Perspektive

Lenins letzter Kampf

Vor hundert Jahren, am 23. Dezember 1922, begann Lenin mit der Abfassung eines Textes, der zu einem der wichtigsten Dokumente in der Geschichte der Sowjetunion werden sollte. Er bestand aus mehreren Artikeln, die in Form eines Briefs an den bevorstehenden Zwölften Parteitag der Kommunistischen Partei gesandt werden sollten. Lenin stand an der Spitze der Bolschewiki, hatte sich jedoch von seinem Schlaganfall, den er Anfang des Jahres erlitten hatte, nicht vollständig wieder erholt. Er war sich bewusst, dass sein Gesundheitszustand ihn an der Teilnahme am Kongress hindern könnte.

Diese Aufzeichnungen, die als Lenins Testament in die Geschichte eingegangen sind, enthielten eine Beurteilung der wichtigsten Vertreter der bolschewistischen Partei. Lenin betrachtete Führung als einen kollektiven Prozess, der auf Beziehungen beruht, welche wiederum die politischen Tendenzen innerhalb der Partei widerspiegeln. Er hatte daher nicht die Absicht, einen offiziellen Nachfolger vorzuschlagen. Lenins Beziehung zur bolschewistischen Partei war politisch und historisch so einzigartig, dass sie auf keinen Fall von einer anderen Person in gleicher Art übernommen und fortgesetzt werden konnte. Er war jedoch zutiefst besorgt, dass die Spannungen innerhalb der Partei zu gefährlichen Fraktionskonflikten innerhalb der zentralen Führung führen könnten, da eine wirtschaftliche und soziale Krise objektiv gegeben war und politische Differenzen existierten.

Wladimir Lenin im Jahr 1920

Um destruktiven Konflikten vorzubeugen, bewertete Lenin die Stärken und Schwächen der führenden Mitglieder des Zentralkomitees.

In seiner Notiz vom 24. Dezember schrieb Lenin:

Genosse Stalin hat, nachdem er Generalsekretär geworden ist, eine unermessliche Macht in seinen Händen konzentriert, und ich bin nicht überzeugt, dass er es immer verstehen wird, von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen.

Auf diese Einschätzung folgte diese Beurteilung Trotzkis:

Andererseits zeichnet sich Genosse Trotzki, wie schon sein Kampf gegen das ZK in der Frage des Volkskommissariats für Verkehrswesen bewiesen hat, nicht nur durch hervorragende Fähigkeiten aus. Persönlich ist er wohl der fähigste Mann im gegenwärtigen ZK, aber auch ein Mensch, der ein Übermaß von Selbstbewusstsein und eine übermäßige Vorliebe für rein administrative Maßnahmen hat.

Daraufhin warnte Lenin:

Diese zwei Eigenschaften zweier hervorragender Führer des gegenwärtigen ZK können unbeabsichtigt zu einer Spaltung führen, und wenn unsere Partei nicht Maßnahmen ergreift, um das zu verhindern, so kann die Spaltung überraschend kommen.

In den folgenden Tagen ergänzte Lenin diese Notizen.

Eine besonders kritische Frage, mit der sich Lenin beim Verfassen seiner Notizen auseinandersetzte, betraf das Verhältnis der sozialistischen Republiken innerhalb des 1922 gegründeten Sowjetstaates. Lenin, der ein Wiederaufleben der großrussischen Vorherrschaft innerhalb der UdSSR befürchtete, bestand auf dem Recht der sozialistischen Republiken wie der Ukraine und Georgien, sich von der Union abzuspalten.

In seinen Notizen vom 30. Dezember 1922 äußerte Lenin die Sorge, dass die Sowjetregierung keinen ausreichenden Schutz vor großrussischer Unterdrückung bieten könnte. In diesem Zusammenhang wurden Lenins Kommentare zu Stalin – insbesondere als er dessen missbräuchliches Verhalten gegenüber Vertretern nationaler Minderheiten in Georgien untersuchte – immer schärfer. In eindeutiger Anspielung auf Stalins Verhalten warnte Lenin vor „dem großrussischen Chauvinisten, der im Grunde ein Schurke und Tyrann ist, wie es der typische russische Bürokrat ist“.

Lenin weiter: „Mir scheint, hier haben Stalins Eilfertigkeit und sein Hang zum Administrieren wie auch seine Wut auf den ominören ‚Sozialnationalismus‘ eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Wut ist in der Politik gewöhnlich überhaupt von größtem Übel.“

Am 4. Januar 1923 fügte Lenin seiner Notiz vom 24. Dezember den folgenden Absatz hinzu:

Stalin ist zu grob, und dieser Mangel, der in unserer Mitte und im Verkehr zwischen uns Kommunisten durchaus erträglich ist, kann in der Funktion des Generalsekretärs nicht geduldet werden. Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte, und jemand anderen an diese Stelle zu setzen, der sich in jeder Hinsicht von Gen. Stalin nur durch einen Vorzug unterscheidet, nämlich dadurch, dass er toleranter, loyaler, höflicher und den Genossen gegenüber aufmerksamer, weniger launenhaft usw. ist. Es könnte so scheinen, als sei dieser Umstand eine winzige Kleinigkeit.

Ich glaube jedoch, unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung einer Spaltung und unter dem Gesichtspunkt der von mir oben geschilderten Beziehungen zwischen Stalin und Trotzki ist das keine Kleinigkeit, oder eine solche Kleinigkeit, die entscheidende Bedeutung erlangen kann.

In den folgenden Wochen nahm Lenins politische Feindseligkeit gegenüber Stalin und seine persönliche Verachtung für ihn zu. Der bolschewistische Führer wandte sich an Trotzki und bat ihn um Unterstützung in seinem Kampf, den er auf dem bevorstehenden Parteitag gegen Stalin führen wollte. Am 5. März 1923 schrieb er:

Streng geheim
Persönlich

Werter Genosse Trotzki. Ich möchte Sie sehr bitten, die Verteidigung der georgischen Sache im Zentralkomitee der Partei zu übernehmen. Die Angelegenheit steht jetzt unter ‚Verfolgung‘ von Stalin und Dserschinski, und ich kann mich auf deren Unparteilichkeit nicht verlassen. Sogar im Gegenteil.

Wenn Sie bereit wären, die Verteidigung zu übernehmen, könnte ich ruhig sein. Sollten Sie aus irgendeinem Grunde nicht einwilligen können, dann schicken Sie mir das gesamte Material zurück. Ich werde das als ein Zeichen Ihrer Ablehnung betrachten. Mit bestem kameradschaftlichem Gruß Lenin.“

Lenin schickte daraufhin den folgenden Brief an Stalin:

Sie besaßen die Grobheit, meine Frau ans Telefon zu rufen und sie zu beschimpfen. Obwohl sie sich Ihnen gegenüber bereit erklärt hat, das Gesagte zu vergessen, haben Sinowjew und Kamenew diese Tatsache durch sie selbst erfahren.

Ich habe nicht die Absicht, so leicht zu vergessen, was man mir angetan hat, und selbstverständlich betrachte ich das, was man meiner Frau angetan hat, als etwas, das auch mir angetan wurde.

Ich bitte Sie daher, zu erwägen, ob Sie bereit sind, das Gesagte zurückzunehmen und sich zu entschuldigen, oder ob Sie es vorziehen, die Beziehungen zwischen uns abzubrechen.

Vier Tage später, am 9. März 1923, erlitt Lenin einen Schlaganfall, der seine politische Laufbahn beendete. Er starb am 21. Januar 1924. Nach Lenins Tod verhinderten Stalin und seine Parteifreunde durch prinzipienlose Manöver die Verlesung des Testaments auf dem Dreizehnten Parteitag 1924. Das Testament blieb weitere 40 Jahre lang vor der sowjetischen Öffentlichkeit verborgen. Erst 1964, elf Jahre nach Stalins Tod, erlaubte die sowjetische Regierung die Aufnahme von Lenins Testament in eine neue Ausgabe seiner Gesammelten Werke.

Als Lenin das Testament schrieb, waren das Ausmaß und die Bedeutung der Spaltungen, die sich innerhalb der bolschewistischen Partei entwickelten, noch nicht bekannt. Lenins Testament und die begleitenden Notizen und Dokumente waren ein Vorgriff auf den sich entfaltenden Konflikt. In den folgenden Monaten führte Trotzki Lenins vorweggenommene Kritik an Bürokratismus und nationalem Chauvinismus fort und entwickelte sie mit Blick auf die realen politischen Ereignisse weiter.

Im Oktober 1923, zehn Monate, nachdem Lenin sein Testament geschrieben hatte, wurde die Linke Opposition gegründet. Die Entstehung der trotzkistischen Bewegung bedeutete die Fortsetzung von Lenins letztem großem Kampf.

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