtschaft desorganisiert wurde, wie die besten Kämpfer der Arbeiterklasse ermordet wurden und wie faschistische Spione von der „republikanischen“ Polizei geschützt wurden, um zu erklären, wie der revolutionäre Kampf des Proletariats gegen den Faschismus verraten und Spanien an Franco ausgeliefert wurde.

Meine Analyse und die Fakten, die ich liefern werde, gehen alle auf ein und dasselbe Thema zurück: die kriminelle Politik der Volksfront. Nur die Arbeiterrevolution hätte den Faschismus besiegen können. Die gesamte Politik der republikanischen, sozialistischen, kommunistischen und anarchistischen Führer wirkte darauf hin, die revolutionäre Energie der Arbeiterklasse zu zerstören. „Zuerst den Krieg gewinnen und danach die Revolution machen“ – diese reaktionäre Parole diente dazu, die Revolution zu erdrosseln, um danach den Krieg zu verlieren.[4]

Es sei entscheidend, dass die Lehren aus der spanischen Katastrophe gezogen würden, erklärte Casanova-Bortenstein. „Weder der Sozialismus noch der Marxismus sind in Spanien gescheitert, sondern diejenigen, die ihn so verbrecherisch verraten haben.“[5]

Der Verriss von Bortensteins Broschüre, der in Que Faire veröffentlicht wurde – einer Zeitschrift, deren Herausgeber der Kommunistischen Partei Frankreichs den Rücken gekehrt hatten – veranschaulicht die zynische Haltung kleinbürgerlicher Zentristen. Bortenstein wird darin angegriffen, weil er sich auf die Parteien und die Politik konzentrierte, die für die Niederlage verantwortlich waren, anstatt sich auf die Eigenschaften der spanischen Arbeiterklasse zu konzentrieren – vor allem auf ihre „Unreife“ –, die sie angeblich unfähig machten, den Faschismus zu besiegen. „Wir werden“, behauptete Que Faire, „in ein von Dämonen allein beherrschtes Gebiet geführt. Der für die Niederlage Verantwortliche ist der Obersatan Stalin, umringt von den Anarchisten und all den anderen kleinen Teufeln: Der Gott der Revolutionäre schickte unglücklicherweise keinen Lenin oder Trotzki nach Spanien, wie Er es 1917 in Russland tat.“[6]

Trotzki unterwarf den Angriff Que Faires auf Bortensteins Streitschrift einer vernichtenden Kritik. Dieser „theoretische Hochmut“ der Rezension von Que Faires, so schrieb er, „ist umso bemerkenswerter, als es geradezu unfassbar ist, wie so viele abgedroschene, platte und falsche, für einen konservativen Philister charakteristische Bemerkungen in so wenigen Zeilen untergebracht werden konnten“.[7]

Das zentrale Ziel von Que Faires Reaktion bestand darin, die Parteien, Organisationen und Einzelpersonen in der Führung der Arbeiterklasse von jeglicher Verantwortung für die Katastrophe in Spanien freizusprechen. Die Schuld für die „falsche Politik der Massen“ sollte demnach nicht ihren Urhebern angelastet werden, sondern der Arbeiterklasse, die als Folge ihrer „Unreife“ dazu neigte, eine falsche politische Linie zu verfolgen. Dieses Argument des Autors der Que Faire-Rezension war eine verachtenswerte Entschuldigung für die Verantwortlichen der Niederlage. Trotzki schrieb:

Wer auf Tautologien aus ist, könnte nirgends eine seichtere finden. Eine „falsche Politik der Massen“ wird erklärt durch die „Unreife“ der Massen. Aber was bedeutet „Unreife“ der Massen? Offensichtlich ihre Empfänglichkeit für falsche Politik. Worin nun die falsche Politik bestand und wer sie initiierte: die Massen oder die Führer – das wird schweigend von unserem Autor übergangen. Mit Hilfe einer Tautologie schiebt er die Verantwortung auf die Massen. Besonders empörend ist dieser klassische Trick aller Verräter, Deserteure und deren Anwälte in Verbindung mit dem spanischen Proletariat.[8]

Aber selbst wenn die Führer der spanischen Arbeiterklasse schlecht waren, argumentierten die Apologeten, war es dann nicht die Schuld der Massen, dass sie den schlechten Führern folgten? Als Antwort auf eine solch verderbliche Spitzfindigkeit wies Trotzki – zur Untermauerung von Bortensteins Augenzeugenbericht – darauf hin, dass die Arbeiterklasse immer wieder versuchte, die von den Stalinisten, Sozialdemokraten und Anarchisten errichteten politischen Barrieren zu durchbrechen; und dass ihre verräterischen Führer, wann immer die Arbeiterklasse kurz vor der Offensive stand, ihre konterrevolutionäre Politik mit Gewalt durchsetzten. Der Aufstand der Arbeiterklasse in Barcelona im Mai 1937 gegen die verräterische Politik der Volksfrontregierung wurde rücksichtslos niedergeschlagen. Trotzki schrieb:

Man muss schon absolut gar nichts auf dem Gebiet der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Klasse und der Partei, zwischen den Massen und der Führung begriffen haben, um die leere Phrase nachzuplappern, die spanischen Massen seien einfach ihren Führern gefolgt. Sie versuchten zu jeder Zeit, auf den richtigen Weg zu gelangen. Das einzige, was gesagt werden kann, ist, dass es über die Kraft der Massen ging, mitten im Kampf eine neue Führung aufzubauen, die den Erfordernissen der Revolution entsprochen hätte.[9]

Trotzki erinnerte an den überstrapazierten Ausspruch, dass jedes Volk die Regierung bekommt, die es verdient. Übertragen auf den Bereich gesellschaftlicher Kämpfe würde dieses Argument besagen, dass jede Klasse die Führung bekommt, die sie verdient. Wenn die Arbeiter also schlechte Führer haben, haben sie diese auch verdient; denn sie sind unfähig, bessere hervorzubringen. Trotzki antwortete auf dieses formale und mechanische Argument.

In Wirklichkeit ist die Führung durchaus nicht die „einfache Widerspiegelung“ einer Klasse oder das Produkt ihrer eigenen schöpferischen Kraft. Eine Führung wird vielmehr im Prozess der Zusammenstöße zwischen den verschiedenen Klassen oder der Reibung zwischen den verschiedenen Schichten einer gegebenen Klasse geformt. Einmal aufgestiegen, erhebt sich die Führung stets über die Klasse und wird dadurch den Einflüssen und dem Druck anderer Klassen ausgesetzt. Das Proletariat kann für lange Zeit eine Führung „dulden“, die schon eine vollständige innere Degeneration durchgemacht hat, die jedoch noch nicht die Gelegenheit hatte, dies angesichts großer Ereignisse zu zeigen.

Ein großer historischer Schock ist notwendig, um in aller Schärfe die Widersprüche zwischen der Führung und der Klasse zu enthüllen. Die mächtigsten historischen Schocks sind Kriege und Revolutionen. Genau aus diesem Grunde wird die Arbeiterklasse oft unversehens von Krieg und Revolution überrascht. Aber sogar dann, wenn die alte Führung ihre innere Korruption offenbart hat, kann die Klasse sich nicht aus dem Stegreif eine neue Führung schaffen, zumal wenn sie nicht aus der vorangegangenen Periode starke revolutionäre Kader ererbt hat, die fähig sind, sich den Zusammenbruch der alten führenden Partei zunutze zu machen. Die marxistische, d.h. dialektische und nicht scholastische Interpretation der gegenseitigen Beziehungen zwischen einer Klasse und ihrer Führung lässt von der legalistischen Sophistik unseres Autors keinen Stein auf dem anderen.[10]

Die bürgerliche Kritik am Marxismus – insbesondere, wie sie an den Universitäten propagiert wird – behauptet gewöhnlich, dass der deterministische philosophische Materialismus dem „subjektiven Faktor“ in der Geschichte nicht genügend Aufmerksamkeit schenke. Aufgrund seiner Fixierung auf die sozioökonomischen Grundlagen und die Klassenstruktur der Gesellschaft berücksichtige der Marxismus nicht, wie das Bewusstsein, insbesondere in seinen über der Geschichte stehenden und irrationalen Erscheinungsformen, die chaotische Entwicklung der Gesellschaft präge. Diese Kritik, die dem Marxismus eine rigide Trennung von objektiven und subjektiven Faktoren zuschreibt, verbindet Unwissenheit mit Verzerrung und völliger Verfälschung. Ein zentrales Thema in Trotzkis Schriften war über viele Jahre hinweg die entscheidende Rolle des subjektiven Faktors für den Ausgang revolutionärer Kämpfe gewesen – politischen Führungspersönlichkeiten wurde hierbei eine besondere Bedeutung beigemessen. In einem bekannten Tagebucheintrag von 1935 betonte Trotzki die entscheidende Rolle, die Lenin beim Sieg der Oktoberrevolution gespielt hatte. „Wäre ich 1917 nicht in Petersburg gewesen, so würde die Oktoberrevolution dennoch ausgebrochen sein – unter der Voraussetzung, dass Lenin anwesend gewesen wäre und die Führung gehabt hätte.“[11]

In seiner Widerlegung von Que Faire kehrte Trotzki zur Rolle Lenins in der Oktoberrevolution zurück. Er wies die von den Autoren vorgenommene Ersetzung der „dialektischen Bedingtheit des historischen Prozesses“ durch „mechanistischen Determinismus“ und „die billigen Albernheiten über die Rolle von – guten und schlechten – Individuen“ zurück. Der Klassenkampf entfaltet sich nicht als ein übermenschlicher Prozess. Er wird von realen Menschen gemacht, und ihr Handeln trägt dazu bei – und entscheidet bisweilen sogar darüber –, ob ein revolutionärer Aufstand siegt oder scheitert oder ob er überhaupt stattfindet. „Die Ankunft Lenins in Petrograd am 3. April 1917 brachte die rechtzeitige Wendung der bolschewistischen Partei und befähigte sie, die Revolution zum Siege zu führen.“[12] Trotzki fuhr fort:

Unsere Weisen mögen behaupten, dass, wäre Lenin Anfang 1917 im Ausland gestorben, die Oktoberrevolution „genauso“ stattgefunden hätte. Dem ist aber nicht so. Lenin repräsentierte eines der lebendigen Elemente des historischen Prozesses. Er verkörperte die Erfahrung und die Einsicht des aktivsten Teils des Proletariats. Sein zeitiges Erscheinen in der Arena der Revolution war notwendig, um die Avantgarde zu mobilisieren und ihr eine günstige Gelegenheit zu verschaffen, die Arbeiterklasse und die Bauernschaft um sich zu sammeln. In den entscheidenden Momenten historischer Wendungen kann die politische Führung ein genauso entscheidender Faktor werden wie das Oberkommando in den kritischen Momenten eines Krieges. Geschichte ist kein automatischer Prozess. Warum sonst Führer? Warum Parteien? Warum Programme? Warum theoretische Auseinandersetzungen?[13]

In seiner Schrift stellte Bortenstein mit Bitterkeit fest, dass alle Parteien und Einzelpersonen, deren politische Fehler und sogar glatter Verrat die Niederlage der Spanischen Revolution gesichert hatten, in der Folge behaupteten, dass kein anderer Ausgang der Ereignisse möglich gewesen wäre. „Wenn wir den Erklärungen der Führer der Volksfront, einschließlich der Anarchisten, zuhören und diese wirklich ernst nehmen, bleibt uns nichts anderes übrig als zu verzweifeln und alle Hoffnung auf die revolutionären Fähigkeiten des Proletariats, seine Zukunft und sogar seine historische Mission zu verlieren.“[14] An Entschuldigungen für die Niederlage mangelte es nicht.

Nach Ansicht unserer kleinbürgerlichen Demokraten der Volksfront war alles unvermeidlich. Die Republikaner und Sozialisten rechtfertigten die Niederlage mit der militärischen Überlegenheit der Faschisten und die Kommunisten mit der Existenz einer pro-faschistischen Bourgeoisie (was für eine Entdeckung!), die durch ihre Politik der Nichteinmischung Franco begünstigte. Sie vergaßen hinzuzufügen, dass sie die Regierung Blum unterstützten, die diese Politik einleitete. Die Anarchisten rechtfertigten ihre Kapitulationen und ihren wiederholten Verrat mit der Erpressung, die die Russen mit den Waffen, die sie den Republikanern schickten, ausübten. Was die POUM betrifft, so schloss auch sie sich dem fatalistischen Chor an und sagte „Wir waren zu schwach, und wir mussten den anderen folgen, und vor allem konnten wir die Einheit nicht brechen.“ So war alles unvermeidlich. Was geschah, musste geschehen und wurde vor langem bereits im Koran vorausgesagt ...[15]

In einer großartigen Passage unterstützte Trotzki von ganzem Herzen Bortensteins Anklage gegen den selbstgerechten Fatalismus derer, die die spanischen Arbeiter in die Niederlage geführt hatten.

Diese Philosophie der Ohnmacht, die versucht, Niederlagen als notwendige Glieder in der Kette überirdischer Entwicklungen hinzunehmen, ist total unfähig, Fragen nach solch konkreten Faktoren wie Programmen, Parteien, Persönlichkeiten, die die Organisatoren der Niederlagen waren, überhaupt aufzuwerfen, und weigert sich, dies zu tun. Diese Philosophie des Fatalismus und der Schwäche ist dem Marxismus als der Theorie der revolutionären Aktion diametral entgegengesetzt.[16]

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Trotzki setzte die Arbeit an seiner Stalin-Biographie fort. Im letzten Kapitel des unvollendeten Werks mit dem Titel „Die Thermidorianische Reaktion“ unterzog er Stalin und sein Gefolge einer kritischen Beurteilung und zeichnete ein verheerendes Bild.

Im Lager des Stalinismus wird man im Allgemeinen keinen einzigen begabten Schriftsteller, Historiker oder Kritiker finden. Es ist ein Königreich der arroganten Mittelmäßigkeiten. Daher die Leichtigkeit, mit der hochqualifizierte Marxisten, durch zufällige und zweitklassige Leute, die die Kunst des bürokratischen Manövrierens beherrschten, ersetzt werden konnten. Stalin ist die herausragendste Mittelmäßigkeit der Sowjetbürokratie. Ich kann keine andere Definition als diese finden.[17]

Die Verwandlung Stalins in ein „Genie“ war das Werk der Bürokratie, die in ihm ein brutales Instrument für ihr Streben nach Privilegien fand. Der Mythos Stalin, der aus Lügen entstand, war die Schöpfung der Bürokratie. „Dieser massive, organische, unbezwingbare Charakter der Lüge“, bemerkte Trotzki, „ist der unbestreitbare Beweis dafür, dass es nicht nur um persönliche Ambitionen eines Einzelnen geht, sondern um etwas unermesslich Größeres: Die neue Kaste der privilegierten Emporkömmlinge musste ihren eigenen Mythos haben“.[18]

Die gesamte kulturelle Entwicklung der Sowjetunion wurde durch das bürokratische Regime erstickt. „Literatur und Kunst der stalinschen Epoche“, schrieb Trotzki, „werden in die Geschichte als Exempel des absurdesten und abscheulichsten Byzantinismus eingehen“.[19] Selbst die wirklich begabten Künstler waren gezwungen, sich im Dienste Stalins zu prostituieren. Trotzki zitierte ein Gedicht von Alexei Tolstoi, in dem Stalin als eine Gottheit dargestellt wird: „Du, strahlende Sonne der Nationen, / Nie sinkende Sonne unserer Zeit“ usw. Zu diesen Zeilen schrieb Trotzki: „Um die Dinge beim richtigen Namen zu nennen, erinnert diese Poesie eher an das Grunzen eines Schweins.“[20]

Sogar die sowjetische Architektur wurde von Stalin verzerrt und degradiert. Das Haus der Sowjets, das nach den Vorgaben Stalins erbaut wurde, war „ein monströses Gebäude, das mit seiner imposanten Nutzlosigkeit und rohen Grandiosität den konkreten Ausdruck eines brutalen Regimes ohne jegliche Ideen oder Perspektive darstellt“.[21] Was Filme betrifft, so waren ihre Regisseure und Schauspieler gezwungen, Anweisungen von Stalin entgegenzunehmen. Ihr einziger Zweck wurde die Verherrlichung des Diktators. „Auf diese Weise wurde die sowjetische Kinematographie, die einen so vielversprechenden Anfang gemacht hatte, mausetot gemacht.“[22]

Was den Menschen Stalin anbelangt – soweit der lebende Mensch von dem Mythos, in den er eingehüllt war, getrennt werden konnte –, so betonte Trotzki, dass sein wesentliches Merkmal „persönliche physische Grausamkeit, das, was man Sadismus nennt“, gewesen ist.[23]

Unfähig, an die besten Instinkte der Massen zu appellieren, appelliert Stalin an ihre niedrigsten Instinkte – Ignoranz, Intoleranz, Engstirnigkeit, Primitivität. Er sucht den Kontakt mit ihnen durch grobe Ausdrücke. Diese Grobheit dient aber auch als Tarnung für seine Gerissenheit. Seine ganze Leidenschaft steckt er in sorgfältig gehegte Pläne, denen alles andere untergeordnet ist. Wie sehr er Autorität verabscheut! Und wie sehr er es liebt, sie durchzusetzen![24]

Über seine eigene subjektive Haltung gegenüber Stalin schrieb Trotzki auf der vorletzten Seite der Biographie:

Die Stellung, die ich jetzt einnehme, ist einzigartig. Deshalb habe ich das Recht zu sagen, dass ich nie ein Gefühl des Hasses gegen Stalin empfunden habe. Es wird viel über meinen so genannten Stalinhass gesagt und geschrieben, der mich offenbar mit düsteren und beunruhigenden Urteilen erfüllt. Ich kann über all dies nur mit den Achseln zucken. Unsere Wege haben sich vor so langer Zeit getrennt, dass jede persönliche Beziehung, die zwischen uns bestand, längst völlig ausgelöscht ist. Für meinen Teil und in dem Maße, wie Stalin ein Werkzeug historischer Kräfte ist, die mir fremd und feindlich gesinnt sind, sind meine persönlichen Gefühle gegenüber Stalin nicht von meinen Gefühlen gegenüber Hitler oder dem japanischen Mikado zu unterscheiden.[25]

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Die Welt von 1940 schien einen Alptraum zu durchleben. Wie zerbrechlich und hilflos erschien die Zivilisation angesichts der voranschreitenden Barbarei! Unter dem Druck der Reaktion gaben selbst die klügsten und sensibelsten Vertreter der europäischen Intelligenz jede Hoffnung auf. Walter Benjamin, der in einem prekären Exil lebte, übersetzte seine persönliche Verzweiflung in ein krankhaft demoralisiertes „Über den Begriff der Geschichte“. Der Hitlerismus war demnach nicht die Negation der Zivilisation, sondern ihr wahres Wesen. „Es ist niemals ein Dokument der Kultur“, meinte er, „ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den andern gefallen ist“.[26]

Benjamin machte auf das Gemälde Angelus Novus des Künstlers Paul Klee aufmerksam. In diesem Werk werde die reale Natur des historischen Prozesses dargestellt: „Еr hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“[27] Benjamins Verzweiflung führte ihn zu Zynismus, den er gegen die Perspektive der sozialistischen Revolution richtete. Von den „Еpigonen“ von Marx, schrieb er bitter, sei „die Vorstellung von der ‚revolutionären Situation‘“ abgeleitet worden, „die bekanntlich nie kommen wollte“.[28]

Was blieb Walter Benjamin also anderes übrig, als sich das Leben zu nehmen? Auf der Flucht aus Vichy-Frankreich und in Sichtweite der spanischen Grenze war Benjamin von der Ausweglosigkeit seiner Situation überzeugt und beging am Abend des 26. September 1940 Selbstmord. Hätte er nur einen Tag länger gewartet, wäre der Schriftsteller sicher über die Grenze gekommen.

Trotzki hätte zweifellos großes Mitgefühl für Benjamin empfunden. Aber das Gefühl der Verzweiflung war dem Revolutionär fremd. Sein ausgeprägter Sinn für Geschichte ermöglichte es ihm, die Brutalität seiner Zeit in den richtigen Kontext zu stellen. In einem Abschnitt der Stalin-Biographie, der die Überschrift „Eine historische Parallele“ trägt, bemerkte Trotzki: „In dieser Periode des kapitalistischen Niedergangs bringt Europas Rückschritt viele der Züge der Kindheit des Kapitalismus hervor. Das heutige Europa ähnelt stark dem Italien des 15. Jahrhunderts.“[29] Natürlich war das eine Ära, in der die kleinen Staaten „die ersten Schritte eines infantilen Kapitalismus darstellten“. Aber die Epoche der Renaissance ähnelte der Neuzeit in einem wichtigen Punkt: „Es war eine Epoche des Übergangs von alten zu neuen Normen – eine amoralische und per se unmoralische Epoche“.[30] Kardinäle „schrieben pornografische Komödien, und die Päpste produzierten sie an ihren Höfen“.[31]

Die Korruption war das Hauptthema der italienischen Politik. Die Kunst des Regierens wurde in Cliquen praktiziert und bestand in den sanften Künsten der Lüge, des Verrats und des Verbrechens. Einen Vertrag zu erfüllen, ein Versprechen einzuhalten, galt als der Gipfel der Dummheit. Schlitzohrigkeit ging Hand in Hand mit Gewalt. Aberglaube und mangelndes Vertrauen vergifteten alle Beziehungen zwischen den Staatschefs. Es war die Zeit der Sforzas, der Medici, der Borgias. Aber es war nicht nur die Zeit von Verrat und Fälschung, von Gift und List. Es war auch die Zeit der Renaissance.[32]

Wie in der Zeit der Renaissance findet sich der moderne Mensch

an der Grenze zwischen zwei Welten – der bürgerlich-kapitalistischen, die Qualen erleidet, und jener neuen Welt, die sie ersetzen soll. Jetzt erleben wir wieder den Übergang von einem Gesellschaftssystem zum anderen, in der Epoche der größten sozialen Krise, die wie immer von einer Krise der Moral begleitet wird. Das Alte ist in seinen Grundfesten erschüttert worden. Das Neue hat kaum begonnen, sich herauszubilden. Soziale Widersprüche haben wieder eine außergewöhnliche Schärfe erreicht.[33]

Solche Zeiten üben einen immensen Druck auf den Einzelnen aus.

Wenn das Dach eingestürzt ist und die Türen und Fenster aus den Angeln gefallen sind, ist das Haus trostlos und schwer bewohnbar. Heute wehen stürmische Winde über unseren ganzen Planeten.[34]

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Trotzki sah sein Überleben des Angriffs vom 24. Mai lediglich als Gnadenfrist an. Er wusste, dass die GPU einen weiteren Anschlag auf sein Leben verüben würde. Harold Robins erinnerte in einem Gespräch mit dem Autor dieser Zeilen daran, dass Trotzki Anfang August um ein Treffen mit den Wachen bat. Die internationalen Nachrichten wurden von den Luftangriffen Nazi-Deutschlands gegen Großbritannien beherrscht. Trotzki sagte den Wachen, er erwarte, dass Stalin versuchen werde, die Ablenkung der Öffentlichkeit auszunutzen, indem er so bald wie möglich ein weiteres Attentat versuche. Ein bekannter Journalist aus Mexiko-Stadt, Eduardo Tellez Vargas, der für El Universal schrieb, traf sich nach dem Überfall vom 24. Mai mehrmals mit Trotzki. In einem Interview mit dem Internationalen Komitee im Dezember 1976 erinnerte sich Tellez Vargas an sein letztes Treffen mit Trotzki, das am 17. August 1940 stattfand, nur drei Tage vor dem Attentat. Tellez Vargas empfand aufrichtige Bewunderung für den großen Revolutionär und war zutiefst beunruhigt über das, was Trotzki ihm erzählte.

Es kam ein Moment, in dem Trotzki absolut niemandem mehr vertraute. Er vertraute niemandem. Er nannte keine Namen, aber er sagte zu mir: „Ich werde entweder von einem von ihnen hier drinnen getötet werden oder von einem meiner Freunde von draußen, von jemandem, der Zugang zum Haus hat. Denn Stalin kann mein Leben nicht verschonen.“[35]

Am Tag von Tellez Vargas' letztem Interview mit Trotzki kam ein weiterer Besucher in die Villa in der Avenida Viena. Jacques Mornard, diesmal ohne Sylvia Ageloff, wurde der Zutritt zum Gelände gestattet. Mornard behauptete, er habe einen Artikel geschrieben, von dem er wollte, dass Trotzki ihn liest. Trotzki, der mehrmals kurz mit Mornard zusammengekommen war, hatte bereits angedeutet, dass er den Mann nicht mochte. Mornard hatte sich daran gewöhnt, in Trotzkis Gegenwart über seinen „Chef“ zu sprechen, der durch Geschäftsspekulationen reich geworden war. In ihrem autobiographischen Bericht über ihr Leben mit Trotzki erinnerte Natalia Sedova daran, dass er „völlig gleichgültig“ war, als Mornard von den Heldentaten seines Chefs sprach. „Diese kurzen Gespräche irritierten mich früher“, schrieb Sedowa, „und auch Leon Dawidowitsch mochte sie nicht.,Wer ist dieser sagenhaft reiche Chef?‘, fragte er mich. ,Das sollten wir herausfinden. Schließlich könnte er irgendein Profiteur mit faschistischen Tendenzen sein, und es wäre vielleicht am besten, Sylvias Ehemann ganz und gar nicht mehr zu sehen...‘“.[36]

Das Treffen mit Mornard am 17. August verstärkte Trotzkis Besorgnis. Trotzki verließ sein Büro nach nur zehn Minuten. Er war durch Mornards Verhalten beunruhigt. Trotzki bemerkte, dass Mornard es versäumt hatte, seinen Hut abzunehmen, als er das Büro betrat, und sich dann auf die Ecke von Trotzkis Schreibtisch setzte. Dies war ein seltsam unangemessenes Verhalten für einen Mann, der behauptete, Belgier und in Frankreich aufgewachsen zu sein. Trotzki hatte nach nur wenigen Minuten mit Mornard Zweifel an der Nationalität des Besuchers. Isaac Deutscher erinnerte sich:

Wer war er [Mornard-Jacson] wirklich? Man müsste dahinterzukommen suchen. Natalja war verdutzt; es schien ihr, dass Trotzki „an ‚Jacson‘ eine neue Seite entdeckt hatte, aber noch nicht zu einer endgültigen Schlussfolgerung gelangt war und es auch wohl nicht eilig damit hatte“. Dennoch war die Bedeutung seiner Äußerung alarmierend: Wenn „Jacson“ sie bezüglich seiner Nationalität betrog, warum tat er das? Und betrog er sie nicht auch in anderen Dingen? In welchen? Diese Fragen müssen Trotzki durch den Kopf gegangen sein, denn zwei Tage später teilte er Hansen seine Beobachtungen mit, gleichsam, um sich zu vergewissern, ob auch anderen bereits ähnliche Befürchtungen gekommen waren.[37]

Die Tatsache, dass Trotzki nach nur wenigen Minuten in Mornards Gegenwart Zweifel an seiner Nationalität hatte und den Verdacht hegte, dass er ein Hochstapler sein könnte, lässt die Frage aufkommen, warum Alfred und Maguerite Rosmer, beide Franzosen, nie einen ähnlichen Verdacht entwickelten – obwohl sie viel mehr Zeit mit dem Mann verbrachten, der Trotzkis Mörder werden sollte.

Am späten Nachmittag den 20. August, eines Dienstags, kam Mornard unangemeldet erneut zu Trotzkis Haus. Trotz der Bedenken, die ihm direkt von Trotzki übermittelt worden waren, genehmigte Joseph Hansen – dessen GPU-Verbindungen fast vierzig Jahre später aufgedeckt werden sollten – Mornards Zutritt zum Gelände. Obwohl das Wetter warm und der Himmel wolkenlos war, trug Mornard einen Hut und einen Regenmantel. In dem Mantel verbarg er ein Messer, eine automatische Waffe und einen Eispickel. Mornard wurde nicht durchsucht. Es wurde ihm gestattet, Trotzki in sein Büro zu begleiten. Er reichte Trotzki eine angebliche Neufassung eines Artikels, den er am 17. August vorgelegt hatte. Als Trotzki den Artikel las, zog Mornard den Eispickel aus dem Mantel und hieb ihn auf Trotzkis Schädel. Obwohl tödlich verwundet, erhob sich Trotzki von seinem Stuhl und wehrte den Angreifer ab. Harold Robins, der Trotzki schreien hörte, rannte in das Arbeitszimmer und überwältigte den Attentäter.

Auf dem Weg ins Krankenhaus in Mexiko-Stadt verlor Trotzki das Bewusstsein. Er starb mit Natalia an seiner Seite am folgenden Abend.

* * * * *

Am 27. Februar 1940, sechs Monate vor seiner Ermordung, hatte Trotzki sein Testament geschrieben. Er beabsichtigte, die Erklärung nach seinem Tod veröffentlichen zu lassen. Obwohl seine Arbeitsfähigkeit ungeschmälert war, glaubte Trotzki, dass er nicht mehr lange zu leben hatte. Zu der allgegenwärtigen Bedrohung ermordet zu werden litt er zusätzlich an Bluthochdruck, für den es damals keine wirksame Behandlung gab. Das Testament diente Trotzki dazu, „die einfältige und niederträchtige Verleumdung Stalins und seiner Agenten zu widerlegen: Meine Ehre als Revolutionär ist makellos“.[38] Er drückte darin seine Überzeugung aus, dass künftige revolutionäre Generationen die Ehre von Stalins Opfern rehabilitieren und „mit den Henkern des Kreml abrechnen“ würden, „wie sie es verdient haben.“ Mit offensichtlichen Emotionen zollte Trotzki Natalia Sedowa Tribut: „Zu dem Glück, ein Kämpfer für den Sozialismus zu sein, gab mir das Schicksal das Glück, ihr Mann sein zu dürfen“.[39] Trotzki stellte dann für die Nachwelt noch einmal das Ziel, die Prinzipien und die Philosophie dar, die sein Lebenswerk geleitet hatten:

Dreiundvierzig Jahre lang bin ich ein bewusster Revolutionär geblieben; zweiundvierzig Jahre habe ich unter dem Banner des Marxismus gekämpft. Wenn ich von vorne beginnen könnte, würde ich natürlich versuchen, den einen oder anderen Fehler zu vermeiden, aber die große Linie niemals ändern. Ich werde als proletarischer Revolutionär, als Marxist, als dialektischer Materialist und folglich als unbeirrbarer Atheist sterben. Mein Glaube an eine kommunistische Zukunft ist heute noch stärker als in meiner Jugend.[40]

Trotzkis Menschlichkeit und Weitblick fanden ihren vollendeten Ausdruck im Abschluss des Testaments:

Natascha hat das Fenster zur Hofseite noch weiter geöffnet, damit die Luft besser in mein Zimmer strömen kann. Ich kann den glänzenden grünen Rasenstreifen unter der Mauer sehen, den klaren blauen Himmel darüber und die Sonne überall. Das Leben ist schön. Die kommende Generation möge es reinigen von allem Bösen, von Unterdrückung und Gewalt und es voll genießen.[41]

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Achtzig Jahre sind seit der Ermordung Trotzkis vergangen. Und doch hat der Lauf der Zeit seine Statur nicht geschmälert. Der Schatten, den dieser politische Gigant des 20. Jahrhunderts warf, wird im 21. Jahrhundert noch größer.

Die Geschichte hat Trotzki rehabilitiert und seine Feinde bezwungen. Das Gebäude des Stalinismus liegt in Trümmern. Der Name Stalin wird jetzt und für alle Zeiten mit kriminellem Verrat verbunden sein. Der Schaden, den seine Verbrechen der Sowjetunion zugefügt haben – politisch, wirtschaftlich und kulturell – war nicht wiedergutzumachen. Stalin wird in Erinnerung bleiben als eine der beiden monströsesten Gestalten des 20. Jahrhunderts, als ein konterrevolutionärer Massenmörder von Sozialisten, der an Bösartigkeit nur von Hitler übertroffen wurde. Trotzki hatte Recht: „Die Rache der Geschichte ist schrecklicher als die des mächtigsten Generalsekretärs“.[42]

Trotzkis Platz in der Geschichte bleibt bestehen und seine Bedeutung nimmt zu, weil die Grundtendenzen und Charakteristika des gegenwärtigen Kapitalismus und Imperialismus mit seiner Analyse der Dynamik der globalen kapitalistischen Krise und der Logik des globalen Klassenkampfes übereinstimmen. Seine Schriften – unverzichtbar für das Verständnis der heutigen Welt – sind noch genauso frisch wie am Tag ihrer Entstehung. Trotzkis Leben und Kämpfe, seine unerschütterliche Hingabe an die Befreiung der Menschheit, werden in der Geschichte weiterleben.

Die Welt hat Lew Dawidowitsch Trotzki nicht hinter sich gelassen. Wir leben immer noch in der Epoche, die er als Todeskampf des Kapitalismus definierte. Die Lösung zur Krise des Kapitalismus, für die er eintrat – die sozialistische Weltrevolution –, bietet den einzigen historisch fortschrittlichen Ausweg aus dieser existenziellen Krise des kapitalistischen Systems.

Aber dieserAusweg setzt voraus, dass die Krise der revolutionären Führung gelöst wird. Dies ist die Aufgabe, der sich das Internationale Komitee der Vierten Internationale im Gedenken an den achtzigsten Jahrestag von Trotzkis Tod erneut widmet.

Ende

Anmerkungen

[1] Leo Trotzki, „Nochmals zur Krise des Marxismus“, abrufbar unter: https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1939/leo-trotzki-nochmals-zur-krise-des-marxismus.

[2] Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, Essen 1997, S. 83.
[3] Karl Marx, „Thesen Über Feuerbach“, in: MEW, Bd. 3, Berlin 1969, S. 5.

[4] Mieczyslaw Bortenstein (M. Casanova), Spain Betrayed. How the Popular Front Opened the Gate to Franco, Introduction, abrufbar unter:
https://marxists.architexturez.net/history/etol/document/spain2/index.htm.

[5] Ebd.
[6] Rezension aus: Que faire, zitiert in: Leo Trotzki, „Кlasse, Partei und Führung“, in: Revolution und Bürgerkrieg in Spanien 1931-1939, Köln/Karlsruhe 2016, S. 406.

[7] Leo Trotzki, „Кlasse, Partei und Führung“, in: ebd., S. 407.

[8] Ebd.
[9] Ebd., S. 408.
[10] Ebd., S. 409-410.
[11] Leo Trotzki, Tagebuch im Exil, München 1962, S. 53, Hervorhebung im Original.
[12] Leo Trotzki, „Кlasse, Partei und Führung“, in: ebd., S. 413.

[13] Ebd.
[14] Mieczyslaw Bortenstein (M. Casanova), Spain Betrayed, Kapitel 21 unter
https://marxists.architexturez.net/history/etol/document/spain2/index.htm.

[15] Ebd.

[16] Leo Trotzki, „Кlasse, Partei und Führung“, in: ebd., S. 415.

[17] Leon Trotsky, Stalin: An Appraisal of the Man and His Influence, übersetzt von Alan Woods, London 2016, S. 663. Diese Ausgabe ist vollständiger als die verfügbaren deutschen Übersetzungen.
[18] Ebd., S. 671.
[19] Leo Trotzki, Stalin, Essen 2010, S. 439
[20] Leon Trotsky, Stalin: An Appraisal of the Man and His Influence, S. 671.
[21] Ebd., S. 671.
[22] Ebd., S. 671.
[23] Leo Trotzki, Stalin, Essen 2010, S. 463.
[24] Leon Trotsky, Stalin: An Appraisal of the Man and His Influence, S. 667.
[25] Ebd., S. 689. (Es gibt einen Fehler in der englischen Übersetzung des russischen Originaltextes, der in der spanischen Ausgabe der Biografie korrigiert wurde. Der Text in diesem Aufsatz enthält die Korrektur.)
[26] Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, Berlin 2010, S. 34.
[27] Ebd., S. 35
[28] Ebd., S. 154.
[29] Leon Trotsky, Stalin: An Appraisal of the Man and His Influence, S. 682.
[30] Ebd., S. 682.
[31] Ebd., S. 683.
[32] Ebd., S. 682.
[33] Ebd., S. 689.
[34] Ebd., S. 689.
[35] Internationales Komitee der Vierten Internationale, Trotsky’s Assassin At Large, Labor Publications 1977, S. 302-303.
[36] Victor Serge und Natalia Sedova Trotzki, The Life and Death of Leon Trotsky, New York 1975, S. 265.
[37] Isaac Deutscher, Trotzki: Der verstoßene Prophet, Stuttgart 1972, S. 459.
[38] Leo Trotzki, Testament, abrufbar unter:https://sites.google.com/site/sozialistischeklassiker2punkt0/trotzki/1940/leo-trotzki-testament.

[39] Ebd.
[40] Ebd.
[41] Ebd.
[42] LeoTrotzki, Stalin, Essen 2010, S. 427.

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